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Zeitzeugen zum Kriegsende in Neustadt- Die Lebenserinnerungen von Helmut Wipprecht

von Werner Krapp, November 2011

Urkunden werden von Fachhistorikern zu Recht als wesentliche Quellen historischer Forschung betrachtet; es wird eine immerwährende Aufgabe bleiben, Urkundenmaterial kompetent aufzuarbeiten. Weitere „Säulen der historischen Wissenschaft“ sind jedoch neben Bilddokumenten Zeitzeugenberichte, also Urkunden i.w.S., die der Aufhellung der jüngeren Geschichte dienen. Vielleicht werden diese aber gemeinhin in ihrer Bedeutung unterschätzt. Die Atmosphäre der Lebenssituation derer, die unmittelbar vor uns waren, wird so authentischer und eindringlicher beschrieben, als durch jede traditionelle fachwissenschaftliche Abhandlung. Für die wissenschaftliche Auswertung von Urkunden ist es einigermaßen unerheblich, wann diese erfolgt - sofern das Quellenmaterial nicht durch Krieg (oder z. B. durch U-Bahn-Bau wie in Köln) vorher verloren geht. Bei Berichten von Zeitzeugen besteht hingegen ein ‚natürliches Zeitfenster' – das sich irgendwann einmal endgültig schließt! So war kürzlich zu lesen, dass der letzte französische Soldat, der am I. Weltkrieg teilgenommen hat, gestorben ist. Die Befragung von Augenzeugen dramatischer Ereignisse ist inhärent unaufschiebbar . . .
Gewiss kann der Wahrheitsgehalt von Zeitzeugen-Aussagen prinzipiell angezweifelt werden, doch stehen auch Urkunden nicht für ‚ultimate Wahrheit'. So sei an die ‚Konstantinische Schenkung' erinnert; auch waren Klöster im Mittelalter als Zentren der Schreibkunst oftmals regelrechte Fälscherwerkstätten für Urkunden. Andererseits existieren zu den Schilderungen von Zeitzeugen häufig parallele Aussagen, womit der Betrachter von vorneherein eine Kontrollmöglichkeit hat. In den letzten Kriegstagen war im Front-Bereich jede öffentliche Verwaltung zusammengebrochen, es wurde nichts mehr amtlicherseits oder durch das Zeitungswesen verlässlich festgehalten. Selbst Kriegstagebücher der Wehrmacht wurden nicht mehr geführt oder vernichtet. Um so wichtiger sind daher private Aufzeichnungen aus jenen chaotischen Tagen. So werden im Nachfolgenden die Tagebuch-ähnlichen Erinnerungen eines damals 16Jährigen durch private Briefe ergänzt, die zu jener Zeit in Neustadt geschrieben worden sind. - „Damit es nicht vergessen wird ...“ Es wird über Ereignisse berichtet, die damals vielerorts so alltäglich waren, dass kaum einer sie des Aufschreibens für wert gehalten hat - Vorkommnisse über die, geschähen sie in unseren Tagen, weltweit berichtet werden würde. Wohl nur wenige, die heute durch unser aufgeräumtes friedliches Neustadt wandern, denken daran, wo sich hier überall - vor gar nicht allzu langer   Zeit - höchst dramatische Szenen existenzieller Not abgespielt haben . . .

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1945- Das Kriegsende in Neustadt

„Lieben und Hassen, Streit und Friede hat seine Zeit“ Prediger 3:8

Der nachfolgende Text ist eine sehr persönliche, geschlossene Schilderung der Geschehnisse in Neustadt am Kriegsende. Er beschreibt eindringlich die ‚Alltags'-Situation eines jungen Neustadters und seiner Familie, als Neustadt zur Front-Stadt geworden war. Der Text wurde den Lebenserinnerungen von Helmut Wipprecht entnommen und beruht auf den Tagebuch-aufzeichnungen des damals 16Jährigen. Dieser hat Neustadt danach mit  19  Jahren verlassen, um in Amerika Theologie zu studieren, mit der ursprünglichen Absicht anschließend zurückzukehren. Doch hat es sich dann anders ergeben. Nach seiner Heirat (1950 in Neustadt) mit einer Amerikanerin, wollte er nach USA auswandern, wurde aber durch das vom US Senat verabschiedete "COMMUNIST CONTROL"-Gesetz, daran gehindert. Dieses Gesetz machte es eine Zeit lang ehemaligen Angehörigen kommunistischer und faschistischer Organisationen unmöglich nach USA einzureisen. Wipprecht war beim „Jungvolk“ gewesen! Zwar hatte er die Hitler Jugend boykottiert wegen ihrer antichristlichen Haltung - (Appelle am Sonntag Morgen usw.).  Dieser Boykott war ungesetzlich und gefährlich!  Man galt als Staatsfeind und konnte der Gestapo ausgeliefert werden. Doch blieb sein ablehnendes Verhalten ohne Konsequenzen. Anstatt 1951 "ewig" auf die Gesetzesänderung zu warten, wanderte er und seine Frau nach Kanada aus, wo er sein Leben als Reverend der Unierten Kirche von Kanada - (United Church  of Canada - Methodisten, Presbyterianer, Kongregationalisten) - verbracht hat. In die Jahre gekommen, hat er dann für seine Kinder und Enkel seine Erinnerungen niedergeschrieben, denen der hier wiedergegebene Text entnommen ist.

