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Konfession und Demographie - Plädoyer für eine differenzierte Betrachtung

von Eva Heller-Karneth

Das generative Verhalten in den Konfessionen

"Seid fruchtbar und mehret euch" – mit diesem Gebot der biblischen Schöpfungsgeschichte ist zwar für alle christlichen Konfessionen letztlich eine pronatalistische Grundeinstellung festgeschrieben,[Anm. 1] gleichwohl weisen die Lehrmeinungen – und möglicherweise auch die Alltagsethiken sowie das praktizierte Verhalten – dennoch Unterschiede auf. Während die katholische Kirche aus dem Fruchtbarkeitsgebot der Bibel die Forderung zur uneingeschränkten Reproduktion ableitete, die zugleich auch als wichtigste Zweckbestimmung der Ehe angesehen wurde, setzten die Reformatoren andere Akzente. Ihre Neubestimmung des Verhältnisses der Ehegatten zueinander, wonach in den Worten Luthers Mann und Frau nicht nur ein Fleisch sein sollten, sondern auch als Christ und Christin „im Geiste Freunde werden“[Anm. 2] sollten, musste nolens volens auch zu einer Neubewertung der Fortpflanzung im Gesamtzusammenhang eines christlichen Ehe- und Familienlebens führen. Dies zumal dann, wenn wie speziell im Calvinismus den Eltern überdies eine moralische Mitverantwortung für das irdische Wohlergehen ihrer Kinder übertragen wurde,[Anm. 3] was letztlich eine Anpassung der Fertilität an die jeweiligen materiellen Verhältnisse implizierte. Denn „weniger Kinder hieß im allgemeinen besser ernährte, sorgfältiger erzogene und ausgebildete, reicher ausgestattete und vorteilhafter verheiratete Kinder.“[Anm. 4]

Ob und inwieweit das generative Verhalten ein Indikator konfessionsspezifischer Mentalitäten oder Verhaltensdispositionen ist, lässt sich mittels der Analyse der ehelichen Fruchtbarkeit, das heißt der Geburtenhäufigkeit innerhalb der prokreativen Phase einer Frau im Alter zwischen etwa 15 und 49 Jahren,[Anm. 5] eruieren. Sie kann Hinweise darauf liefern, ob in einer Bevölkerung Geburtenplanung und -beschränkung praktiziert wurden oder nicht.

Einen ersten Anhaltspunkt bezüglich des generativen Verhaltens stellt die Zahl der Geburten pro Familie dar, die über das theoretische Konstrukt der TMFR (total material fertility rate) ermittelt wird. Hierbei wird davon ausgegangen, dass alle Frauen im gleichen Alter von 20 Jahren geheiratet haben und bis zum 49. Lebensjahr prokreativ waren.

Die TMFR ergab für die reformierten Alzeyer Familien einen Wert von 7,8, für die lutherischen Familien von 8,8 und für die katholischen Familien von 9,0 Geburten.

[Die folgende Tabelle [zu "…9,0 Geburten"] befand sich in einer Anmerkung und wird hier (unvollständig) im Text widergegeben. Vollständig einsehbar ist die Tabelle in der nebenstehenden pdf-Datei]:

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Die altersspezifische eheliche Fruchtbarkeit vollständiger Ehen nach Konfessionen (Heiratsalter der Frau <35 Jahre, eheliche Fruchtbarkeitsziffern, in Klammern die Zahl der Frauenjahre).
Alterspentaden
15-1920-2425-2930-3435-3940-4445-49TMFRFam.
Reformierte447422376371236130277,855
(37)(127)(226)(266)(275)(275)(259)
Lutheraner261438458357267167708,824
(12)(37)(72)(98)(120)(120)(100)
Katholiken800385490428320147289,030
(8)(39)(100)(143)(150)(150)(143)

Die im Vergleich zu reformierten Frauen höhere TMFR katholischer Frauen liegt insbesondere darin begründet, dass in katholischen Familien deutlich häufiger sechs bis acht Kinder geboren wurden als in den reformierten (siehe Figur 1). Demgegenüber waren allerdings neun und mehr Geburten nicht nur in katholischen Familien wie in der von Peter Anton Perpente oder der des Oberamtsboten Johannes Soldan mit 13 bzw. 14 Geburten verbreitet, sondern stellten – dies zeigen die Familien des reformierten Handelsmannes Philipp Jakob Welcker und des reformierten Bäckers Johannes Färber oder des gleichfalls reformierten Zollbereiters Johannes Weidner, deren Frauen Anna Maria und Anna Margaretha bzw. Elisabeth elf respektive 14 Kinder zur Welt brachten – auch bei den Reformierten keine Seltenheit dar.

