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Kriminalität und politische Gewalt im faschistischen Italien.

von Jens Petersen

Ein deutscher Blick auf ein italienisches Problem

„Alle Geschichte ist Zeitgeschichte“ − diese berühmte These des italienischen Philosophen und Historikers Benedetto Croce erweist ihre Sinnhaltigkeit auch an einem Thema wie dem hier behandelten. Historisches Fragen erhält seine Anstöße und erkenntnisleitenden Interessen aus den jeweiligen Erfahrungen der Gegenwart. Jeweils neue Gewalterfahrungen in Eu-ropa nach 1945, sei es der gesellschaftliche Protest nach 1965, der politische Terrorismus nach 1970 oder nach 1990 der staatliche Zerfall in Mittelosteuropa, Bürgerkrieg und ethnische Vertreibungen haben den Blick zu-rückgelenkt auch auf die Erfahrungen Italiens nach 1918.

Bei unserem südlichen Nachbarland ist nämlich damals etwas geschehen, was exemplarische Bedeutung gewonnen hat für die Gesamtgeschichte Europas und der Welt. Eben siegreich aus einem langen und freiwillig auf sich genommenen Großkrieg hervorgegangen, ging ein parlamentarisch-demokratisches System liberalen und pluralistischen Charakters nach einer kurzen Agoniephase der Jahre 1919-1922 ohne eigentliche Gegenwehr zugrunde. An seine Stelle trat nach einer Phase des Umbruchs nach 1925 eine totalitäre Einparteidiktatur. Der 28. Oktober 1922, Datum des Marsches auf Rom, bleibt ein Epochendatum in der Geschichte Europas und ein Symbol für die Selbstaufgabe einer Demokratie.

Eine entscheidende Rolle bei diesem Systemwechsel spielte eine neuartige Form gesellschaftlicher Gewalt, die bald den Namen ‚Faschismus' erhielt. Palmiro Togliatti, der langjährige Führer der Kommunistischen Partei Italiens, nannte rückblickend die systematische, illegale, mit Hilfe der Schlägertrupps der Squadre ausgeübte Gewalttätigkeit des Faschismus „die große Neuerung im Handeln der politischen Führungsgruppen in Italien. In diesem Abschnitt ihrer Geschichte war dies die einzige wirkliche Neuschöpfung ... der italienischen Bourgeoisie.“ In der historischen Forschung besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, die Gewalt als einen „fundamentalen Bestandteil“, ja als die „eigentliche Substanz des Faschismus“ zu betrachten. Die Durchbrechung des staatlichen Gewaltmonopols in Italien nach 1918 durch die vielfach spontan aus der Tiefe der Gesellschaft entstandene Gewalt der faschistischen Squadre bleibt auch heute ein keineswegs völlig aufgehelltes und bis in die Gegenwart bedrohlich wirkendes Thema der historisch-politischen Reflexion.

 

 

 

„Le radiose giornate di maggio“ – die strahlenden Tage des Mai

In der Geschichte der Zerstörung und Selbstzerstörung des liberaldemokratischen Systems in Italien spielt der Weltkrieg eine entscheidende Rolle. Ohne Weltkriegsbeteiligung Italiens hätte es keinen Faschismus gegeben, darüber besteht in fast allen historischen Analysen Einigkeit. Nun trägt diese Kriegsbeteiligung Italiens einen völlig anderen Charakter als in allen anderen kriegführenden Großstaaten Europas. Während sowohl die Staaten der Entente wie die Mittelmächte unter gebieterischen Zwängen handelten, die aus Bündnisverpflichtungen, militärischen Aufmarschplänen, geheimen Militär- und Beistandsabkommen und historischen Erfahrungen vorherge-hender politischer Krisen bestanden, gab es derartige Zwänge für Italien nicht. Das Land war seit 1882 Mitglied des Dreibundes, der zuletzt 1912 erneuert worden war. Die geheimen Absprachen zwischen Wien und Berlin im Juli 1914 und die Formulierung des Ultimatums an Serbien waren ohne Beteiligung Italiens getroffen worden. Nach Artikel 7 des Dreibundvertrages hatte Italien bei territorialen Veränderungen auf dem Balkan Anspruch auf Kompensationen. Es war also völlig korrekt, dass die römische Regierung Anfang August bei Ausbruch der Feindseligkeiten ihre Neutralität erklärte. Von diesem Augenblick an begann zwischen den kriegführenden Koalitionen ein geheimes erbittertes Tauziehen um Fortbestand der Neutralität oder Kriegseintritt Italiens. Nachdem die Fronten sich im Westen wie im Osten festgelaufen hatten, schien das militärische Potential Italiens kriegsentscheidende Bedeutung zu besitzen.

Die Habsburger Monarchie hatte in dem langjährigen Ringen mit dem entstehenden italienischen Einheitsstaat 1866 Reste ihrer ehemals italienischen Territorien behalten können, vor allem das Trentino und Trieste. Jetzt schien sich für Rom die einmalige Chance zu bieten, diese terre irredente, die unerlösten Gebiete, zu gewinnen. In der italienischen Öffentlichkeit bildeten sich zwei Lager: zum einen das der ‚Neutralisten', das die große Mehrheit der Bevölkerung umfasste. Zu ihm gehörten die Sozialisten und die Katholiken und fast die gesamte Landbevölkerung. Auch der Vatikan unterstützte entschieden diese Neutralitätspartei. Papst Benedikt XV nannte 1916 den Weltkonflikt „questa inutile strage“ − dieses unsinnige Blutvergießen. Auch im Parlament verfügten die Neutralisten über eine deutliche Mehrheit. Auf der anderen Seite standen die ‚Interventisten', zu denen aktive Minderheiten, u. a. die Nationalisten, Teile der Liberalen, linke Demokraten und die Republikaner gehörten. Die Mittelmächte versuchten mit allen publizistischen und finanziellen Mitteln, das neutralistische Lager zu unterstützen, während London und Paris der Gegenseite unter die Arme griffen.