Aus dem Englischen übertragen von Werner Krapp & Ulla Baum, im Juli 2009

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Der 1. Januar 1945 war kein Tag wie jeder andere! Ein Munitionszug war, ungefähr 120 m von unserem Haus [Stiftstraße 6] entfernt getroffen worden und fing an zu explodieren. Nicht mit einem großen Knall, sondern langsam, eine Granate oder was auch immer, eine nach der anderen, wie ein langes, langes Feuerwerk, pfeifend, krachend und knallend, sogar in unterschiedlichen Farben. Bomben fielen auf die Stadt. Einige Leute begaben sich am frühen Morgen in die öffentlichen Schutzräume, und blieben dort den ganzen Tag. Ich blieb zu Hause. Ich las viel, vor allem die Bibel, immer bereit in den Keller zu stürzen. Wir hatten weder Wasser noch Elektrizität.
Am 5. Januar, als wir gerade zu Mittag aßen, näherte sich eine Formation 'Fliegender Festungen' aus Richtung Weinbiet. Ich rannte in den Garten und sah, wie sie heran kamen. Sie flogen direkt auf mich zu. Ich befürchtete, dass sie direkt über mir ihre Bombenlast abwerfen würden, und so war es auch. Ich sah ein Rauchsignal, welches von einem der Flugzeuge stammte, was ein drohendes Bombardement bedeutete. Meine Leute waren im Keller und auch ich rannte dorthin. Kaum war ich dort angekommen, hörten wir das Röhren und Zischen fallender Bomben, und sie trafen . . Schutt flog durch die Kellerfenster. Alles bebte. Wieder der Lärm fallender Bomben. Weitere Explosionen. Ich presste mich an eine Mauer, meinen Kopf zwischen den Schultern. Das war ein regelrechter 'Bombenteppich', der erste, dem ich ausgesetzt war. In unserem Garten, wo später Frau Fischer ihren Blumenpavillon hatte, war ein Krater, genau in der südöstlichen Ecke unseres Weinberges, 30 m von unserem Haus entfernt. Das Gartenhaus war beschädigt. Eine Tankstelle, 140 m von uns entfernt, war ein Flammeninferno. Eine Fabrik, ungefähr 60 m entfernt (Fa. Dützmann) wurde direkt getroffen, genau wie das große Lagerhaus an der Nordseite neben den Schienen, das ausbrannte. Irgendwo explodierte Munition. Verletzte Menschen humpelten mit blutigen Gesichtern in Richtung Krankenhaus. Wieder große Aufregung im Haus. Putz, Glas, Schmutz, Bilder, Wein, Trinkgläser, Bücher, alles war verstreut. Häuser in der Landauer Straße, nicht weit von uns weg, waren zerstört; das Haus von Frau Laux [Landauer Straße 55], wo wir immer eingekauft haben, war eines davon. Die Hambacher Höhe, wo Roland Diehl wohnte, war schwer getroffen. [So die Villa Ecke Waldstraße/Viehberg, Waldstraße 11 und 75, Hambacher Straße 45 und das Haus gegenüber wurden schwer beschädigt.] Roland erzählte mir Jahrzehnte später, dass die Amerikaner an diesem Tag beabsichtigten die Eisenbahnanlagen massiv zu zerstören, doch hatten sie sich auf Grund der örtlichen Gegebenheiten in der Zielgenauigkeit ihrer Abwürfe verkalkuliert, warfen ihre Bomben zu spät ab und trafen den Südwesten der Stadt statt der Gleisanlagen. Wenn sie Neustadt hätten zerstören wollen, wie sie viele unserer Städte zerstört haben, hätten sie Ihren „Job“ besser gemacht, und hätten viel mehr Flugzeuge einsetzen müssen, als tatsächlich zum Einsatz kamen. Ich begab mich in die Stadt, um zu sehen, was dort passiert war. Tote lagen umher, denen nicht mehr zu helfen war. Der Bahnhof war beschädigt. Die Feuerwehr rückte aus, um die ausgebrochenen Brände zu bekämpfen. Bei einem weiteren Angriff versuchten die US-Flugzeuge erneut die Gleisanlagen zu treffen, begannen aber mit dem Abwurf der Bomben schon vor dem eigentlichen Ziel. Die letzte Bombe landete auf der Wiese gegenüber unserem Haus, ungefähr 70 m vor dem Krankenhaus. Zu dieser Zeit war ich allein im Keller. Meine Eltern saßen im öffentlichen Luftschutzraum. Meine Tante  Maria arbeitete im Krankenhaus im Erdgeschoß. Ich erinnere mich, wie die Flugzeuge sich von Norden her näherten. Es lag eine niedrige Wolkendecke über der Stadt. Ich konnte sie nicht sehen, spürte aber, dass sie auf mich zukamen. Der Motorenlärm wurde lauter und lauter. Ich wusste, dass sie im Begriff waren anzugreifen. Ich rannte schnell in den Keller und hörte dieses besondere Geräusch, wie ein Sturmrauschen. Mir war klar, dass die Bomben gerade eben fielen. Würde ich in wenigen Sekunden noch leben? Ich presste mich gegen die Wand neben der Tür zum Weinkeller. Das war schon ein sehr eigenartiges Gefühl. Dann explodierten die Bomben mit ohrenbetäubendem Lärm. Nach wenigen Sekunden war alles vorbei. Ich war unverletzt, ging nach oben und schaute mir die Schäden an. In der Wiese waren große Krater,  Bombensplitter  und  verstreute  Äste.  Im  Haus  war  noch  mehr  Putz  abgefallen  und Fensterscheiben zerbrochen. Ziegel waren vom Dach gefegt. Bombensplitter hatten in den Außenmauern Löcher hinterlassen. Einmal betrat ich Sabersky's Bunker, wo sie die meiste Zeit verbrachten. Sie hatten diesen Schutzraum nur für sich gebaut! (reiche Leute.) Der Bunker war komfortabel und gut ausgestattet mit Teppichen, bequemen Stühlen und Mobiliar. Ein Büro befand sich ebenfalls dort. Am 6. Januar wurde von uns Jungens erwartet, dass wir an den Westwall zurückkehren würden, um weiterhin Gräben zwischen den Bunkeranlagen auszuheben. Ich blieb zu Hause. Die dazu Beauftragten waren der Auffassung, dass, wenn das eigene Haus bei Bombenangriffen beschädigt wurde, man ein paar Tage Urlaub bekam um bei Aufräumungs- und Reparaturmaßnahmen helfen zu können. Dadurch konnte ich etwas länger zu Hause bleiben. Jedes Mal, wenn ich wieder eingesetzt werden sollte, fielen ganz in der Nähe Bomben und brachten wiederum Durcheinander in unser Haus. Das bedeutete aber, dass ich nochmals eine erneute Verlängerung bekam und ebenso meine Lebensmittelkarten wieder erhielt; das war wichtig. Unser Haus war besonders gefährdet; es stand (und steht) nicht weit von einer Hauptverkehrsstraße, den Bahnanlagen, einem Lagerhaus, einem großen Gaskessel und dem Kreiskrankenhaus. Man kann annehmen, dass die Amerikaner, wenigstens was das Krankenhaus anging, die Genfer Konvention respektierten und das Krankenhaus, auf dem ein großes rotes Kreuz zu sehen war, nicht treffen wollten. Unser Haus stand zwischen dem Krankenhaus und der  Bahnanlage. In den Monaten, die zur endgültigen Niederlage Deutschlands führten, intensivierte sich der Luftkrieg, so dass sich niemand mehr auf öffentliche Verkehrswegen begeben konnte. Deutsche Militärmaschinen waren keine zu sehen. Die Alliierten hatten das ganze Land als Schussfeld und schossen auf jeden und alles, was sich bewegte. Viele Jahre später erzählte mir mein Freund Roland Diehl, wie er damals vom Gräbenziehen nach Hause zurückkehren durfte, weil sein Haus beschädigt war. Er fuhr auf dem Fahrrad eine Landstraße entlang, als eine 'Lightning' ["eine sog. Bettlade"] ihn unter Beschuss nahm. Er sprang von seinem Fahrrad in einen Weinberg neben der Straße und die Kugeln verfehlten ihn nur knapp. Wir nannten diese Piloten 'Cowboys der Lüfte'. Es war gegen die Genfer Konvention auf Zivilisten zu schießen. Somit stellt sich im Nachhinein schon die Frage, waren die Nazis die einzigen Kriegsverbrecher? [Anm. 1]

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Noch unter dem Einfluss der Goebbels-Propaganda glaubte ich, dass wir zwar unter Hitler durchaus keine Engel und verantwortlich für allerhand Missetaten waren, doch besonders die Russen waren noch schlimmer. Wie die meisten Deutschen, sah ich in Hitler einen Retter Deutschlands (so dachten und sprachen viele), der von vielen schlechten Dingen, die sich abgespielt hatten, nichts wusste. Er war das Staatsoberhaupt und bekämpfte die üblen Kommunisten. Deshalb musste er respektiert werden. Dies mag ein halbes Jahrhundert später schwer verständlich sein, doch war dies der Rahmen, in dem sich unser Denken bewegte, obwohl ich von der Nazi-Philosophie andererseits durchaus nicht begeistert war und, wie schon vorher erwähnt, dies bezeugt habe. Dessen ungeachtet, hatte ich immer noch ein „Führer“-Bild auf meiner Kommode (einem bunten Bücherbord) in meinem Zimmer. Glücklicherweise hatte ich auch über meinem Bett einen Bibelvers aus Hebräer 13:8 „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit“ [Anm. 2] Neustadt, an einem Haupt-Eisenbahnknotenpunkt gelegen, wurde nun tägliches Ziel von Kampf-flugzeugen, welche versuchten, die Gleisanlagen und wichtige Einrichtungen anzugreifen. Mein Vater wurde in diesen Tagen pensioniert. Anfang August wurde er fünfundsechzig, war aber zunächst im Dienst geblieben um auszuhelfen; aber er konnte seine Arbeit nicht mehr aufnehmen; nachdem er ausgeschieden war; sein Stellwerk (das sog. „Reiterstellwerk“) war auch getroffen und teilweise zerstört worden. Ich war mittlerweile zu militärischen Übungen einberufen, etwa zweimal die Woche gegen Abend, nach getaner Arbeit. Wir lernten mit der „Panzerfaust“ (einer einschüssigen Waffe zur Panzerbekämpfung) und mit richtigen Militärgewehren umzugehen, obwohl ich nie damit wirklich geschossen habe. Man war offenbar knapp dran mit Munition. Die Alliierten kamen näher und näher. Ich war irgendwie der inneren Überzeugung, dass ich all das unverletzt, und ohne getötet zu werden, überstehen würde. Psalm 91:7 war mein Leitgedanke! "Ob tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen“. So wurde ich etwas unvorsichtig. Meine Eltern begleitete ich meist nicht in die öffentlichen Schutzräume. Frühling 1945 verbrachten sie die meiste Zeit dort. Einmal brach meine Mutter so überstürzt zum Schutzraum auf, dass ihr nicht auffiel, dass sie gar keine Schuhe an hatte; und so rannte sie in ihren Hausschuhen los. (Ich weiß nicht, ob sie ihre Eile beibehielt oder ob sie anhielt, um ihre Hausschuhe, die ihr von den Füßen geflogen waren, wieder zu holen. Der Schutzraum war spärlich beleuchtet und meist überfüllt. Die sanitären Verhältnisse waren extrem schlecht. Ich blieb zu Hause. Während der kalten Monate Januar und Februar saß ich im Mantel in der Küche und las in der Bibel. Immer wenn ich Flugzeuge im Anflug hörte (man konnte sie immer hören in jenen Tagen) ging ich nach draußen um nach ihnen zu sehen. Ständig erschienen sie über mir; ich ging in den Keller, oder blieb und beobachtete das Feuerwerk. Manchmal blieben meine Eltern und die Familie Klein vom Hinterhaus auch zu Hause. Einmal, als wir alle im Keller waren, hörten wir das schreckliche Heulen eines Jabos, der ganz in unserer Nähe im Begriff war, eine Bombe auszulösen. Würde die unser Haus treffen? Das waren immer Sekunden der höchsten Lebensgefahr. Man wusste nie ob man in wenigen Augenblicken noch am Leben sein würde. Familie Roth, unsere Bekannten in der Bahnkurve, fand so den Tod. Die Bombe fiel exakt zwischen dem Haus von Saberskys und dem unseren. [Anm. 3] Einmal fing Saberskys Haus Feuer. Ich rannte zu ihrem Bunker und berichtete. Es gelang ihnen irgendwie das Feuer zu löschen. Ein anderes Mal stand ich bei der Hintertür und sah eine Maschine im Anflug – gerade vor mir.  Ich sah wie ein Bombenpaar – meist führten sie 10-Zentner-Bomben mit – ausgeklinkt wurde und es schien gerade vor mir niederzugehen. Ich unternahm einen Mords-Sprung in Richtung Keller, stieß mir dabei mein Schienbein an und hörte dann den großen Knall. Ich ging wieder nach oben und sah nach. Die Bomben hatten zwei Kirschbäume umgeworfen, die südwestlich vom Haus gestanden hatten, etwa 60 m weit am Rande eines Wingerts. Dieser Wingert ist jetzt gerodet. Dann sah ich unsere schwarze Katze. Sie muss von der Explosion betroffen worden sein. Sie war total bedeckt mit gelben Lehmspritzern, doch konnte sie wegrennen und huschte nach mir ins Haus. Arme „Schmunz“! [Anm. 4] Aber sie war unverletzt geblieben.