Figur 1: Geburtenzahlen in vollständigen Ehen (nach der Konfession, in Prozent)

Aber es waren nicht allein konfessionelle Unterschiede zu verzeichnen. Denn das Reproduktionsverhalten war ebenso auch von den sozio-ökonomischen Lebensverhältnissen bestimmt. Aus den Ober- und Mittelschichtfamilien gingen immerhin 9,1 bzw. 8,6 Kinder hervor, wohingegen in den Unterschichtfamilien nur 7,9 Kinder geboren wurden.

[Die folgende Tabelle [zu "…geboren wurden"] befand sich in einer Anmerkung und wird hier (unvollständig) im Text widergegeben. Vollständig einsehbar ist die Tabelle in der nebenstehenden pdf-Datei]:

Die altersspezifische eheliche Fruchtbarkeit vollständiger Ehen nach Sozialschichten (Heiratsalter der Frau < 35 Jahre, eheliche Fruchtbarkeitsziffern, in Klammern die Zahl der Frauenjahre)
Alterspentaden
15-1920-2425-2930-3435-3940-4445-49TMFRFam.
Unterschicht214425373386250120217,940
(14)(57)(126)(179)(200)(200)(195)
Mittelschicht518410457400263149388,635
(27)(78)(140)(162)(175)(175)(157)
Oberschicht421436433480260140809,110
(10)(28)(42)(50)(50)(50)(37)
alle416420420404256134338,385
(51)(163)(308)(391)(425)(425)(389)
Tabelle: Die Geburtenzahl nach der Sozialschicht in den Konfessionen (in Prozent)
ReformierteLutheraner und Katholiken
GeburtenUSMS/OS
1- 434,610,5
5- 961,552,6
10 u.m.3,836,8
Summe2619

(Quelle: vollständige Familienblätter)

Berücksichtigt man nun beide Faktoren, die Konfession und die Sozialgruppenzugehörigkeit, verdient besonders hervorgehoben zu werden, dass allein in reformierten Familien die Geburtenzahl mit dem Wohlstandsniveau positiv korrelierte.

Das heißt: Sofern es ihre ökonomischen Ressourcen erlaubten, waren reformierte Ehepaare mithin ebenso reproduktiv wie ihre sozio-ökonomisch gleichgestellten lutherischen und katholischen Mitbewohner. Sie hatten – wie die oben genannten Beispiele der gutsituierten Familien Welcker und Weidner oder das Beispiel des Rotgerbers Johann Henrich Curschmann, dessen zwei Ehefrauen zusammen 16 Kinder zur Welt brachten, veranschaulichen – sogar häufiger zehn und mehr Geburten als diese (s. die folgende Tabelle). Anders hingegen in der Unterschicht, wo die reformierten Frauen wesentlich seltener zehn und mehr Kinder gebaren als die Angehörigen der beiden anderen Konfessionen. Eine niedrigere Geburtenzahl, wie sie etwa die Reformierten Johann Christian Römer oder Matthias Conde mit 5 bzw. 3 Kindern aufwiesen, kann damit nicht generell für die reformierte Bevölkerung behauptet werden, sondern ist – worauf bereits P. Zschunke in seiner Oppenheimer Studie hingewiesen hat[Anm. 6] – immer im Zusammenhang mit den jeweiligen ökonomischen Verhältnissen der Familie zu sehen.