In den neun Monaten bis zum Mai 1915 wurde Italien so von einem tiefen Konflikt zerrissen, der mit allen publizistischen und propagandistischen Mitteln, mit Straßendemonstrationen, Streiks, Gewaltandrohungen und anderen Pressionen ausgetragen wurde. Am 28. April 1915 unterzeichnete die römische Regierung mit der Entente in London einen Geheimvertrag, in dem sie gegen zahlreiche territoriale und sonstige Zusicherungen den Kriegseintritt an der Seite der Alliierten innerhalb eines Monats zusicherte. Da der Dreibund erst Anfang Mai gekündigt wurde, war Italien so groteskerweise für eine gute Woche mit beiden kriegführenden Parteien verbündet. Am 23. Mai erklärte Italien Österreich-Ungarn den Krieg. Diese Entscheidung wurde gefällt im kleinsten Kreise von Regierung und Kronrat, unter dem Druck der Straße und unter den Pressionen interventionistischer Meinungsführer wie Mussolini und D'Annunzio. Sie wurde gefällt gegen die Mehrheit der Bevölkerung und gegen die Mehrheit des Parlaments. Aufmerksame Beobachter sprachen schon damals von einem Staatsstreich, während später „die strahlenden Tage des Mai“ zur Vorgeschichte und zum gloriosen Beginn des neuen faschistischen Italien hochstilisiert wurden.

Der Krieg schien unter den günstigsten Bedingungen zu beginnen. Was viele Militärs und Politiker für einen militärischen Spaziergang nach Wien gehalten hatten, erwies sich als ein zermürbender, alle Ressourcen bean-spruchender fast vier Jahre dauernder Abnutzungskrieg, der das Land 700.000 Tote kostete und es 1917 an den Rand einer völligen Niederlage führte. Der Meinungskrieg der Neutralitätsperiode setzte sich verdeckt auch in den Kriegsjahren fort. Die Sozialisten proklamierten als Haltung „né
aderire, né sabotare“
– nicht mitmachen, aber auch nicht sabotieren. Um diesen vermeidbaren Krieg zu rechtfertigen, mussten seine Befürworter zu immer schrilleren Tönen und zu immer höher geschraubten Forderungen greifen. Eine Welle des Nationalismus durchzog das Land. Feindbilder von ‚Vaterlandsverrätern' und ‚Defätisten' wurden aufgebaut. Wie tief der Zwiespalt schon während des Krieges ging, zeigt u. a. die Militärjustiz. Kein anderes westliches Land hat eine so drakonische Militärjustiz gekannt wie Italien nach 1915. Erschießungskommandos agierten direkt hinter der Front. 870.000 Militärstrafverfahren, 190.000 Verfahren gegen Deserteure, 4.000 Todesurteile, Dezimierungen ganzer Kompanien − das sind Daten, für die es in England, Frankreich und Deutschland damals keine Vergleiche gibt.

 

 

 

D'Annunzio und der Marsch auf Fiume

Gabriele D'Annunzio (1863-1938) galt lange und gilt etlichen Interpreten auch noch heute als einer der bedeutendsten Dichter Italiens im 20. Jahrhundert. Er ist für unser Thema von Bedeutung, weil er mehrfach und mit großer Wirkung in die Politik Italiens eingegriffen hat und gewissermaßen die Rolle eines Johannes des Täufers für den späteren Messias Mussolini übernommen hat. In seinen stark autobiographisch geprägten Dramen und Romanen predigte er die Wiederkehr des Renaissancemenschen, den ungehemmten Lebensgenuss, die Rolle des großen Individuums und der schöpferischen Eliten. Die eigene Biographie sah er als Gesamtkunstwerk. Er gehörte zu den ersten Interpreten der Lehren Friedrich Nietzsches in der italienischen Kultur. Er war der vielleicht einflussreichste Verkünder einer Ästhetisierung des Politischen. Als Lyriker pflegte er einen hochartifiziellen Stil mit komplizierten Sprachmagien, die aber gleichzeitig auf den Applaus des großen Publikums abzielten. Etliche seiner von einem selbstüberzeugten und hochmütigen Nationalismus getragenen Gedichte aus dem Zyklus „Laudi del cielo, del mare, della terra, e degli eroi“ erschienen nach l900 auf der ersten Seite des „Corriere della Sera“, der größten und einflussreichsten Tageszeitung Italiens. In heutigen Begriffen formuliert: D'Annunzio beherrschte meisterlich die Kommunikationsstrategien der modernen Massengesellschaft. Er sah in diesen Gedichten, in denen er den kulturellen, religiösen und politischen Primat Italiens verkündete, „den Gipfel der Poesie aller Zeiten und aller Länder“; er fühlte sich sozusagen auf Augenhöhe mit Dante Alighieri. Vitalismus, Irrationalismus, Geniekult, Todessehnsucht und Verherrlichung der Gewalt gingen im Oeuvre D‘Annunzios eine merkwürdige, geschichtsmächtig werdende Verbindung ein. Als wortgewaltigster Prophet der europäischen Décadence propagierte er den Mythos des Übermenschen und die Umwertung aller Werte.