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Manchmal begaben sich meine Eltern mit mir zu „Fallers“ (zu deren Schutzraum); [Landauer Straße 22] ich blieb aber öfters vor der Tür. Eines Tages überquerte ich die Landauer Straße und setzte mich auf einen Eisenträger, der aus einer Mauerkrone ragte, welche die Nordseite der Straße begrenzte; das große Lagerhaus war oberhalb und hinter mir. Der Eingang zum Bunker war an der Südseite der Straße. Von meiner Position an der Nordseite war der Schutzraum etwa 16 m entfernt. Dann sah ich ein Kampfflugzeug auf mich zukommen. Man konnte immer eine kleine Rauchwolke sehen, wenn sie dabei waren sich runter zu stürzen um anzugreifen. Ich sah dies und sauste über die Straße zum Schutzraum. Der Pilot hatte gerade das Feuer mit seinen Bordwaffen eröffnet und schoss auf das Lagerhaus genau hinter mir, wo ich gerade gesessen hatte. Es gelang mir rechtzeitig im Schutzraum zu verschwinden. Diese Entwicklung der Lage hielt wochenlang an und nahm an Intensität zu. (Ich kann mir denken, dass immer die gleichen Formulierungen den Leser ermüden werden, aber ich kann es nicht anders beschreiben.) Tagsüber erschienen die einmotorigen Maschinen mit ihren Bordwaffen und Bomben, nachts die RAF-Bomber. Man hatte kaum Zeit sich vorzubereiten, etwas zu essen, oder auf die Toilette zu gehen. Eine einzelne alliierte Maschine wurde durch die Flak abgeschossen, und an einem Tag im Januar beobachtete ich einen ersten wirklichen Luftkampf. Einige deutsche Flugzeuge erschienen – welche Überraschung! Vier Maschinen wurden abgeschossen; ich kann nicht sagen waren es unsere oder die der anderen; es geschah zu weit weg. Ein Fallschirm ging in der Nähe nieder, in etwa einem Kilometer Entfernung, nahe der Schienen. Es gab natürlich keinen Schulunterricht mehr, auch Gottesdienst wurde nicht immer gehalten. Manchmal fand sich nur eine Handvoll Menschen in der Kirche zusammen. Am 1. Februar begann der Schulunterricht, oder was man damals so Schule nannte, wieder. Das was von den beiden Zweigen der „weiterführenden Schulen“, Realschule und Gymnasium übrig war, ich glaube das Lyzeum, bekam zwei Räume in der Realschule, welche abseits der angegriffenen Gleisanlagen, praktisch im Wald, etwas sicherer gelegen war. Wir hatten Unterricht morgens von 6:30 bis 8, hatten Latein und Mathematik. Ich beendete mein Lesen der Bibel am 9. Februar; begonnen hatte ich am 26. Dezember. Eintragungen in meinem Tagebuch aus jenen Tagen: „Ich bete viel.“ Mein Vertrauen auf Gott half mir in dieser schweren Zeit. Die Lage wurde immer kritischer. Es war nun Februar. Unsere Nahrungsmittelrationen wurden auf ein Viertel reduziert. Wir konnten uns tagelang nicht waschen. Es gab nur wenig Wasser, welches in Eimern vom Krankenhaus geholt werden musste. Manchmal dachte man daran sich zu waschen, und dann heulten wieder die Sirenen! Kleidung konnte überhaupt nicht mehr gewaschen werden. Es war Anfang Februar als die Saberskys auszogen. Sie sagten, es sei zu gefährlich hier (womit sie Recht hatten). Ich weiß nicht wohin sie gegangen sind. Ich nahm einmal pro Woche an einem Kurs im Umgang mit Waffen teil, und wurde der „Eliteeinheit Jagdgeschwader“ zugeteilt, welche vermutlich bei einem Aufstand der Fremdarbeiter eingesetzt werden sollte. Am 15. Februar wurden wir mit Luftminen angegriffen. Es war an einem nebeligen Morgen. Ich war allein im Haus. Gegen Mittag hörte ich Maschinen im Anflug. Zuerst ignorierte ich den Lärm; dann wurde mir unheimlich. Sie schienen niedriger zu fliegen wie gewöhnlich und sie begannen zu kreisen. Ich ging zur Vordertür, doch sah ich nichts wegen des Nebels. Dann hörte ich einen Flugzeugmotor aufheulen; eine Maschine kam auf mich zu. Ich warf mich in Richtung Keller und schon war da eine schreckliche Explosion. Alles schwankte; Fensterscheiben zersprangen. Ich presste mich in eine Ecke. Eine andere Maschine kam heulend heran. Eine weitere Explosion und noch eine und dann noch mal vier. Schließlich wurde es ruhig. Ich kam nach oben und sah mich um. Keine großen Bombentrichter! Seltsam, dachte ich; die Explosionen waren lautstärker als alle, die seit dem 31. Dezember vom Haus aus zu hören waren. Nun, ich hatte genug! Ich rannte zu Fallers öffentlichem Schutzraum, hoffend, dass kein neuerlicher Angriff erfolgen würde. Ich brauchte etwa drei Minuten um dort anzukommen. Als ich an einem Lagerschuppen diesseits der Fallers vorbei kam, sah ich einige recht kleine Trichter, verursacht durch die Luftminen, [Anm. 5] die alles dem Erdboden gleich machen, sobald sie, nach dem Aufschlag, explodieren. Eine Holzkonstruktion dort, war einfach verschwunden. Das große Lagergebäude Fallers gegenüber hatte ein Loch im Dach. Meine Eltern waren erleichtert, als sie mich sahen. Sie hatten sich Sorgen gemacht... An diesem Tag sah ich später einen toten deutschen Soldaten, voller Blut, als er von den Schienen getragen wurde. Das war zu der Zeit, als eine Luftmine in Saberskys Garten, zirka 10 Meter vom Haus, die Hauptwasserleitung zerstörte und unser Haus durch Abreißen der Fensterläden an der Nordseite arg zurichtete. Manchmal, als ich eine Zeit lang bei Fallers ausharren musste und die Bibel las, fragte mich jemand, was ich denn da las und es ergab sich ein religiöses Gespräch. Es waren viele Nicht-Gläubige, Atheisten und antichristlich eingestellte Leute zugegen. Ich sprach mit ihnen über Jesus und die Bibel. Am nächsten Tag zerstörten die Flugzeuge ein Lagerhaus, 200 m von unserem Haus entfernt, in dem riesige Mengen an Kisten mit Chemikalien gestapelt waren. Ich begab mich dorthin, als ich etwas Rauch bemerkt hatte. Einige Männer, die vermutlich zum Luftschutz gehörten, waren dabei zu diskutieren, was zu tun sei. Es gab kein Wasser. Als sie sich anschickten ein oder zwei qualmende Kisten zu öffnen, ging der ganze Stapel in Flammen auf und brannte stundenlang in allen Regenbogenfarben. Während wir dort waren, wurden wir erneut angegriffen. Ich ging zu Boden. Die Flak schoss Leuchtspurmunition und die Flieger verschwanden wieder. Im Februar heulten die Sirenen jeden Tag bereits in der Morgendämmerung und die Luftaktivität hielt an bis in den Abend. Manchmal ging ich mit meinen Leuten die vier Kilometer bis Gimmeldingen, das Haus in aller Frühe verlassend, um den Tag bei Onkel und Tante zu verbringen. Teil von Gimmeldingen ist eine Anhöhe, von der aus man auf Neustadt sehen kann und in der Ferne Speyer am Rhein, 20 km in Richtung Osten. Wir konnten die Explosionen in Neustadt deutlich hören, sahen Bomben fallen, Dunst und Rauch aufsteigen; an einem solchen Tag in Gimmeldingen mussten wir uns nicht verstecken. Einer dieser Tage war der 2. März. Ich ging morgens um 6:30 zur Schule,  doch um 7:45 gab es Alarm. So ging ich nach Gimmeldingen, wo meine Eltern schon waren. Um 11 Uhr kam ich dort an. Die Flieger attackierten Neustadt um die Mittagszeit. Würde unser Haus noch da sein, wenn wir in der Nacht zurückkehrten?