Die ökonomische Ausstattung bestimmte das generative Verhalten in der reformierten Konfession offensichtlich wesentlich stärker als in den beiden anderen Konfessionen. Schenkten die wohlhabenderen reformierten Eheleute nicht anders als die katholischen und lutherischen Nachbarn ebenfalls vielen und sehr vielen Kindern das Leben, tendierten demgegenüber ihre in bescheideneren Verhältnissen lebenden Glaubensgenossen stärker zur Geburtenbeschränkung als die sozial gleichgestellten Lutheraner und Katholiken.[Anm. 7] Die von R. Lenz angeführte stärker ausgeprägte „Diesseitsorientierung“[Anm. 8] des reformierten Bekenntnisses hatte somit offenbar nicht nur „eine neue Sicht des Verhältnisses der Eltern zu ihren Kindern entwickelt“. Sie hatte darüber hinaus insbesondere in der reformierten Unterschicht bereits auch zu einer Verhaltensänderung geführt, die sich im 18. Jahrhundert „in der katholischen und lutherischen Konfession noch nicht durchgesetzt hatte.“[Anm. 9]

Neben den altersspezifischen ehelichen Fruchtbarkeitsraten bestätigten weitere in der historischen Demographie angewandte "Prüfwerte" die Tendenz zu einer Begrenzung der Geburten in den Familien der reformierten Unterschicht. Hierbei ist zunächst die Dauer des protogenetischen Intervalls zu nennen, das in den Konfessionen differierte. Dem im Vergleich zur Oberschicht schon fortgeschrittenen Heiratsalter der Unterschichtfrauen (25 Jahre in der Unterschicht gegenüber 20 Jahren in der Oberschicht) und damit einer verkürzten Prokreationsphase suchten die Ehepaare der lutherischen und katholischen Unterschicht offensichtlich mit einer zügig nach der Eheschließung einsetzenden Reproduktion zu begegnen. Sie brachten ihre ersten Kinder bereits nach 15,3 bzw. nur 11,1 Monaten nach der Eheschließung zur Welt. Demgegenüber ließen sich ihre reformierten Mitbewohner, deren Erstgeborene erst nach 16,8 Monaten das Licht der Welt erblickten, diesbezüglich mehr Zeit.  

[Die folgende Tabelle [zu "… mehr Zeit"] befand sich in einer Anmerkung und wird hier (unvollständig) im Text widergegeben. Vollständig einsehbar ist die Tabelle in der nebenstehenden pdf-Datei]:

Das protogenetische Intervall in den Konfessionen nach Sozialschichten (in Monaten, voll- und unvollständige Familien).
Protogenetisches Intervall (Monate)
KonfessionUnterschichtMittelschichtOberschichtSumme
Reformierte16,818,114,023,5
Lutheraner15,318,018,2151
Katholiken11,113,420,193
alle 15,017,416,8
Summe25118147479
Tabelle 2: Die intergenetischen Intervalle (in Monaten) nach dem Geburtsrang und der Konfession (voll- und unvollständige Ehen mit mindestens 6 Kindern und einer Ehedauer von mind. 5 Jahren)
Unterschicht
Geburtsrang1-22-33-44-55-66 u.m.alle
Reformierte23,831,230,331,230,732,530,1
Lutheraner19,725,824,124,029,128,625,5
Katholiken26,728,427,228,722,925,926,5
alle23,728,727,528,428,229,027,7
Mittelschicht
Geburtsrang1-22-33-44-55-66 u.m.alle
Reformierte28,427,626,327,628,130,228,5
Lutheraner26,825,129,823,528,632,428,3
Katholiken18,918,626,621,426,122,522,3
alle 26,225,127,125,227,829,327,2
Oberschicht
Geburtsrang1-22-33-44-55-66 u.m.alle
Reformierte19,823,930,524,231,725,625,3
Lutheraner22,925,027,122,325,734,828,9
Katholiken25,825,027,729,730,332,329,2
alle22,424,728,625,729,131,127,7
alle
Geburtsrang1-22-33-44-55-66 u.m.alle
Reformierte25,528,727,929,829,930,428,8
Lutheraner23,527,127,125,428,831,427,5
Katholiken23,925,526,025,427,326,125,7
alle24,427,327,127,328,829,327,5

(Quelle: Familienblätter)

Die Tendenz zu längeren Geburtenabständen setzt sich in der reformierten Unterschicht auch bei den intergenetischen Geburtenintervallen fort (siehe Tabelle). Diese reichen mit einer Dauer von 30,1 Monaten insgesamt, von 31,8 Monaten ab dem 3. Kind, nahe an den Wert von 31,5 Monaten heran, der nach Wrigley ein geburtenbeschränkendes Verhalten kennzeichnet.[Anm. 10] Man kann somit in der Tat davon ausgehen, dass eine große Zahl von ihnen eine Geburtenbeschränkung praktizierte.