Diese Erscheinung des großen Histrionen und Meisters der Selbstdarstellung scheint mir ein wiederkehrender Typus der italienischen Kultur zu sein. Curzio Malaparte oder heute Vittorio Sgarbi sind Neuauflagen dieses Typus. Er wird durch die enorme Hochschätzung des Rhetorischen, der Repräsentation und des fare bella figura − einer Art italienischer National-krankheit − immer wieder reproduziert. Wer einen Eindruck von der Existenz und Wirkungsgeschichte D'Annunzios gewinnen möchte, der sollte bei seiner nächsten Italienreise einmal das „Vittoriale“, die Villa des Dichters in Gardone am Gardasee, besuchen, die der italienische Staat dem Nationaldichter 1919 schenkte und die dieser zu einem Monument seiner Vita und seines heroischen Lebens ausgestaltete. Diese Villa ist übrigens eng mit der deutschen Kultur verbunden. Sie gehörte dem Kunsthistoriker Henry Thode, einem Schwiegersohn Richard Wagners, der dem Bayreuther Kreis verbunden war. Die Villa war 1916 mit dem gesamten Inventar enteignet worden. Der heutige Besucher sieht noch einen Teil der kunsthistorischen Bücher Thodes auf den Regalen der Villa.

D'Annunzio spielte eine bedeutende Rolle innerhalb der interventionistischen Bewegung, die Italien 1914/15 in den Krieg trieb. Sein eigentlicher Auftritt auf der politischen Bühne kam aber erst 1918/1919, als es nach dem Sieg über Österreich-Ungarn um die Grenzziehungen und um die künftige Friedensordnung ging. Die italienische Regierung hatte sich in dem Ge-heimabkommen von London vom 28. April 1915 von den Alliierten Triest, Istrien, Dalmatien und beträchtliche Teile der Adriaküste zusichern lassen. Da aber alle Beteiligten mit dem Fortbestand der Habsburger Monarchie rechneten, hatte man den zum Königreich Ungarn gehörigen Hafen Fiume der Donaumonarchie als einzigen größeren Hafen belassen. In den Pariser Vorortverträgen 1919 war nun mit der Schaffung des Königreichs Jugosla-wien das historisch wie sprachlich weitgehend italienisch geprägte Fiume (heute Rijeka) dem neuen Staat zugefallen. Diese Entscheidung entsprach der Logik der machtpolitischen Verträge der Vorkriegszeit, war aber gleichzeitig eine Verletzung des von den USA in den 14 Punkten Wilsons proklamierten Selbstbestimmungsrechtes. Die schwache Regierung Orlando hatte sich 1919 trotz eines zeitweiligen Rückzugs von den Pariser Verhand-lungen mit ihren Annexionsforderungen betreffend Fiume nicht durchsetzen können.

 In dieser Situation eines diplomatischen Patts und höchster nationaler Erregung sammelte D'Annunzio im September 1919 heimlich eine Gruppe nationalistischer Freischärler und besetzte in verstecktem Einverständnis mit führenden italienischen Militärs in einem nächtlichen Handstreich die ‚unerlöste' (irredenta) Küstenstadt. Dies war ein offener Affront gegen die alliierten Siegermächte und gegen die eigene italienische Regierung. Ministerpräsident Nitti versuchte ergebnislos, auf dem Verhandlungswege den Rückzug der Freischärler zu erreichen. D'Annunzio, dessen Aktion auf die versteckte oder gar offene Zustimmung beträchtlicher Teile der italieni-schen Öffentlichkeit und ihrer Führungseliten zählen konnte, errichtete in Fiume als Comandante und als ‚Dichter-Soldat' eine phantasievolle, stark antikapitalistische Züge tragende Zeitdiktatur, deren Provokationen und Proklamationen über mehr als ein Jahr verheerend auf die Autorität der Re-gierung in Rom einwirkten. Statt des immer wieder angekündigten ‚Marsches auf Rom' machte endlich im Dezember 1920 die Regierung Giolitti dem bunten Spektakel unter Einsatz militärischer Gewalt und unter geringem Blutvergießen ein Ende. Der Dichterfürst, der für den Fall einer bru-dermörderischen Gewaltanwendung von Seiten der Regierung seinen heroi-schen Tod auf den Barrikaden angekündigt hatte, zog sich grollend auf sei-nen Landsitz am Gardasee zurück. Der ‚Marsch auf Fiume' wurde jedoch zum Vorbild für etliche Aktionen ähnlichen Typs mit propagandistisch überhöhter und flankierter Gewalt, zu denen dann im Oktober 1922 auch Mussolinis Marsch auf Rom zählte. Auch sonst prägten D'Annunzio und seine legionari in vielen Einzelheiten den späteren Stil der faschistischen Bewegung. Das galt für die Übernahme altrömischer militärischer Begriffe, für Riten und Insignien, für die Aufmärsche und Massenversammlungen, für den Dialog zwischen dem capo und den gregari, den Anhängern. D'Annunzio, nicht Mussolini, galt bis weit in das Jahr 1921 hinein als der eigentliche Hoffnungsträger einer subversiv und revolutionär werdenden Rechten.

 

Il biennio rosso − die zwei ‚roten Jahre' 1919/1920.

Die zwei Jahre zwischen dem siegreichen Kriegsende (4. November 1918) und dem Beginn der faschistischen Massenbewegung im Oktober 1920 sind in das politisch-historische Bewusstsein als il biennio rosso, die zwei roten Jahre, eingegangen. Sie waren geprägt von hoher Inflation, ansteigender Arbeitslosigkeit, Teuerungsunruhen, Streikwellen, Landbesetzungen, Meutereien beim Militär und einer Wochen dauernden, gewerkschaftlich organisierten Aktion der Fabrikbesetzungen in Norditalien im September 1920. Bei den ersten Nachkriegswahlen im November 1919 hatten die neu ent-standenen Massenparteien der Sozialisten und der Popolari, der Katholiken, Einzug ins Parlament gehalten. Das neu eingeführte Verhältniswahlrecht erlaubte nicht mehr die gezielte Beeinflussung der Wahlen, die vor 1914 Herrschaftspraxis der Regierungen gewesen war. Das politische System befand sich im Umbruch von der Honoratiorendemokratie zum Massenzeitalter. Es produzierte nur mehr kurzlebige, entschlussschwache und instabile Regierungen, die sich nicht mehr fähig zeigten zu längerfristigen Entscheidungen.