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Bei unserer Rückkehr sahen wir Russen und andere Hilfskräfte Bombentrichter in der Landauer Straße auffüllen. Zwei weitere Bomben waren auf die Parkanlagen vor dem Krankenhaus gefallen, etwa 50 m weg von unserem Haus. Sein Dach war, wieder einmal, weggeflogen. Das Hausinnere sah schlimmer aus denn je. Türen waren aus den Angeln gerissen, Türrahmen waren zersplittert, Fenster zerbrochen. Ein wirkliches Desaster. Am folgenden Tag, neue Angriffe. Ein Haus, 60 m nordwestlich von unserem wurde total zerstört. Und so lebten wir in ständiger Furcht. Das Leben war unstet und wir wussten nicht, ob wir anderntags noch leben würden oder nicht, oder ob unser Haus noch stehen, unreparierbar zerstört, oder verschwunden sein würde. Tatsächlich wurde unser Haus mehr und mehr demoliert, geradezu jeden Tag ein wenig mehr. Zum Glück hatten wir einen Familienfreund, Peter Günther, der bei Firma Paulus als Zimmer-mann arbeitete. Er besorgte neue Ziegeln, stieg auf das Dach und reparierte es. Günther war fast taub von einem im 1. WK erhaltenen Kopfschuss und er hörte oft weder die sich nähernden Jabos noch auch unsere Rufe. Glücklicherweise passierte ihm nichts. Im März war das Wetter schön und warm. Die Bäume hatten gerade die ersten Blüten hervorgebracht. Am 13. März folgte ich einer Anweisung, die ich erhalten hatte, und wurde auf der Musterungsstelle der Wehrmacht vorläufig erfasst. Hitler hielt eine Ansprache über das Radio, rief uns auf auszuhalten und mit Hilfe des „Allmächtigen“ würden wir unsere Feinde schlagen. Wir erfuhren nun von den Russen, die in eroberten deutschen Ortschaften schlimmer als Bestien hausten, plündernd und mordend. Trotz der allgemeinen antikirchlichen Haltung der NSDAP - propagiert von Leuten wie Alfred Rosenberg und Mathilde Ludendorff et al., ist es bemerkenswert, dass Hitler nie aus der Kirche austrat, sondern bis zu seinem Ende ein kirchensteuerzahlender Katholik war! Er wurde auch Taufpate für Görings kleine Edda. In seinen Reden bezog er sich immer auf "die Vorsehung", und den "Allmächtigen" was auf viele Christen einen guten Eindruck machte. Aber wie es im 2. Kapitel der Jakobus Epistel heißt: Der Teufel glaubt auch an Gott - und zittert! (Millionen Deutscher flüchteten in Richtung der mutmaßlich humaneren Westalliierten; jeder der blieb und nicht durch die Russen umgebracht wurde, wurde später durch die Polen vertrieben, die deren Land erhielten. Viele – es war immer noch Winter als sie flüchteten – erfroren oder verhungerten. Volksdeutsche, deren Familien seit Jahrhunderten in benachbarten Ländern siedelten, wurden ermordet oder vertrieben durch Tschechen, Jugoslawen und andere. Die Deutschen begannen zu ernten, was sie gesät hatten, in Bezug auf die Juden, den Augapfel  Gottes – Zacharias 2:8!) Gott versprach die zu segnen, die Abrahams Nachkommen durch Isaak segnen würden, und die zu verfluchen, die sie verfluchen würden.) [Anm. 6]

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"Juda, verrecke!" war ja ein Slogan in Deutschland; und da waren die Kristallnacht und die Vernichtungslager - von denen wir allerdings nicht wussten! Goebbels hielt Reden an die Wehrmacht, die Bestien zurück zu schlagen und sich ihrer ermordeten Kinder und ihrer geschändeten Frauen zu erinnern. Lasst uns in die Schlacht ziehen wie in einen Gottesdienst, sagte er. Mittlerweile wurde die Lage an der Heimatfront täglich schlechter. Am 17. März ging ich in den Wald. Ich hatte eine Vorahnung an diesem Tag; etwas Schlimmes sollte geschehen. Ich schaute vom Waldhang auf die Stadt, als ich das Geräusch sich nähernder Bomber hörte. Zu meinem Schrecken sah ich Explosionen, Staubwolken aufsteigen; dann das Geräusch explodierender Bomben. Feuer waren ausgebrochen. Bald erschien eine weitere Bomberstaffel und warf ihre Bomben ab. Es schien mir in dem Bereich zu sein wo die IBAG-Fabrik lag, im östlichen Stadtbereich. In der Gegend der Stiftstraße konnte ich nichts Auffälliges sehen. Wie sehr ich mich geirrt hatte! Als ich nach Hause kam sah ich neue Bombentrichter in der Parkanlage vor dem Krankenhaus. Die Landauer Straße schien umgepflügt. Das Innere unseres Hauses war wieder durcheinander gebracht. Wie viel konnte das alte Haus noch aushalten? Es war damals 50 Jahre alt, aber aus ziemlich massiven Sandsteinblöcken erbaut. Zu dieser Zeit waren über zwei Dutzend Bomben rund um das Haus gefallen im Abstand von 8 bis etwa 100 m.  Ich ging zu Fallers; dort erzählten mir meine Eltern, dass diejenigen die 1929 geboren waren rekrutiert würden, und über den Rhein gingen. Aha! An diesem Morgen, sagten sie, hätte ein Mann nach mir gesucht um mir meinen Musterungs-Bescheid für den Arbeitsdienst, einer vormilitärischen Einrichtung, zuzustellen. Da er mich zu Hause nicht antraf, ging er zu Fallers und traf dort meine Eltern. Ich solle mich an diesem Tag um 7 Uhr abends im (Bereichs-Stützpunkt) Haus der "Bannführung" (HJ-Führungsstelle) der Hitler-Jugend in Winzingen einfinden, Nahrungsmittel für drei Tage und saubere Kleidung mitbringen.  Nichts davon hatte ich. Dennoch schickte ich mich an hinzugehen. Ich hatte, wie jeder, die Vorstellung, dass wir den Krieg gewinnen müssten, da die Feinde, besonders die Russen, besiegt werden mussten. Nicht alles, wofür die Nazis standen, war gut; nicht all ihr Geglitzer war Gold, aber die Russen waren eindeutig schlimmer. Deshalb würde Gott auf unserer Seite sein. Schließlich stand auf dem Koppelschloss unserer Soldaten: „Gott mit uns“! Als ich mich an diesem Abend auf den Weg nach Winzingen machte, wo ich erfasst werden sollte, fand ich das zweite Viadukt vollkommen zerstört vor. Überall waren Bombentrichter und Trümmer. Es war schwierig überhaupt durchzukommen. Viele Häuser brannten, dazwischen lagen Tote. Es war eine apokalyptische Ruinenlandschaft. Ich habe keine Erinnerung mehr an das, was dann geschah und mein Tagebuch schweigt im Weiteren. War der Ort, an dem ich mich einfinden sollte so zerstört, dass niemand mich in Empfang nehmen konnte? Oder kehrte ich um bevor ich die Stelle erreicht hatte? Ich weiß es nicht mehr. Da ist nichts, nur eine Erinnerungslücke. [Anm. 7] Am folgenden Tag, Sonntag, den 18. März, ging ich zur Kirche, aber ich war dort der Einzige; so ging ich statt dessen in die katholische Kirche; dort waren einige Kirchgänger. Auf dem Heimweg gab es wieder Alarm und es dauerte nicht lange bis die Jabos kamen und oben herumkreisten - wie Schwalben. Ich war in der Nähe des Luftschutzbunkers an den Bahngleisen bei dem nördlichen Viadukt, das zerstört war, an der Winzinger Straße. Dieser Bunker bekam noch einen Treffer, ohne dass es Tote gab  Ich, wollte dort hinein. Jedoch war der Eingang schon von innen verriegelt und sicher gemacht. Ich wartete in dem Graben vor der Tür bis die Flieger sich wieder entfernten. Am Nachmittag kamen wieder einige Bomber und wieder war ich einem Bombenteppich ausgesetzt. Ich wurde hin und her geworfen, gerade sogar im Keller. Es gab schreckliche Explosionen. Das war der vierte Bombenteppich über Neustadt. Glücklicherweise war in der Nähe kein Schaden entstanden. Am Abend griffen Kampfflugzeuge an und warfen Bomben und wieder gab es keinen Strom. Diesen Abend ging ich vermutlich in den letzten Gottesdienst, bevor der Feind uns erreichen würde. Er wurde von einem Militärgeistlichen abgehalten. Er sagte, wir sollten in unseren Kellern bleiben, genügend Brot mitnehmen, da in den nächsten Tagen Neustadt eingenommen werden würde. Meine Angebetete war auch hier und ich nahm in Gedanken Abschied von ihr. Auf dem Nachhauseweg sah ich deutsche Einheiten, Artillerie und Kavallerie auf dem Rückzug.   
Am 19. März wurde ich unsanft geweckt. Die Flugzeuge kamen diesmal früh. Der Alarm war beendet. Vater schrie: „Da kommen Stukas!“ Sie griffen an, warfen 4 Bomben auf die Gleisanlagen im Osten, etwa 1 km weg von uns. Ich ging mit den anderen zu Fallers und dann in den Wald, wo ich Gogo traf. ("Gogo" war mein bester Freund. Sein Name war Günther Heyd, der Sohn des Wirtes "Am Rosengarten".) Wir beobachteten die Luftangriffe auf die Stadt. Viele Menschen gingen damals in den Wald – einen sicheren Ort. Als ich nach Hause kam, waren meine Leute immer noch bei Fallers. Allmählich fiel uns auf, dass alle lokalen Nazigrößen, alle bisherigen Autoritäten, verschwunden waren, sich offenbar über den Rhein abgesetzt hatten. Niemand war mehr im Amt. Die Zwangsarbeiter aus der Ukraine usw. erkannten, dass sie nunmehr ohne Bewachung waren. Sie begannen ihre Lager zu verlassen. Doch konnten wir nicht feststellen, dass sie irgendwelche Probleme gemacht hätten. M.W. wurden sie auch human behandelt, bekamen Ausgang am Sonntag, hatten einen Aufkleber "OST" auf den Blusen oder Kitteln und sahen ganz gut aus. Die Flugzeuge kamen nun bevor der Alarm gegeben wurde. Es war eine ständige Alarmbereitschaft. Während dieser wenigen Tage bestand eine Art von „Interregnum“; das alte Regime war zusammengebrochen und das neue war noch nicht angekommen. Dies würde sich bald ändern. Diese Nacht hörten wir Artilleriefeuer. Am nächsten Tag, es war der 20. März, gab es die üblichen Aktivitäten am Himmel. Es strömten nun lange Kolonnen deutscher Soldaten auf der Landauer Straße in Richtung Ost. Einige humpelten, andere waren bandagiert an diversen Körperteilen, etwa am Kopf. Es gab Kriegsgefangene (POWs), Pioniere, Militärpolizei. Manche hatten Fahrräder. Einige schienen Zivilisten zu sein, einer im Gewand eines Geistlichen; sie schlurften dahin; manche zerlumpt, andere niedergeschlagen; dies waren wahrscheinlich Gefangene. Irgendwie schienen die Kampfflugzeuge sie zu ignorieren und flogen einfach über sie hinweg. Eine andere Geschichte spielte sich einen Tag später auf der Straße nach Bad Dürkheim (10 km nördlich) ab, über die in einem Buch über den WK II als ein Beispiel für eine unglaubliche Zerstörung von Resten der sich zurückziehenden deutschen Armee durch Luftstreitkräfte berichtet wird. [Anm. 8]