Tabelle 3: Verteilung der Intervallkategorien in den Unterschichten der drei Konfessionen (nach Dupâquier und Lachivier, in Prozent)

Intervalle in Monaten
Konfession0-1819-3031-4849 u.m.Summe
Reformierte42,837,519,756
Lutheraner5,947,126,420,634
Katholiken10,065,020,05,020
Summe4533419110

Bei Bildung von drei Gruppen (0-30, 31-48, 49 und mehr Monate): Chi² = 6,91, df = 4, n.s.

(Quelle: Familienblätter) [Anm. 11]

Deutlicher bringt dies die nach Konfessionen in der Unterschicht differenzierte Verteilung der Intervallkategorien nach Dupâquier und Lachivier[Anm. 12] zum Ausdruck. Dieser Verteilung zufolge betrugen – zwar nicht signifikant – die Geburtenabstände bei mehr als zwei Dritteln (67,2%) der reformierten Unterschichtfamilien 31 und mehr Monate, wohingegen nicht einmal die Hälfte (47%) bzw. nur ein Viertel (25%) der sozial entsprechend plazierten lutherischen und katholischen Familien lange und überlange Intervalle aufwiesen. Durch ein frühzeitiges Einstellen der Gebärtätigkeit und damit eine Verkürzung der prokreativen Phase konnte zwar auch in den Unterschichtfamilien der anderen Konfessionen, sozusagen durch ökonomische Zwänge bedingt, „sekundär“ die Tendenz zur Geburtenbeschränkung beobachtet werden. Dennoch war gleichwohl allein in der reformierten Unterschicht von Anfang einer Ehe an, das heißt „primär“, eine Beschränkung der Geburten durch das Dehnen der Geburtenabstände und damit gleichsam prophylaktisch eine Anpassung an die gegebenen materiellen Verhältnisse festzustellen. Von einer solcherart „doppelten Geburtenbeschränkung“ (lange Geburtenintervalle und vorzeitiges Abbrechen der Prokreation) profitierten, wie die Untersuchung zur Mortalität ergab, auch und gerade die Frauen. Dies führt zum zweiten Punkt, nämlich der Frauensterblichkeit in den Konfessionen.

Frauensterblichkeit in den Konfessionen

Über bereits Bekanntes, wie beispielsweise die Feststellung einer weiblichen Übersterblichkeit in der Lebensphase hoher und höchster Geburtenraten oder einer Ungleichheit der Sterbealter in den Konfessionen und Sozialschichten, hinausgehend, legte die Auswertung der Alzeyer Daten den Befund einer auffallenden Differenz in der Mortalität reformierter Frauen dar, die ohne Zweifel mit dem unterschiedlichen Gebärverhalten in den sozialen Schichten in Zusammenhang zu bringen ist.  

[Die nachstehende Tabelle ist in einer Fußnote [zu "…hinausgehend,"] enthalten und wird hier so widergegeben. Vgl. nebenstehende pdf-Datei]

Durchschnittliches Sterbealter der Frauen nach Konfession und Sozialgruppenzugehörigkeit (in Jahren).
SozialgruppeReformierteLutheranerKatholiken
Unterschicht55,644,053,7
Mittelschicht49,448,649,6
Oberschicht45,241,347,2

(Quelle: 225 Familienblätter)