 Dazu kam, dass die Ereignisse in Russland und die Nachrichten über die bolschewistische Revolution positiv wie negativ einen tiefen Eindruck in Italien hinterließen. Das galt vor allem seit Beginn des Jahres 1919, als die Abschaffung der Kriegspressezensur eine breitere Berichterstattung über die Vorgänge in Moskau und Petersburg ermöglichte. Die Utopie einer italienischen Räterepublik und einer Diktatur des Proletariats nach russischem Vorbild begann, eine gefährliche Faszination auf breite Teile der italienischen Linken auszuüben. Im europäischen Kontext hatten die italienischen Sozialisten immer weit links gestanden. Auch wenn sich die Mehrheit nicht den Kommunisten anschloss – auf dem Parteitag in Livorno im Januar 1921 spaltete sich der kleine linksradikale Flügel als Kommunistische Partei ab –, so stieß das Experiment Lenins doch auf verbreitete Sympathien. Innerhalb der maximalistischen Mehrheit der Sozialistischen Partei verbreitete sich eine radikale Gewaltrhetorik, in der man vom Umsturz der Macht- und Besitzverhältnisse träumte. Filippo Turati, der führende Kopf des reformistischen Flügels der Sozialisten, warnte auf dem Parteitag in Bologna im No-vember 1919 vor der Forderung nach der nur mit Gewalt durchzusetzenden Diktatur des Proletariats, die „ein glanzloses Ideal der bewaffneten und brutalen Gewalt“ sei. „Die Gewalt ist nichts anderes als der Selbstmord des Proletariats... Heute nehmen uns (unsere Gegner) noch nicht ganz ernst; aber wenn sie es für nützlich halten sollten, uns ernst zu nehmen, dann wird unser Appell an die Gewalt von unseren Feinden aufgenommen werden, die hundertmal besser bewaffnet sind als wir, und dann heißt es Abschied nehmen für geraume Zeit von der parlamentarischen Aktion, von der wirtschaftlichen Organisation, von der sozialistischen Partei!“ Turati sah eine „grausame Reaktion“ voraus, die durch die Feindseligkeit aller Mittelschichten bewirkte völlige Isolierung des Proletariats und „den Ruin der Arbeiterbewegung für ein halbes Jahrhundert“. Das waren prophetische Worte aus dem Jahr 1919. Die Lebensgefährtin Turatis, die Exil-Russin Anna Kuliscioff, zeigte sich schon in den ersten Monaten nach Kriegsende zutiefst beunruhigt über das in der italienischen Gesellschaft vorhandene Maß an Zerstörungsbereitschaft und verbaler Aggressivität und klagte über die „überbordende Welle von Hass und blinder Parteilichkeit“. „In Mailand und Turin“, so schrieb sie im April 1919, „werden wir uns kaum ... vor einem neuen 1898 (militärische Unterdrückung eines Volksaufstands in Mailand durch General Bava Beccaris, mit zahlreichen Toten) retten können, sicherlich weit schrecklicher und blutiger als die sechs Tage vor zwanzig Jahren.“ Wenige Tage später wurde die Mailänder Redaktion der sozialistischen Tageszeitung „Avanti!“ durch eine gezielte Aktion von Futuristen und Arditi zerstört, erste Aktion und später Symbol für das, was der faschistische ‚Squadrismus' werden sollte. Anna Kuliscioff kommentierte diesen Vorgang in tiefem Pessimismus: „Ich hoffe noch, dass wir hier mit dem einen oder anderen schmerzhaften Experiment von revolutionärer Gymnastik davonkommen werden und dass es nicht zu einer Zertrümmerung der gesamten Gesellschaft kommen wird, was für Italien, mehr als anderswo, ein immenses Unglück bedeuten würde.“

Die Furcht vor dem ‚roten Chaos' in breiten besitz- und bildungsbürgerlichen Kreisen muss man als geschichtsmächtigen psychologischen Faktor mit in Rechnung stellen, wenn man die Vorgänge im damaligen Italien verstehen will. Der antifaschistische Historiker Gaetano Salvemini hat in seinen Arbeiten im amerikanischen Exil die Legende von dem ‚roten Chaos' wirksam entkräften und zeigen können, dass das Maß gesellschaftlicher Konflikte damals in Italien nicht über das Niveau der anderen Siegerstaaten Frankreich und England hinausreichte. Es ist inzwischen historiographisch weitgehend abgesichert, dass die ‚rote' Gewalt nicht die − in Wirklichkeit schon latent vorhandene – faschistische Gewalt erzeugt, sondern ihr nur wohlfeile Legitimationsgrundlagen geliefert hat. „Die Gewalt der italienischen Sozialisten (erzeugte) mit einem Minimum von Realität ein Maximum falschen und bösen Scheins und ein Nichts an Gewinn“.

 

Der Ausbruch der faschistischen Gewalt

In seiner Parlamentsrede vom 3. Januar 1925 proklamierte Mussolini, in die Zange genommen gleichermaßen von dem radikalen Agrarfaschismus und der intransigenten Opposition des Aventin, den Durchbruch zum faschistischen Einparteistaat. Auf seine antifaschistischen Kritiker antwortete er damals: „Man sagt, dass der Faschismus eine Horde von Barbaren sei, die ihre Zelte innerhalb der Nation aufgeschlagen haben, dass er eine Bewegung von Banditen und Räubern sei! Man inszeniert die moralische Frage ... Nun gut, ich erkläre hier ..., dass ich allein die politische, moralische und historische Verantwortung für alles, was geschehen ist, übernehme ... Mein ist die Schuld, wenn der Faschismus nur Rizinus und Knüppel war und nicht vielmehr die erhabene Leidenschaft der besten italienischen Jugend! Wenn alle die Gewalttaten das Ergebnis eines bestimmten historischen, po-litischen und moralischen Klimas gewesen sind, so trage ich die Verantwortung, denn dieses Klima ... habe ich mit einer vom Intervento bis heute reichenden Propaganda geschaffen.“ Hier sieht man, welch zentrale Bedeutung das Thema der Gewalt auch für Mussolini hatte.