Am Abend des 20. März erzählte uns Frau Mathes (Egons Mutter, die in unserem Hinterhaus wohnte mit ihrer Tochter Ruth - Egon, mein Freund, war beim Militär), dass Milch zu bekommen sei in der nahgelegenen Molkerei, in der ihr Mann arbeitete. Offenbar wussten die Leute nicht, was sie mit all der Milch anfangen sollten. Mit dem bevorstehenden Einrücken der Amerikaner war das Verteilungssystem zusammengebrochen. Geh hin und hol dir welche, wir geben alles weg! Ich ging zur Molkerei. Es waren tatsächlich einige Leute dort und nahmen in mitgebrachten Kannen Milch mit. Ich brachte es fertig 35 L zu bekommen. Zu Hause hatten wir dann alle genug davon; Milch war bis dahin rationiert gewesen. Mutter machte Pudding, nahm aber Milch zur Seite für später, und ließ welche sauer werden für Hüttenkäse. Gemäß einer neuen Anweisung sollte ich mich am 21. März in Bensheim zum Dienst-Einsatz melden, mit der Bahn etwa 45 km östlich des Rheins. Jedoch erzählte uns Frau Mathes, dass am Abend des 20. März die Amerikaner gerade Lambrecht erreicht hatten. Der Zugverkehr war zum Stillstand gekommen. Bei dem sich daraus ergebenden Chaos war es unmöglich nach Bensheim oder auch sonst wohin zu gelangen. Wir hörten, dass die Amerikaner manchmal 50 km am Tag voran kamen. Bei diesem Tempo würden die Amerikaner Bensheim noch vor mir erreicht haben. Gogo und ich hatten beschlossen, dass, wenn die Amerikaner vor Neustadts Toren erschienen, wir uns im Wald verstecken würden. Wir glaubten, was Goebbels uns gesagt hatte und überall waren Wände beschriftet mit Sprüchen wie: „Sieg oder Sibirien“.  Wir  nahmen an, dass, wenn wir, nach einiger Zeit zurück kommen würden, sich die Lage wird etwas beruhigt habe. Wir wollten nicht nach Sibirien verfrachtet werden! So richtete ich meine Sachen, eine Wolldecke, eine Feldflasche und etwas zu essen. Es war nun 11:45 abends am 20. März. Ich legte mich bis auf die Socken und Jacke angezogen ins Bett. Um 5:45 in der Frühe wurden wir geweckt durch Geräusche, die wir zuerst für Sprengungen hielten, doch handelte es sich um Artilleriefeuer. Der Lärm kam von Westen, aus dem Schöntal, (einem „Beautiful Valley“), in der westlichen Vorstadt. Sie waren angekommen! Ich sprang aus dem Bett. Als ich die Milch am Tag zuvor ergattert hatte, fiel mir Annemarie [Tochter des Pfarrers Siebert] ein und ich beschloss, dass sie davon bekommen sollte. Sie wohnte in der Innenstadt. Es war nicht ungefährlich mich dort hinzubegeben, in Anbetracht der nur 2 km von hier kämpfenden Amerikaner, doch ein verliebter Mann macht unkluge Sachen. Ich griff mir eine 4 L-Kanne und machte mich auf den Weg. Dort angekommen klingelte ich, und sie öffnete. Ich fragte sie, ob sie Milch brauchen könnte – eine eher rhetorische Frage. Ich war froh sie zu sehen und mit ihr zu sprechen, doch konnte ich nicht bleiben. Ich musste zurück, um meine Sachen zu holen und mich mit Gogo im Wald am vorbereiteten Ort zu treffen. Beim Nachhause-rennen sagte ich zu mir selbst: Es würde für mich keine Einberufung mehr geben; dafür war es nun zu spät. Die bei den Kasernen stationierte Flak-Einheit schoss auch ab und zu auf Jabos.- Dabei fielen herabkommende Fragmente und Splitter herunter auf die Stadt. Ich musste mich, auf dem Heimweg mehrfach in Hauseingänge stellen, wenn die "8,8"-Granaten über mir explodierten und dann Splitter herunter kamen - ganz in meiner Nähe. Zuhause machte ich alles zu recht, schnappte mir die Sachen, die ich in der Nacht zuvor gerichtet hatte: eine Wolldecke, einen Rucksack mit etwas zu essen, eine Feldflasche gefüllt mit Milch und ein paar Sachen wie ein Messer, Streichhölzer usw., und los ging es. Meine Leute gingen zum Schutzraum. Wie lange würden wir uns im Wald verstecken müssen? [Anm. 9] Ich traf Gogo am „Kurhaus Kohler“. Andere hatten die gleiche Idee gehabt; ein paar Deutsche und nunmehr freie Zwangsarbeiter („slave labourers“) streiften im Wald umher, beinahe wie bei einem großen Familien-Ausflug. <ANM>Der Grund, warum ich 'slave labourers' in Anführungszeichen gesetzt habe, ist der Umstand, dass es niemals aussah, als ob sie missbraucht würden. Sie machten einen wohlgenährten Eindruck und erhielten regelmäßig Ausgangspapiere für den Stadtbereich. Sie trugen eine Markierung an ihrer Kleidung, welche lediglich aus der Aufschrift „Ost“ bestand. Soviel ich weiß, bekamen sie sogar gelegentlich etwas Geld.</ANM> Wir gingen zum Conrad-Freytag-Blick und schauten auf die Stadt hinunter. Wir konnten Bomben und Artilleriegranaten explodieren sehen; besonders Haardt und Gimmeldingen schienen das Ziel zu sein, obwohl ich später den Eindruck hatte, dass dort wenig oder kaum Schaden entstanden war. Deutsche Artillerie schoss zurück. Uns schien, dass es besser sei uns tiefer in den Wald zurückzuziehen, im Fall, sie begännen den Nollen zu beschießen, so wie sie gerade den Bergsteinhang auf der anderen Seite des engen Tals beschossen. Wir zogen uns zurück und fanden einen ruhigen Platz, ganz tief im Wald auf der westlichen Seite des Nollen. Auch dort hörten wir Granaten heulen, pfeifen und explodieren. Wir vernahmen Panzer rattern, Maschinengewehrfeuer und Flugzeugmotoren. Da musste ein Kampf am westlichen Zugang zur Stadt stattfinden. Der infernalische Lärm hielt an für den größten Teil des Tages. Beim Einbruch der Nacht versuchten wir zu schlafen, jeder eingehüllt in eine Decke. Es war kalt. Immer noch hörten wir Explosionen und das Rasseln von Panzerketten; und Artillerie schoss über uns hinweg. Was wir dann später feststellen konnten, war dies: Eine deutsche Nachhut hatte sich auf beiden Neustadter Hausbergen, dem Nollen und dem Bergstein, positioniert, also oberhalb der Haupt-durchgangsstraße, auf der die US-Streitkräfte herankamen. Ihre Aufgabe bestand darin, die Amerikaner so lange wie möglich aufzuhalten, um damit den verbliebenen, sich zurückziehenden Deutschen ein Entkommen über den Rhein zu ermöglichen. Dies gelang ihnen, beinahe einen Tag lang. Schließlich waren die tapferen Soldaten dieser Nachhut am Ende. Ansonsten schien es wenig Verluste gegeben zu haben, da die Stadt selbst nur punktuell verteidigt wurde. So war im Osten der Stadt eine 8,8-Flak-Einheit stationiert [und gegen die Luftaufklärung gut getarnt], die im Erdeinsatz einige US-Panzer auf der Straße nach Lachen abgeschossen hat. Die Reste dieser Panzer-Abteilung hatten daraufhin rasch den Rückzug angetreten und Luftunterstützung angefordert, die dann die Flakstellung zerstörte. Damit war die Straße nach Speyer zum Rhein für die Einheiten der 3. US-Armee Pattons offen. Lange Zeit war ich nicht sicher welche Armee mich befreit hatte; ich glaubte eine Weile, es sei die 7. Nach längerer Beschäftigung mit Literatur, die den Vorstoß der Amerikaner beschreibt, wurde ich mir sicher. Es steht dort, dass die 3. Armee über Kaiserslautern kam. Wer in Kaiserslautern war musste auch durch Neustadt kommen. [Anm. 10] und zwar auf der Straße durch den Pfälzer Wald und das Neustadter Tal. Neustadt wird in meiner Literatur nicht erwähnt; aber ich kann mir keine anderen vorstellen als Pattons Truppen. Er hatte den Ruf, rasch und energisch vorzustoßen. Im Zweifel bezüglich der 3. bzw. der 7. Armee war ich nur insofern: Wie konnte eine deutsche Nachhut Pattons Truppe beinah einen ganzen Tag aufgehalten haben. Offenbar war es aber so. Die 7. Armee stand unter dem Kommando von General Patch, dieser galt als vorsichtiger, und das Neustadter Geschehen sah eher nach seinem Stil der Kriegsführung aus. Deshalb war ich nie ganz sicher, schwankend zwischen der 3. und der 7. Armee. Auch war die Grenze der Operationsgebiete der beiden Armeen uns sehr nahe, das der 7. wenige km südlich von Neustadt.[Anm. 11]