Die in jungen Jahren außerordentlich gebärfreudigen Frauen der reformierten Oberschicht, die erst im fortgeschrittenen Alter vermutlich nach dem Erreichen einer anvisierten Zielkinderzahl eine Geburtenbeschränkung vornahmen, starben mit 45 Jahren nicht nur durchschnittlich zehn Jahre früher, sondern zudem auch wesentlich häufiger schon in jüngeren Jahren als die Frauen der Unterschicht, deren mittleres Sterbealter bei 55 Jahren lag. Einem Anteil von 34,7% bis zum Alter von 35 Jahren verstorbener Frauen in der Oberschicht steht mit 8,1% in der Unterschicht gerade einmal ein Viertel des Vergleichwertes gegenüber. Ein extremes Beispiel für die höheren Verluste von Ehefrauen in den „besten Jahren“ in der Oberschicht stellt die Heiratsodyssee des Alzeyer Küfer- und Bierbrauermeisters sowie Gastwirtes zum "Weißen Roß" Johann Martin Erckmann dar. Dieser musste nicht nur seine erste Ehefrau Maria Sybilla, die neun Kindern das Leben geschenkt hatte, mit 36 Jahren zu Grabe tragen lassen, sondern darüber hinaus den Weggang seiner zweiten Frau, die eine Woche nach der Geburt der ersten gemeinsamen Tochter im Alter von erst 24 Jahren verstarb, verkraften. Erst in der dritten Ehe mit der bereits 31jährigen Advokatentochter Anna Maria Wachtel, die ihn zwei Jahre überlebte, fand er eine ihn überlebende Lebensgefährtin, mit der er allerdings nicht anders als in seiner ersten Ehe alle zwei Jahre einen neuen Erdenbürger begrüßen konnte.

Tabelle 4: Sterbealter reformierter Frauen nach Sozialgruppen (in Pentaden und Prozent)

UnterschichtUnterschichtMittelschichtMittelschichtOberschichtOberschicht
Alter%kum.%kum.%kum.
25-292,02,06,66,68,78,7
30-346,18,15,311,926,034,7
35-397,115,215,827,74,439,1
40-4410,225,47,935,6-39,1
45-499,234,69,244,88,747,8
50 u.ä.65,4100,055,2100,052,2100,0
Fälle98 76 23

Bei der Zusammenziehung in drei Altersklassen (25-34, 35-49 und 50 und mehr Jahre): Chi² = 13,28, df = 4, p > 0,025, C = 0,2513.

(Quelle: Familienblätter)

Weniger der geschilderte Fall als vielmehr die verallgemeinerbaren Ergebnisse belegen einerseits nachdrücklich die Notwendigkeit einer sozialen Differenzierung gerade auch innerhalb der Konfessionen. Andererseits relativiert es die von Arthur E. Imhof vorgenommene, die Konfessionen polarisierende Kategorisierung, wonach die katholische Konfession ein "System der Verschwendung und Verachtung des menschlichen Lebens", die reformierte Konfession hingegen ein „System der Wertschätzung und Erhaltung menschlichen Lebens“[Anm. 13] darstelle. Einer solchen Typisierung widerspricht jedoch zumindest das Verhalten der reformierten Oberschicht. Durch hohe Reproduktionsraten in den ersten Ehejahren war hier die Mortalität von Frauen in jungen Jahren (< 35 Jahre) nicht wesentlich geringer ausgeprägt als in der katholischen Konfession (beide circa 40%). Die genannte Typisierung kennzeichnet somit vielmehr nur den in bescheideneren Verhältnissen lebenden Teil der reformierten Unterschicht. Allein die Angehörigen der reformierten Unterschicht wichen in einer prophylaktisch betriebenen Anpassung der Geburtenzahl an die materiellen Ressourcen von dem für die Gesellschaft des Ancien Regime typischen generativen Verhalten ab. Indem sie eine doppelte Geburtenbeschränkung betrieben, zeichneten sie sich nicht nur durch eine niedrigere Geburtenzahl, sondern – ein ungewollter Nebeneffekt – gleichermaßen auch durch einen wesentlichen geringeren "Menschenumsatz" aus. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Mortalität von Frauen als auch bezüglich der Kindersterblichkeit, wobei insbesondere letztere, das heißt die Kindersterblichkeit, die Größe einer Familie bestimmte.