Nach den Kommunalwahlen in Italien im September und Oktober 1920, die die Sozialisten in vielen Städten Nord- und Mittelitaliens an die Macht brachten, kam es als Gegenreaktion zu einem plötzlichen explosionsartigen Wachstum der bis dahin zahlenmäßig noch kleinen faschistischen Bewe-gung. Diese ging vielerorts mit Hilfe ihrer Parteimilizen zum bewaffneten Angriff über auf Einrichtungen der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften. Rathäuser wurden besetzt und die Kommunalvertretungen vertrieben, Arbeitskammern ausgeplündert und angesteckt, Parteibüros und Zeitungs-redaktionen verwüstet und zerstört. Der kommunistische Spitzenfunktionär und Historiker Angelo Tasca hat in seiner im Exil entstandenen und 1938 publizierten Studie „Aufstieg und Machtergreifung des Faschismus“ das bis heute eindrücklichste Panorama dieses unerklärten Krieges entworfen. Bei Tasca finden sich unter dem Stichwort ‚Bürgerkrieg in Italien' alle eben ge-nannten Elemente zu einer Tragödie der italienischen Arbeiterbewegung vereint. Dies ist eine Geschichte, die gekennzeichnet ist durch die Omnipräsenz der terroristischen Gewaltandrohung und Gewaltausübung, durch Tausende von Toten, durch Zehntausende von Verletzten und durch Hundert-tausende von Opfern physischer Gewalt, die sich, z. T. verhöhnt und gedemütigt, ihrer Bürger- und Menschenrechte und z. T. ihrer materiellen Existenzgrundlage beraubt sahen. Diese Geschichte ist gekennzeichnet durch immense materielle Schäden für die Arbeiterbewegung und die Volkswirtschaft insgesamt, durch die Auflösung eines über Jahrzehnte gewachsenen Netzes sozialer, ökonomischer und organisatorischer Strukturen im partei-politischen, gewerkschaftlichen und genossenschaftlichen Raum. Metapher für dieses als omnipräsent gedachte Regiment der Angst und des Schreckens ist der Bürgerkrieg, von dem der katholische Schriftsteller Giovanni Papini 1922 sagte, er habe Italien mehr Tote und Verwundete gebracht als eine große Schlacht des Weltkrieges.

 

Gewalt und Gegengewalt

Der Faschismus hat seine Gewalt immer als Gegengewalt verstanden, als Antwort auf die ‚rote Barbarei', als legitime Reaktion auf die drohende bolschewistische Umwälzung, als Erwiderung auf die ‚verneinende Gewalt der triumphierenden Bestialität'. Der Begriff der ‚Strafexpedition' entstammt diesem Selbstverständnis. Viele Selbstzeugnisse aus dem frühen futuristischen und faschistischen Lager zeigen jedoch, wie zweckgebunden das Argument der Gegengewalt war. Der Wille zur Aktion und die Bereitschaft zur Gewalt sind die herausragenden Kennzeichen schon in dieser frühen Phase. Eine Durchsicht des faschistischen Liedgutes, in dem Knüppel, Dolche, Revolver und Handgranate als pseudoreligiöse Kultgegenstände mythisiert werden, in dem die Misshandlung und der Mord an dem zum Kriminellen gestempelten Feind verherrlicht werden, zeigt das aufs deutlichste. Die Kehrreime dieser Lieder lauten etwa: „Den Dolch zwischen den Zähnen, die Bombe in der Hand“ oder „Prügel, Prügel, Prügel in jeder Men-ge“. Hermann Heller hat in der richtungslosen Gewaltethik, der von Nietzsche und Sorel beeinflussten Apotheose der Gewalt die wichtigste Charakteristik des Faschismus überhaupt gesehen. Sein Kennzeichen sei die „grundsätzliche Ideenverachtung und Gewaltreligion“. „Außer der formalen Gewaltideologie (gibt) es keinen einzigen Gedanken, der den Faschismus von 1920 oder gar von 1915 mit dem von 1922 oder 1929“ verbindet. Ähnlich urteilen italienische Zeithistoriker. „Die ‚Philosophie der Macht‘, die Theorie und die Praxis der Gewalt, die Doktrin des Krieges waren jeweils das tragende Gerüst ... der Aktion Mussolinis.“ Ihren organisatorischen Ausdruck fand die faschistische Gewaltideologie im squadrismo, zu dem vor kurzem eine grundlegende, komparatistisch angelegte Studie von dem jungen Berliner Historiker Sven Reichardt erschienen ist. Reichardt vergleicht die faschistische Parteimiliz mit ihrem deutschen Gegenstück, der SA Hitlers. Hier gibt es die erstaunlichsten Parallelen.´