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Schluss mit diesem Thema. Doch hatte ich letztlich das Gefühl, dass ich mein Überleben Pattons Truppen zu verdanken hatte. Wären die Amerikaner etwas weniger schnell voran gekommen, wäre ich wahrscheinlich gerade noch zur Wehrmacht eingezogen worden! Und wer weiß, was mir dann noch passiert wäre? Doch nach Gottes Vorsehung sollte dies nicht geschehen – und es geschah auch nicht. Am nächsten Morgen berieten Gogo und ich unsere Lage und schließlich entschieden wir uns, noch am gleichen Tag nach Hause zurückzukehren. Ich denke, wir hatten doch nicht Goebbels Propaganda (Sieg oder Sibirien) geglaubt und wollten erfahren, wie es unseren Familien ergangen war. So marschierten wir in Richtung Stadt. Wir ließen unsere Decken versteckt im Wald zurück, für den Fall, dass wir zurück mussten. Am Mausoleum trafen wir einen Mann, der uns berichtete die „Amis“ sind da. Wir gingen vorsichtig weiter zum unten gelegenen Waldrand, wo wir eine Frau trafen und fragten, ob die Amerikaner sich anständig aufführten, was sie bejahte. Das beruhigte uns und wir entschieden uns nach Hause zu gehen. Wir erreichten das Kurhaus Kohler (ein gutes Hotel) exakt am Waldrand gelegen, wo sich unsere Wege trennten. Ich ging eilig die Waldstraße hinunter und sah dort die ersten leibhaftigen amerikanischen GIs. Zwei standen Posten, im Abstand von etwa 100 Meter vom Wald aus dem ich kam. Da wurde mir etwas beklommen zu Mute. Ich ging näher und schaute sie an. Einer sagte „Do you have any wine?" (Dies waren die ersten englischen Worte, die ich von einem Amerikaner hörte.)  Er hatte meine Feldflasche gesehen. Nun versuchte ich mich zum ersten Mal in meinem Englisch. „No“, sagte ich, „just milk“. Und das war alles. Weiter unten begegnete ich zwei weiteren Soldaten. Sie beachteten mich nicht. Ich ging weiter, bis ich den großen Weinberg westlich meines Hauses erreicht hatte. Meine Vorsicht wuchs. Wer konnte wissen, ob nicht doch noch gekämpft wurde! Ich schlich durch den Weinberg bis ich zur Landauer Straße hinunter sehen konnte. Dort sah ich Panzer, Panzer, Panzer mit behelmten Soldaten in den Turmluken. Es gab LKWs, Jeeps, Amphibien¬fahrzeuge, ein unablässiger Strom in Richtung Ost. Ich erinnerte mich der abgerissenen deutschen Soldaten die sich zuvor hier mühsam dahingeschleppt hatten. Es dämmerte mir, dass wir den Krieg wohl verloren hatten. Auch hatte ich auf dem Nachhauseweg bemerkt – und diese Beobachtung würde ich in den nächsten Tagen jedes Mal machen – dass Straßen und Seitenstraßen übersät waren mit Kaugummi, Schokoladeriegeln, kleinen Nescafepackungen, Zigaretten, Käse- und Gebäckresten, Limonadepulver und kleinen Corned-Beef-Dosen. Hatten die Amis derart viel von dem Zeug, dass sie es wegwerfen konnten? Ja, so war es. Sie öffneten eine Notration („K ration box“), entnahmen ihr, was sie gerade wollten, z.B. ein Stück Käse oder Kaugummi und warfen den Rest weg. Ich kam so an Schokolade und später richtigen Kaffee zum ersten Mal seit langem, dank der GIs und an Kaugummi zum ersten mal überhaupt. Alles was man tun musste war loszugehen und aufzuheben! Erstaunlich dies alles - und der Fahrzeugverkehr! Kein Amerikaner ging zu Fuß! Wie konnten wir glauben sie zu besiegen? Ich sah einen deutschen Soldaten mit erhobenen Händen über die Wiese unterhalb des Krankenhauses laufen. Ein Jeep mit ein paar Ami-Soldaten stoppte und nahm ihn mit; er saß dann auf einem der vorderen Kotflügel. und wir hatten den Eindruck, der Krieg sei vorüber. Als ich den Garten erreicht hatte und ich zum Haus runter wollte, sah ich irgendwelche Gegenstände auf dem zementierten Hof liegen, der zur hinteren Tür führte. Was war das? Auch fiel mir auf, dass die Türchen der Kaninchenställe offen standen und die Tiere im Hof umher hoppelten, bis ich sie später wieder einfing. [Anm. 12] Ich ging zur Nordseite des Hauses und sah dort in dem großen Bombentrichter auf der Fahrstraße einen Tisch, Bücher, hölzerne Kisten und Kasten und Reste von Mutters gutem Chinaporzellan. Jemand hatte all diese uns gehörenden Dinge aus dem Haus geschleppt und in den Bombentrichter geworfen. Im Hausinneren gab es Hinweise, dass unsere Wohnung zuerst von Deutschen, dann von Amerikanern benutzt worden war. Ein verheerendes Durcheinander. Die amerikanischen Soldaten hatten offensichtlich einen Streifzug unternommen auf der Suche nach „Souvenirs“. Es fehlte die Verdienstmedaille, die mein Vaters anlässlich seiner 25jährigen Reichsbahn-Zugehörigkeit erhalten hatte. [Anm. 13] Die große Standuhr, ein Hochzeitsgeschenk für meine Eltern von Onkel Otto, tickte. Sie hatte allen Bombenexplosionen, all dem Rütteln und Schütteln widerstanden. [Anm. 14] Matratzen lagen auf dem Boden. Sie mussten hier geschlafen haben; es sah aus, als hätten sie getrunken. (Im Keller war Wein!). Einen Sessel hatten sie hinaus geschleppt. Manches hatten sie zerbrochen. Da lagen Zigaretten die, kurz angeraucht, weggeworfen worden waren. Im Ofen brannte Feuer. Wir verließen unser Haus immer mit angelehnter Haustür, andernfalls hätte ein Bombenabwurf sie aufgesprengt. Dafür waren die Wohnungstüren immer abgeschlossen. Offenbar hatten Deutsche das Schloss herausgesägt (mit einer Stichsäge, meinte mein Vater später). So konnten die Amerikaner problemlos hinein. Auf dem Küchentisch brannte immer noch eine Kerze und es lag etwas Wurst da und ich glaube etwas Brot und Margarine, ebenso wie Schnaps, alles Dinge, die Deutsche eben so haben. Aber da lagen auch amerikanische Zigaretten, Zigarren und kleine Kaugummi-Packungen, Gebäck, Schokolade, Bouillon-Pulver, echter Tee und Kaffee, Limonade-Pulver, kleine Dosen mit Fleisch, Käse und Schinken lagen auf dem Boden und auf den Tischen verstreut, Dinge, die Amerikaner eben so haben. Wollten sie uns etwa entschädigen für den durch sie verursachten Schaden? Wie dem auch sei, wir hatten seit Jahren solche Dinge nicht gesehen und nun hatten wir sie. Auch fand ich ein Taschenbuch „Rogue Male“, das ich immer noch besitze. [Anm. 15] In meinem Schlafzimmer brannte eine weitere Kerze, auf einem meiner Bücher stehend. Es war gut, dass ich zu diesem Zeitpunkt zurückkam und sie löschte! Auf dem zuvor erwähnten Hitlerbild war nun ein kräftiger Strich. Ich vermute, das waren die GIs, die mein Zimmer betreten haben und auch meine Luftpistole weggenommen hatten, doch konnte ich doch kein solch schlimmer Nazi gewesen sein, denn außer dem Führerbild hing ja noch ein Bibelspruch über meinem Bett! Wenn sie lesen konnten, dann konnten sie auch zumindest die ersten Worte verstehen „Jesus Christus“. Die meisten meiner Sachen waren noch da. [Anm. 16] Mit ‚Sachen' meine ich Dinge wie die Jungvolk-Anstecknadel, den Dolch, und Uniformteile die ich noch hatte und die Amerikaner waren verrückt nach solchen Dingen. Ich nahm an, dass sie dergleichen hätten konfiszieren können, aber gewöhnlich machten sie Tausch-geschäfte. So stand die Luger, eine deutsche Armee-Pistole hoch im Kurs, war sehr begehrt und gern gehandelt. Ich sah nun im Keller nach: Alles war drunter und drüber. Auch da brannte noch eine Kerze. In der Waschküche über dem Hof hatten sie wohl jemanden für eine Weile eingeschlossen, denn dieser hatte den Boden verschmutzt. Die Toilette war nur wenige Meter entfernt! Vielleicht hatten die US-Soldaten Zivilisten oder Soldaten gefangen genommen und für eine Weile eingeschlossen. Zivilisten wurden rasch entlassen, Soldaten kamen in ein Gefangenenlager (POW camp). Ich vermute, Sherlock Holmes hätte sich damit beschäftigen können. Im Ganzen war alles nicht allzu schlimm. Einiges war zerstört, aber es hätte schlimmer sein können. Ich registrierte all dies rasch und, da nichts auf den Verbleib meiner Eltern hinwies, beschloss ich zu Fallers zu gehen um nach ihnen zu sehen. Da die Landauer Straße durch Militärfahrzeuge verstopft war, beschloss ich über den Wingert von Süden her zu Fallers zu gelangen. Als ich durch den Garten und Wingert ging, fand ich dort ein deutsches Militärgewehr mit Munition, eine Maschinenpistole, einen Rucksack, Margarine und Brot enthaltend, ein Gürtelschloss, Feldbesteck, eine Feldflasche und Handgranaten. Ich nahm das mit was ich brauchen konnte, versteckte die Waffen im Gras – und dann, zum Haus zurückblickend, sah ich meine Leute auf der Einfahrt von Fallers zurückkommen. Froh und erleichtert sprang ich herunter. (Am nächsten Tag sah ich wieder nach den versteckten Sachen, doch sie waren verschwunden.) Meine Eltern erzählten mir, dass amerikanische Soldaten auf der Suche nach deutschen Soldaten mit gezogenen Pistolen den Schutzraum am späten Abend betreten hatten. Herr Kipp, ein uns bekanntes „altes Parteimitglied“, der auch zugegen war, spielte ein wenig verrückt und ging einem GI an den Hals. Ein Herr Fries, der Englisch sprach, erklärte den Amerikanern, das der Kerl nur durchgedreht sei und drei Männer stießen ihn nach oben und schlossen ihn ein. Die Soldaten blieben in dem Schutzraum für die ganze Nacht. Einige neugierige Zivilisten, die aus dem Schutzraum am vorangegangenen Abend in die Stadt gegangen waren, wurden durch eine explodierende Artilleriegranate getötet. So war es zum Besten der Leute, dass die Soldaten bis zum Mittag niemandem erlaubten Fallers Unterstand zu verlassen. Dies geschah nachdem ich nach Haus zurückgekommen war. Ich erzählte meinen Eltern wie die Dinge um unser Haus standen, dass die Eindringlinge gegangen waren und die Kerzen, die sie hatten brennen lassen gelöscht waren. Wir gingen hinein und schauten uns um. Dann gab es plötzlich wieder Artilleriebeschuss und wir rannten zum Krankenhaus um einen besseren Unterschlupf zu finden. Als es vorbei war, gingen wir zum Haus zurück und begannen mit dem Aufräumen. Bald darauf erschienen vier Amis in einem Jeep und fragten, ob wir Pistolen oder Messer hätten. Wir schüttelten den Kopf. Einer fragte weiter. Ich entschloss mich ihm in meinem Englisch zu antworten. Ich sagte, wir hätten wirklich keine Waffen, worauf sie abzogen. Maria war nach Hause gekommen und sagte, dass in der Molkerei Butter zu bekommen sei. Ich ging und bekam Butter, Buttermilch und Milch, zusammen 50 Liter. Auch dort waren amerikanische Soldaten. Soweit erfreute uns das neue Leben unter US-Besatzung. Es ähnelte einem Leben in Shangi-La [Anm. 17] Als ich von der Molkerei zurückkam, erschienen wieder zwei Soldaten und durchsuchten das Haus nach Waffen. Ich beschloss in die Stadt zu gehen um Annemarie ein paar Dinge, Milch, Käse, etc. – und ein Ei zu bringen. Auf dem Weg dahin sah ich vier deutsche und einen amerikanischen Soldaten tot da liegen. Ein Junge meines Alters, Alex Schneider, den ich beiläufig kannte, lag tot im Rinnstein in der Landauer Straße, da wo man aus dem Viadukt herauskommt. Er wurde, wie man mir später erzählte, von den Amerikanern erschossen, als er mit Steinen nach den Panzern warf. [Anm. 18] Deutsche Granaten, Gewehrmunition, Panzerfäuste etc., lagen überall herum. Die verbliebenen Deutschen mussten überstürzt ihre Waffen los werden als sie abzogen! Hatten sie sich ergeben? Ich war mir nicht sicher. Panzer fuhren die Straße herunter und ungezieltes Artilleriefeuer begann wieder. Eine Granate explodierte so sehr in meiner Nähe, dass Splitter nah an meinem Kopf vorbeiflogen. Das war „friendly fire“ – einige zurückgebliebene Deutsche schossen von irgendwo her auf die „Amis“. In der Friedrichstraße angekommen, wo Annemarie und die anderen Mitglieder der Familie Siebert lebten, sah ich sie und ihre Schwester auf dem Balkon stehend die vorbeigehenden GIs beobachten. Ich gab ihr die mitgebrachten Dinge und sprach kurz mit ihr. Nach Hause zurückgekehrt, erfreute ich mich an amerikanischen Zigaretten, Milch und amerikanischem Gebäck. Gegen Abend entschlossen wir uns ins Krankenhaus zu gehen und dort zu bleiben, da ein Bombardement immer noch möglich schien. Soweit ich mich erinnere wurden wir tatsächlich, durch eine Lautsprecherdurchsage von einem umherfahrenden Jeep aus gewarnt, dass die Stadt unter „feindlichem“ (also deutschem) Artilleriebeschuss liege. Ein Ausgehverbot wurde angeordnet. Die Deutschen, die rechtzeitig den Rhein überquert hatten, begannen Artilleriegranaten auf Neustadt abzufeuern. Diesem Beschuss fiel auch der Turm der alten protestantischen Winzinger Kirche zum Opfer! Die Amerikaner hatten den Saalbau in Beschlag genommen und innen beleuchtet, worauf er tatsächlich von einigen Flugzeugen mit Bordkanonen beschossen wurde. Seit Juni 1944 waren deutsche Flugzeuge kaum noch gesehen worden! Oder waren dies US-Flieger, die nicht wussten, dass Neustadt inzwischen besetzt war? Wieder schoss die deutsche Artillerie. Warum sie glaubten, die Amerikaner eher zu treffen als uns, weiß ich nicht. Saberskys Fabrik begann wieder zu brennen und brannte nun aus. Wir beschlossen die Nacht im Erdgeschoß des Krankenhauses zu verbringen, da uns dies sicherer erschien. Es gab eine Ausgangssperre von 7 Uhr abends bis 6 Uhr morgens. Ich ging in den Garten des Krankenhauses um frische Luft zu schnappen. da schoss die deutsche Artillerie wieder. Alle zwei Minuten schlug eine Granate ein; die Einschläge kamen näher und näher. Schließlich gingen Granatsplitter in meiner Nähe zu Boden. Ich zog mich daher in das Erdgeschoß zurück. Wir schliefen wenig in dieser Nacht. Die Deutschen hatten eine Granate in das Krankenhaus geschossen, die aber nicht explodiert war. Am nächsten Tag sah ich den Blindgänger im zweiten Obergeschoß auf dem Boden liegen.
Die Lage im Krankenhaus war chaotisch. Alle Patienten waren in das Erdgeschoß verlegt worden und waren durstig. Ich lief herum und gab ihnen Wasser. Dann erschienen zwei GIs und gingen herum. Es fiel ihnen auf, dass meine Taschen ausgebeult waren. Sie wollten wissen, was ich da hätte und forderten mich auf es herauszuholen. Sie schienen mir nicht sonderlich gescheit. Ich erklärte ihnen in meinem Schul-Englisch, dass ich die Sachen gerade auf der Straße aufgelesen hätte, wo ihre Kameraden sie weggeworfen hatten. Soweit ich mich erinnere, haben sie mir die Dinge weggenommen. (Anderntags fand ich aber noch mehr, wie oben schon beschrieben.)  Meine Mutter wurde nervös. Sie meinte, ich sollte nicht zu erkennen geben, dass ich etwas Englisch konnte, sonst würden sie mich als Übersetzer mitnehmen. Überall in der Stadt hatten die Amerikaner begonnen Plakate aufzuhängen, um uns zu informieren, dass sie als Eroberer [conquerors], nicht als Unterdrücker [suppressors] gekommen, und dass alle Nazi-Organisationen verboten seien. Alle nunmehr als kriminell betrachteten Gruppierungen wie SS, Gestapo etc. waren aufgelistet. Auch war es unerlaubt die deutsche Nationalhymne zu singen - doch war die Melodie nicht verboten (Wir wussten damals noch nicht, dass diese auch die geachtete Melodie eines amerikanischen Kirchenliedes war!)  Die Plakate trugen die Unterschrift von General Eisenhower. Alle Angehörige der Wehrmacht, der SS, Gestapo und Parteimitglieder waren amerikanischen Behörden zuzuführen. So unterbanden sie den ‚Aufstieg des Reiches', das nach Hitler mindestens 1000 Jahre überdauern sollte. Den ersten allgemeinen Eindruck, den wir hatten war gut und es stellte sich eine große Erleichterung ein und wir erhielten eine Menge Wohltaten; die GIs waren  keine Monster. Meist verhielten sie sich korrekt oder zumindest bei uns tolerant. Sie mordeten nicht und fügten uns keinen Schaden zu und lieferten uns nicht den Sowjets aus! Auf einmal verschwand meine Furcht „Sibirien“ betreffend. Zudem vergingen meine Ängste bezüglich des einen Tages an dem ich ein Fahnenflüchtiger war und auch ein Quertreiber alle diese Jahre. Ich musste nicht länger befürchten von der Gestapo oder der deutschen Militärpolizei aufgegriffen zu werden, die mich womöglich erschossen hätten. Ich konnte endlich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder durchatmen. Ich war frei! Darum ist für mich der 21. März ein Tag der Wiederkehr meiner Befreiung von dem Nazi-Joch und ich werde mich immer in der Schuld der alliierten Soldaten sehen, von denen viele ihr Leben verloren haben. Auch ist es für mich eine Ehre, als ein Repräsentant der Freimaurer Loge am 11. November  einen Kranz nieder zu legen. Viele wissen ihre Freiheit nicht zu schätzen - bis sie sie einmal verloren haben. - Ich liebe die Freiheit. [Anm. 19]