Die Familiengröße allein – ein nur bedingt geeigneter Indikator für konfessionelle Unterschiede

Mit durchschnittlich 2,5 Kindern in den lutherischen, 2,8 Kindern in den katholischen und 2,9 Kindern in den reformierten Familien wichen die Konfessionen, was die Größe ihrer Familien anbelangt, nur geringfügig voneinander ab. Unterschiede werden erst bei einer sozialen Differenzierung innerhalb der Konfessionen erkennbar.

Die aus der sozialen Differenzierung gewonnenen Ergebnisse, dass die Familien der Oberschicht ein Kind mehr in die nächste Generation brachten als die der Unterschicht (3,2 : 2,4 Kinder) traf lediglich für die katholische Konfession (2,0 : 3,3 Kindern) zu. Bei den Reformierten und Lutheranern, deren Unter- und Oberschichtfamilien 2,6, bzw. 2,9 Kinder und 2,9 bzw. 3,0 Kinder zählten, fiel die soziale Differenz demgegenüber wesentlich weniger ins Gewicht.

Tabelle 5: Kinderzahl in den Alzeyer Familien (nach Konfession und Sozialschicht)

Sozialschicht
KonfessionUnterschichtOberschichtalle
Reformierte2,62,92,9
Lutheraner2,93,02,8
Katholiken2,03,32,5
alle2,43,22,7

(Quelle: 278 geschlossene voll- und unvollständige Familienblätter)

Welche Bedeutung die in den Sozialschichten der protestantischen Konfessionen annähernd identische Kinderzahl tatsächlich hat, wird jedoch erst deutlich, wenn man die Familiengröße in Beziehung zum dahinterstehenden "Menschenumsatz", das heißt dem Verhältnis zwischen der Zahl der geborenen und derjenigen der verstorbenen Kinder, setzt. Denn sie zeigt – darauf hat Arthur E. Imhof schon vor längerer Zeit, wenngleich nicht differenziert genug hingewiesen –, dass nicht die Familiengröße, sondern vielmehr der Menschenumsatz den zentralen Indikator für ein unterschiedliches Verhalten in den Konfessionen darstellt, darüber hinaus aber auch in den Sozialschichten der reformierten Konfession.

Wie die Bilanz der Familie Perpente, in der von 13 in einem Geburtenabstand von durchschnittlich 19,5 Monaten geborenen Kindern, von denen bereits fünf Kinder im Säuglingsalter starben, letztlich nur sechs überlebten, oder die Bilanzen der Familien Soldan und der des Hofkammerrates Closmann, in der von 14 bzw. elf geborenen Kindern lediglich zwei bzw. ein Kind überlebten und das Erwachsenenalter erreichten, zeigen, war der Verlust von Menschen in der katholischen Bevölkerung, die so gut wie nicht zur Geburtenbeschränkung tendierte, außerordentlich groß. Da mit den hohen Reproduktionsraten gleichermaßen auch eine höhere Säuglings- und Frauensterblichkeit einherging, hatten die katholischen Unterschichtfamilien sogar deutlich weniger, die katholischen Oberschichtfamilien nur wenig mehr Kinder als die jeweils gleichgestellten reformierten und lutherischen Familien. Als charakteristisch gilt für die katholische Bevölkerung somit ein ausgesprochen krasses Missverhältnis zwischen der Zahl der geborenen und derjenigen der überlebenden Kinder.