Die Squadra oder der SA-Sturm bilden sich in einem geographisch fast immer eingegrenzten Raum, sei es Dorf, Vorstadt, Bezirk oder Stadtteil. Sie bauen auf einem Netzwerk vorhandener Sozialbeziehungen auf. Freundschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen bilden eine wichtige Ressource für Vitalität und Funktionsfähigkeit der Kleingruppe, die in der Regel weniger als hundert Mitglieder umfasst. Fast immer gruppiert sie sich um einen charismatisch legitimierten ‚Führer'. In der Frühphase gibt es ein Stadium der direkten Demokratie, wo der ‚Capo' auf die Zustimmung seiner ‚Kameraden' angewiesen ist und bei der es zu Abwahlen kommen kann. Erst später setzt sich gemäß dem faschistischen Prinzip der ‚Hierarchie' die Ernennung von oben durch. Es gibt einen regelmäßigen Versammlungsort, eine Bar, eine Trattoria oder ein angemietetes oder zur Verfügung gestelltes Lokal, das mit Symbolen, Abzeichen, Fahnen und Trophäen ausgestattet wird und als eine Art ‚Ersatzheimat' empfunden wird. In dieser vielfach nur einige Dutzend Personen umfassenden Kleingruppe gibt es eine bandenähnliche Kameraderie, Spitz- und Decknamen und eine familienähnliche Kumpanei. Hier wird die Gewaltbereitschaft eingeübt und mythisiert. Der größte Gewalttäter okkupiert vielfach auch die höchste Position in der Prestigeskala. Gewalt ist für diese Gruppen Selbstzweck und benötigt keine ideologischen Rechtfertigungen.

Die Binnensolidarität der Kleingruppe wird verstärkt durch die Propagierung massiver Feindbilder. Es geht gegen die ‚Roten', die ‚stinkigen Sozialisten', die ‚Bolschewiki' oder einen anderen objektivierbaren Feind. Hass und Fanatismus dienen der Kriminalisierung und Enthumanisierung des Gegners. Die Verherrlichung und Ästhetisierung der Gewalt zeigt sich z. B. auch an der Glorifizierung der benutzten Waffen. Dabei erweist sich die faktische wie die symbolische Zurschaustellung von Macht als genau so wichtig, ja vielleicht sogar als wichtiger als die direkte Ausübung von Gewalt. Das gilt z.B. für die Okkupierung des öffentlichen Raumes. Wer die von Rathaus, Adelspalast und Kirche flankierte piazza, die ‚gute Stube, das Wohnzimmer' des Ortes beherrschte, der hatte symbolisch im lokalen Bereich die Macht übernommen. Es ist von hoher semantischer Bedeutung, dass in diesem Umfeld die Begriffe ‚totalitär' und ‚Totalitarismus' entstan-den sind (sistema maggioritario, sistema minoritario und sistema totalitario bei den Kommunalwahlen).

Die Gewalt zielte auf drei Zwecke. Sie diente einmal dazu, den politischen Gegner zu provozieren, dann zu schwächen und am Ende auszuschalten. Gewalt diente zweitens zur Stärkung der Binnensolidarität. Gemeinsam verübte Übertretungen des Strafgesetzes, bis hin zu Körperverletzung, Sachbeschädigung, Brandstiftung und Mord, schaffen Komplizenschaft. „Blut kittet aneinander“ (J. Goebbels). Gewalt diente schließlich der Kommunikation und besaß hohe Aufmerksamkeits- und Werbeeffekte. Hier reichte die latente Drohung. Diese Macht kam in Aufmärschen, Trauerfeiern, sakralen Riten wie Märtyrergedenken usw. zum Ausdruck. Sie beeindruckte die öffentliche Meinung. Deshalb auch der ununterbrochene Strom von Aktivitäten und der Primat der Aktion. Die angebliche Rettung Italiens vor der ‚roten Gefahr' wurde propagandistisch zum größten Ruhmestitel. Aus ihm zog die Bewegung den größten Gewinn. Die nationale Presse und die liberalen Eliten konnten so im Faschismus eine starke und bittere, aber notwendige Medizin sehen, die dazu dienen sollte, das überkommene, aber gefährdete politische System zu restabilisieren.

Übergreifende Aussagen zum Sozialprofil der Parteimilizen scheinen nicht möglich. Je nach den örtlichen Gegebenheiten wechselte die soziale Zusammensetzung der ‚Squadren'. Weit deutlicher aber zeigt sich ihr jugendlicher Charakter. ‚Squadristen' waren in der Regel junge Leute, kaum über zwanzig. Das Durchschnittsalter der faschistischen ‚Märtyrer' lag z.B. bei 22,7 Jahren. Die ganze Bewegung lebte von einem forcierten Jugendpa-thos. Nicht umsonst lautete die Parteihymne „Giovinezza, giovinezza, pri-mavera di bellezza“. Jugend als polivalenter Kernbegriff stand im Zentrum des faschistischen Politikstils. Dahinter stand aber auch die Realität, dass die faschistische Führungselite, die nach 1922 schrittweise an die Macht kam, die jüngste war, die Italien je gehabt hat. Auch Mussolini selbst war mit 39 Jahren der jüngste Ministerpräsident in der Geschichte des geeinten Italien. Auch von einer generationsspezifischen Erfahrung lässt sich kaum sprechen. Nur ein kleiner Bruchteil der jeweiligen Jahrgänge, nicht mehr als zwei bis drei Prozent, hat sich dieser Gewalterfahrung angeschlossen. Das Kriegserlebnis und ein romantisch-nationalistischer Frontkämpfermythos prägten fast alle Teilnehmer, auch diejenigen, die zu jung gewesen waren, um nach 1915 direkt am Krieg teilzunehmen. Die Beteiligung am ‚Nachkriegs-Krieg' zur Vernichtung des ‚inneren Feindes' bildete vielfach einen Initiationsritus, der auch sie zu ‚Frontkämpfern' machte. Im Zentrum dieser politischen Religion stand in beiden Fällen die Nation. Ein integraler Nationalismus wurde zum Motor des gesamten Geschehens.