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Aus der Korrespondenz mit dem Autor (Juli 2009): [. . . ] Aber, wie schon gesagt, eure Uebersetzung ist hervorragend! Ich war selber noch einmal ganz  "absorbed" in der Sache, den Erlebnissen, der Politik, der Bomben usw, als ich es in meiner MUTTERSPRACHE lies!!  Habe das ja damals alles nur auf ENGLISCH geschrieben.  Ich war als ganz ueberrascht von gewissen Redewendungen und Woertern, die mir unbekannt waren oder die ich vergessen hatte.  Wenn man seine Muttersprache Jahre lang nicht mehr gebraucht, vergisst man manches, obwohl wenn man es vor sich sieht oder hoert, dann weiss man es noch. Es gibt nur neue Ausdruecke, die man zu meiner Kindheit nicht hatte. Also, ihr koennt mir ja mal mitteilen wo das "Werk" dann landen wird. Ich bin ja froh, dass ihr euch so bemueht habt in dieser Sache. And it is really nice to know that some of my observations will be read by some NEUSTADTER, whether they were actually alive THEN and lived though it all OR whether they were not born yet  and are thusly enabled to read about the last days of the THIRD REICH in Neustadt! THANKS AGAIN!
Sincerely, Helmut W.
Nachtrag zum 11. November: Under the direction of the ROYAL CANADIAN LEGION einem Verband von Veteranen und deren juengeren Freunden) legen allerlei Verbaende, Geschaefte, Individuen usw. Kraenze am Kriegerdenkmal nieder. (Jede Stadt oder jedes Dorf hat das.) Die MASONS (Freimaurer), zu denen ich auch gehoere, legen auch einen Kranz. Ich habe das jahrelang gemacht -- (der fruehere Feind!!!).