Aber auch in den reformierten Oberschichtfamilien, in denen durchaus die mentale Disposition zur Geburtenbeschränkung zu erkennen ist, differierte – wenngleich nicht ganz so gravierend wie in der katholischen Konfession – die Zahl der überlebenden und geborenen Kinder erheblich. Weil ein reicher Kindersegen mit einem gewissen Niveau materiellen Wohlstands durchaus vereinbar war, dominierten in den Anfangsjahren dieser Ehen hohe bis sehr hohe Reproduktionsraten. Diese wirkten sich ungünstig sowohl auf die Überlebenschancen der Kinder als auch auf die Lebenserwartung der Frauen und Mütter aus. Trotz zahlreicherer, allerdings dicht aufeinanderfolgender Geburten – und deshalb wohl auch wesentlich häufiger durch den Tod der Frau vorzeitig beendeter Ehen – hatten die Familien der reformierten Oberschicht kaum mehr Kinder als die der Unterschicht. Die demgegenüber vergleichsweise hohe Zahl überlebender Kinder in den reformierten Unterschichtfamilien ist vor allem mit dem generativen Verhalten der beschriebenen "doppelten Geburtenbeschränkung" (lange intergenetische Intervalle und ein vorzeitiges Abbrechen der Prokreation) – wie sie beispielsweise der oben schon mehrfach genannte Schuhmacher Johann Christian Römer und seine Frau Magdalena Römer mit Geburtsabständen von 27 Monaten beim zweiten, aber deutlich längeren Intervallen vom dritten Kind an (46, 48 und 65 Monate) praktizierten – in Zusammenhang zu bringen. Von dieser profitierten nicht nur die Kinder, sondern auch die Frauen. Insbesondere die letzten Befunde unterstreichen noch einmal, dass konfessionelle Unterschiede weniger in einem bloßen Vergleich der Familiengröße als vielmehr durch das konfessionell stark divergierende Verhältnis zwischen der Zahl der Geburten und den in einer Familie schließlich überlebenden Kindern zum Ausdruck kommt. Gleichsam ein Spiegelbild konfessionell differierender Handlungsorientierungen kann dieses Verhältnis somit als Indiz und Beispiel zugleich für die Relevanz konfessionsgeprägter Alltagsethiken gelten. Dabei stellen die Katholiken bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vornehmlich den traditionellen Typus einer dem biblischen Fruchtbarkeitsgebot verhafteten Bevölkerung mit einem hohen Umsatz an Menschen dar. Die Reformierten nähern sich hingegen eher – dies gilt speziell für die Unterschicht – dem modernen Typus einer Geburtenbeschränkung betreibenden Bevölkerung an.

Anmerkungen:

  1. Sowohl im innerchristlichen als auch im Vergleich der Weltreligionen untersucht H. Schubnell den Einfluss von religiösen Leitbildern und Traditionen auf das Fortpflanzungsverhalten, siehe ders.: „Seid fruchtbar und mehret euch ...“. Der Einfluss von religiösen Leitbildern und Traditionen. In: Funkkolleg Humanökologie, Studienbrief 2, Weinheim-Basel 1991, S. 94-136. Zurück
  2. So Martin Luther, zitiert nach Heide Wunder: „Er ist die Sonn', sie ist der Mond.“ Frauen in der frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 1992, S. 71. Zurück
  3. Der hieraus gezogene Umkehrschluss, dass die Katholiken keine Verantwortung und Verpflichtung trugen, wäre jedoch falsch. Sie hatten nur einen anderen Bezugspunkt. Sie richteten diese „in erster Linie auf eine rasche Taufe, denn erst dadurch wurde das Neugeborene ein Mitglied der Christengemeinde und hatte, falls es früh verstarb, berechtigte Aussicht auf die ewige Glückseligkeit“ (Arthur E. Imhof: Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren – und weshalb wir uns heute so schwer damit tun, München 1985, S. 84). Zurück
  4. Imhof, Welten (wie Anm. 8), ebenda; siehe auch Ulrich Pfister: „Aus dieser Betonung der Qualität von Kindern folgt, dass dann, wenn die individuellen Ressourcen zu einer guten Erziehung vieler Kinder nicht ausreichen, eventuell die Fruchtbarkeit kontrolliert werden muss.“ (Ders.: Die Anfänge von Geburtenbeschränkung. Eine Fallstudie (ausgewählte Züricher Familien im 17. und 18. Jahrhundert) (Europäische Hochschulschriften Reihe III: Geschichte und Hilfswissenschaften Serie III), Bern-Frankfurt/M.-New York 1985, S. 38.) Zurück
  5. Vgl. Arthur E. Imhof: Historische Demographie als Sozialgeschichte. Gießen und Umgebung vom 17. zum 19. Jahrhundert, S. 368; Zschunke, Konfession und Alltag in Oppenheim (wie Anm. 3), S. 200. Zurück
  6. Zschunke, Konfession und Alltag in Oppenheim (wie Anm. 3), S. 216. Zurück
  7. Auch wenn man Vermögensvarianzen innerhalb der sozialen Schicht sowie Vermögensdifferenzen zwischen den einzelnen Berufen berücksichtigt, zeigt sich dieses konfessionell differierende Verhalten in den Unterschichtfamilien beispielsweise darin, dass die katholischen Schneidersfrauen Johanna Maria Lix und Maria Elisabeth Schmitz jeweils neun Kinder geboren haben, während die reformierte Hutmachersfrau Anna Katharina Deboussi nur zwei Kinder zur Welt brachte. Im Gegensatz zu den reformierten Schuhmachern Römer und Conde mit drei bzw. fünf Geburten wurden in der vorzeitig beendeten Ehe des katholischen Schuhmacherkollegen Johannes Georg Schmitt mindestens sieben Kinder geboren. Die Tendenz hoher Reproduktionsraten katholischer Unterschichtangehöriger belegen zudem zahlreiche, bereits vor dem Abschluss der Prokreation der Frau beendete Ehen, in denen die Frauen nach einer geburtenreichen Lebensphase mit mehr als sechs Geburten bereits in den Enddreißigern oder Anfangsvierzigern starben. Stellvertretend hierfür sei auf die früh verwitweten Tagelöhner Andreas Peinz oder Jakob Storck verwiesen, deren Frauen nach sechs bzw. acht Geburten im Alter von 41 und 38 Jahren starben. Der ebenfalls katholische Perückenmacher Pflaum verlor seine Frau nach neun Geburten auch im Alter von erst 41 Jahren. Zurück
  8. Rudolf Lenz: De mortuis nil nisi bene? Leichenpredigten als multidisziplinäre Quelle unter besonderer Berücksichtigung der Historischen Familienforschung, der Bildungsgeschichte und der Literaturgeschichte (Marburger Personalschriften-Forschung 10), Sigmaringen 1990, S. 115. Zurück
  9. Walter G. Rödel: Mainz und seine Bevölkerung im 17. und 18. Jahrhundert. Demographische Entwicklung, Lebensverhältnisse und soziale Strukturen einer geistlichen Residenzstadt (Geschichtliche Landeskunde, 28), Wiesbaden-Stuttgart 1985, S. 268. Zurück
  10. Edward A. Wrigley: Bevölkerungsstruktur im Wandel. Methode und Erkenntnisse der Demographie, München 1969, S. 92. Zurück
  11. In Familien mit mindestens sechs Kindern, einer Ehedauer von mindestens fünf Jahren, einem Heiratsalter der Frau unter 35 Jahren, wobei das tatsächlich aus den Geburtenintervallen pro Familie errechnete mittlere intergenetische Intervall kategorisiert wurde (vgl. Rolf Gehrmann: Leezen 1720-1870. Ein historisch demographischer Beitrag zur Sozialgeschichte des ländlichen Schleswig-Holstein, Neumünster 1984, S. 234ff.). Auf die Problematik der häufig missverstandenen Klassifizierung der Familien, die oftmals nur eine Klassifizierung der intergenetischen Intervalle darstellt, weist insbesondere Timothy G. Saunders hin (siehe Rolf Gehrmann: Familie, Fortpflanzung und Bevölkerungsentwicklung im Hunsrück. Eine historisch-demographische Untersuchung der Lebensverhältnisse und gesellschaftlichen Strukturen in Kirchberg, Kastellaun und Gemünden 1650-1800 (Europäische Hochschulschriften, Reihe III. Geschichte und Hilfswissenschaften 674), Frankfurt/M. u.a. 1995, S. 339f.).  Zurück
  12. Jacques Dupâquier, Marcel Lachivier: Sur les débuts de la contraception en France ou les deux malthusianismes. In: Annales E.S.C. 24, 1969, S. 1391-1406, hier S. 1399. Zurück
  13. Arthur E. Imhof: Unterschiedliche Einstellung zu Leib und Leben in der Neuzeit. In: Arthur E. Imhof (Hg.): Der Mensch und sein Körper. Von den Anfängen bis heute, München 1983, S. 65-81, hier S. 72. Zurück