 

Mussolini

Im Zentrum der faschistischen Bewegung stand die Figur Benito Mussolinis. Geboren 1883, machte er – noch nicht dreißigjährig − seine erste große Karriere innerhalb der sozialistischen Partei. Beeinflusst durch Schriften von Stirner, Nietzsche und Sorel, vertrat er einen voluntaristisch überformten Sozialismus, in dem nicht die ‚ehernen' Gesetze der Ökonomie, sondern Momente von Klassenkampf und gewalttätiger Aktion im Vordergrund standen. Wenn es eine Kontinuität in dieser Biographie gibt, so sicherlich die des Verhältnisses zur Gewalt. Als Führer des revolutionären Flügels des Partito Socialista und als Chefredakteur der Parteizeitung „Avanti!“ nahm er ab 1912 eine Schlüsselstellung ein. Die auf vulkanischem Temperament, enormem Ehrgeiz und ungewöhnlicher journalistischer und oratorischer Begabung beruhende charismatische Anziehungskraft Mussolinis ist viel-fach bezeugt. Früh war er fähig, in freier Rede große Massen anzulocken und zu faszinieren. Schon damals sprachen die Genossen gelegentlich von dem „unerschrockenen Duce“ in ihrer Mitte, der vor allem die sozialisti-sche Jugend mit seiner Umsturz-, Klassenkampf- und Gewaltpredigt zu faszinieren verstand. Der Ausbruch des Weltkrieges erwies sich als Zerreißprobe für die Sozialistische Partei. Bei seiner abrupten Hinwendung zu einem nationalrevolutionären, interventionistischen Sozialismus im Herbst 1914 gelang es Mussolini nicht, größere Teile der Partei mit sich zu reißen. Die Gründung der an mazzinianische Traditionen anknüpfenden Tageszeitung „Il Popolo d'Italia“ bot Mussolini eine neue Plattform, von der aus er seine ganze spätere Karriere organisiert hat. In den am 23. März 1919 auf Initiative Mussolinis gegründeten fasci di combattimento besaß der von der Linken als ‚Verräter' verfemte Ex-Sozialist eine schwer bestreitbare Füh-rerstellung. Ein Polizeibericht vom Juni 1919 nannte ihn „äußerst ehrgeizig. Er wird getragen von der Vorstellung, eine beträchtliche Macht für die zukünftige Geschichte Italiens darzustellen, und er ist entschlossen, diese Macht zu nutzen. Er ist ein Mann, der nicht mit zweiten Rängen zufrieden ist. Er will an der Spitze stehen und dominieren. ... Ein Mann des Gedankens und der Tat, schlagkräftiger und mitreißender Journalist, tempera-mentvoller und zugkräftiger Redner, könnte er ein Kondottiere und ein furchterweckender Führer werden.“

In der Öffentlichkeit zeigten sich damals breite Strömungen der Gehorsamsbereitschaft und des Persönlichkeitskultes. Der Handstreich D'Annunzios auf Fiume 1919, von dem schon die Rede war, hatte eine tiefe Krise der Staatsautorität offenbart. Staatsstreich- und Diktaturpläne waren seit diesem Moment auf der sich konterrevolutionär einfärbenden Rechten an der Tagesordnung. Der süditalienische Aristokrat Giustino Fortunato warnte 1921, Italien drohe in den Bürgerkrieg abzugleiten. „Wie in den Augen-blicken höchster Gefahr erflehen daher alle das von der Vorsehung getragene Eingreifen eines MANNES – in Großbuchstaben – der endlich dem Land die Ordnung zurückzugeben versteht.“ Der Aufstieg des Faschismus und seines Duce vollzog sich so in einer teils gegebenen, teils selbst geschaffenen Situation gesellschaftlicher Unruhe, der verbreiteten Illegalität, institutionellen Schwäche und bürgerkriegsähnlicher Gewalt. In seineranarchischen Hilflosigkeit schrie das Land nach Führung und Autorität. „Der Faschismus“, so schrieb rückblickend der deutsch-italienische Soziologe Roberto Michels, „war absolut carlylisch. Selten hat die ... Geschichte ... ein so prototypisches Beispiel für die inneren Bedürfnisse der Massen zu hero-worship gegeben. ... Der Faschismus [hat] in Mussolini eine Führer-natur großen Stils gefunden. ... Italien lechzte politisch nach einer starken Hand. Nun da die Fascisten am Ruder sind, heißt es vorläufig in weiten Kreisen mit tiefem Aufatmen: ‚Endlich eine Regierung‘“.

Politische Gewalt und Kriminalität

In welchem Zusammenhang standen damals politische Gewalt und die allgemeine Kriminalität in der italienischen Gesellschaft? Hier betreten wir ein schwierig zu sondierendes Gelände. Italien und Kriminalität ist für die europäische Öffentlichkeit seit Jahrhunderten ein Dauerthema, so auch für die deutsche. Begriffe wie ‚Mafia', ‚Camorra', ‚Bandit' und etliche andere sind in den deutschen Sprachgebrauch übergegangen. Schauer- und Räuberromane wie Rinaldo Rinaldini, die in Italien spielen, gehörten seit dem 18. Jahrhundert zu den beliebtesten Sujets der deutschen Unterhaltungsliteratur. Kriminalität ist ein Dauerreizthema der deutschsprachigen Italienberichterstattung und der Reiseliteratur, vor allem seit Beginn des 19. Jahrhunderts, als die wachsende Rechtssicherheit und die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols in Deutschland die italienischen Verhältnisse zunehmend als exotisch erscheinen ließ.