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Zeitzeugen zum Kriegsende in Neustadt- Briefe geschrieben in Neustadt um die Jahreswende 1944/45 

 

Anmerkungen:

  1. Ergänzend dazu aus einem am 5. Nov. 1944 in Neustadt geschriebenen Brief: „Die Taktik des Feindes ist jetzt eine ganz andere ... es sind nur selten größere Kampfverbände, sondern immer mit Bomben ausgerüstete Jabos, die sich den ganzen Tag über in der Gegend herumtreiben und hie und da mal was fallen lassen. Dadurch wird aber erreicht, dass die gesamte Bevölkerung von der Arbeit fern und in den Schutzkellern verbleiben muss!“ Zurück
  2. Luther Uebers.:. . ist immer der gleiche, gestern, heute und immer da“. Zurück
  3. Über Willi Sabersky-Müssigbrodt ist in in einem Artikel von Jakob Willer in der „Pfälzer Heimat“ 1978, S. 29 ausführlich berichtet worden. Er wird darin als „einer der bedeutendsten deutschen Flugzeugkonstrukteuren des Ersten Weltkriegs“ bezeichnet „der in einem Atemzug mit Ernst Heinkel genannt werden darf. . . . Saberskys große Leistungen wurden in keinem fliegerischen Fachbuch gewürdigt, während viel Unbedeutendere Aufmerksamkeit gefunden haben. - So wohl auch in seiner Heimatstadt Neustadt . . . " Zurück
  4. Nach Rücksprache mit dem Autor kommt der originelle Name „Schmunz“ vom ‚schmunzelnd gemütvollen' Aussehen des guten Tiers – solange nicht gerade ein Bombenabwurf in seiner unmittelbaren Nähe erfolgte. Zurück
  5. ‚Luftminen' waren Sprengbomben mit wenig Splitterwirkung, aber besonders starker Detonationswelle; direkte Opfer starben an Lungenriss. Explosionskrater waren flach oder fehlten völlig. Zurück
  6. 1. Mose 12:3; 27: 29, 4. Mose 24:9 Zurück
  7. Ich erinnere mich dann einige Zeit später gesehen zu haben, dass das HJ-Quartier tatsächlich in einen Steinhaufen verwandelt worden war. Froh und dankbar war ich, dass dieses Gebäude und alles wofür es stand verschwunden war! Es war das Gebäude gegenüber der katholischen Kirche, in der Winzinger Strasse. Zurück
  8. J. Nosbüsch schreibt 1982 in seinem Buch „Damit es nicht vergessen wird“ auf S. 306: ... So wurde nach amerikanischen Angaben in der Nähe von Bad Dürkheim (nähere Angaben fehlen) [an der ‚Frankensteiner Steige'] eine deutsche Nachschubkolonne zusammengeschlagen. 300 Fahrzeuge, fünf Panzer und 15 Geschütze fielen der 10. amerikanischen Panzerdivision zum Opfer. Der Bericht wörtlich: „Die Verwüstung war phantastisch. Noch nach Tagen explodierte Munition, und Bulldozer mussten einen Weg durch die Wracks bahnen, um einen weiteren Vormarsch zu ermöglichen. Als General Patton von der unglaublichen Zerstörung hörte, beschloss er, sich die Szenerie anzuschauen. Anschließend erklärte er, dies sei die furchtbarste Verwüstung eines militärischen Verbandes, die er je gesehen habe.“ Zurück
  9. Viel später haben wir gehört,  dass  Japaner,  die  sich  jahrelang  versteckt  gehalten  hatten,  entweder  vom  Ende des Krieges nichts wussten, oder das Ende des Kriegs nicht akzeptieren wollten, oder aus Furcht vor dem Zurückkommen aus welchen Gründen auch immer. Zurück
  10. Ich denke die 3. US-Army kam über Kaiserslautern und damit auch durch Neustadt. Zurück
  11. Neustadt wurde vom XX. Korps der 3. US-Armee unter Patton eingenommen. Zurück
  12. Wir hatten jahrelang Kaninchen gehalten zur Ergänzung unserer Fleischration. Zurück
  13. Die dazugehörigen Papiere besitze ich noch, eine trägt die Unterschrift Hitlers. Zurück
  14. Das Buffet im Wohnzimmer hatte ein paar Kratzer abbekommen, die heute noch zu sehen sind. Zurück
  15. Aus dieser Novelle wurde später ein Film gemacht. Zurück
  16. Manches davon habe ich später eingetauscht gegen Seife – wir hatten seit Jahren keine richtige gehabt – und andere Wohltaten. Zurück
  17. mythischer Ort in Tibet. Zurück
  18. Manchmal denke ich an ihn, wenn ich höre, wie die Israelis mit Steine werfenden Arabern umgehen. - Werfe niemals mit Steinen auf Sieger! Zurück
  19. Der 11.11., der Tag an dem der Waffenstillstand 1918 in Kraft trat, ist in Kanada Gedenktag für die in Kriegen Gefallenen. Zurück