Die italienische Kriminalstatistik zählte bei Beginn des 20. Jahrhunderts jährlich 3.000 bis 4.000 Morde. 1910 kamen 10,1 Morde auf 100.000 Ein-wohner. Diese waren aber regional stark differenziert, mit einem starken Süd-Nord-Gefälle. Dreiviertel dieser Morde ereigneten sich nämlich in Süd-und Inselitalien. Allein im Zuständigkeitsbereich des Appellationsgerichtes Neapel lag die Mordziffer (24,5 auf 100.000) zehnmal so hoch wie in Mailand (2,4). An dieser Situation änderte sich auch nach 1918 wenig. Da die Verbrechensstatistik nicht zwischen politischer und allgemeiner Kriminalität unterschied, lassen sich nur die allgemeinen Daten miteinander vergleichen. Dabei ergibt sich, dass die Zahl der Gewaltopfer 1920 bis 1922 in Nord- und Mittelitalien um einige Hundert anstieg, während sie im Süden, aber auf weit höherem Niveau, leicht sank. Die Morde in Italien insgesamt stiegen von 8,6 auf 100.000 im Jahre 1919 (noch unter Vorkriegsniveau) auf 13,9 (1920) und erreichten ihren Höhepunkt mit 16,9 im Jahr 1922. „Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass die Mordstatistiken keinen Unterschied zwischen Todesursachen aufgrund politischer oder kollektiver Gewaltanwendung und Morden aus Leidenschaft, Blutrache, bewaffnetem Raub etc. erkennen lassen. Die umfangreiche Arbeit einer Zusammenstellung des gesamten, überwiegend in Zeitungen und lokalen Untersuchungen enthaltenen Beweismaterials wird noch getan werden müssen, ehe wir uns einen genaueren Überblick über das Ausmaß der ausschließlich politischen Gewalt während dieser Periode machen können.“

 

Die Einhegung der Gewalt nach der Machtergreifung

Mit der Bildung der Regierung Mussolini im November 1922 standen die neuen Machthaber vor dem Problem, wie das Gewaltpotential der ‚Squadren' unter Kontrolle gebracht werden konnte. Schon unmittelbar nach dem Marsch auf Rom wurden die Parteimilizen in die „Milizia Volontaria di Sicurezza Nazionale“ (MVSN) überführt. Instrumente der Kontrolle, der Militarisierung und Unifizierung wurden angewandt, um die jeweils lokale und regionale Verankerung der ‚Squadren' abzuschwächen. Die ge-sellschaftliche Gewalt der ‚Squadren' wurde schrittweise kanalisiert und am Ende durch strafrechtliche Kontrollen von Verwaltung und Justiz abgebaut. In der Matteotti-Krise 1924/25 sah sich Mussolini zur Beruhigung seiner bürgerlichen Bündnispartner sogar gezwungen, die Milizen auf den König vereidigen zu lassen. In dieser Krise musste er gleichwohl auf das Gewaltpotential der ‚Squadren' zurückgreifen, um sich an der Macht halten zu können und am Ende den Übergang zur Einparteidiktatur zu organisieren.

Nach 1925 wurde die MVSN schrittweise ‚verstaatlicht', militärisch bewaffnet und als vierter Wehrmachtsteil in eine Art Parteiarmee überführt, die 1935/36 im Abessinienkrieg und 1936-38 im Spanischen Bürgerkrieg auch militärisch zum Einsatz kam, die sich aber als wenig effizient erwies. Anstelle der faktischen Entmachtung erhielten die Milizen in der Mythologie des Regimes eine zentrale Stellung als Träger der faschistischen ‚Revolution'. Spätestens 1932 zum zehnten Jahrestag der Machtergreifung wurde in der groß angelegten „Mostra della Rivoluzione fascista“ die Rolle des Squadrismo in den Kampfes- und Siegesjahren nach 1920 mythisiert und kanonisiert. Dies wäre ein weiteres großes Thema, das an dieser Stelle nicht behandelt werden kann. 

 

Schlussüberlegungen

Die Spuren der Gewalterfahrung nach 1919 sind in Staat und Gesellschaft
Italiens bis heute an vielen sichtbaren und unsichtbaren Kennzeichen noch aufspürbar. Die Gewaltpraxis des frühen Faschismus fand ein Menschenalter später eine weit schrecklichere Neuauflage in dem Bürgerkrieg der Jahre 1943-1945 zwischen antifaschistischer Resistenza-Bewegung und der Republik von Salò, den republikanischen Faschisten Mussolinis. Dieser versuchte, in der letzten Phase seines Lebens an die Gewalt und die Triumphe der Frühzeit wieder anzuknüpfen. Aber auch die Gegenseite stand auf diesem Erfahrungsboden. Damals sind auf lokaler Ebene bei Überfällen und Tötungen vielfach Rechnungen beglichen worden, die im Bewusstsein der Opfer seit vielen Jahrzehnten ausstanden. Ähnlich wie die Väter des Grundgesetzes aus dem Diktum heraus handelten, Bonn dürfe nicht wieder Weimar werden, so standen die italienischen Verfassungsväter unter der Forderung, eine erneute Diktaturerfahrung auf jeden Fall zu verhindern. „Nie wieder Faschismus!“, so lautete die Devise. So enthält die Verfassung von 1948 eine eigentlich als Provisorium gedachte Bestimmung, die jegli-che Neubildung einer faschistischen Bewegung unter Strafe stellt. Die Postfaschisten des „Movimento Sociale Italiano“ und seines Nachfolgers, der Nationalallianz, haben wiederholt versucht, diesen Verfassungsartikel auf-zuheben – ohne Erfolg. Und während die jahrzehntelangen Bemühungen der bürgerlichen Rechten, den Nachkommen der Savoyer Dynastie die Rückkehr nach Italien zu erlauben, vor kurzem zum Erfolg geführt haben, bleibt der Antifaschismus-Paragraph weiterhin Verfassungsrealität. Selbst die jetzige Regierung Berlusconi, in der die Nationalallianz wichtige Kabinettsposten besetzt und mit Gianfranco Fini den Vizepremier stellt, hat sich an dieses ‚heiße' Thema nicht herangewagt.

Es gibt eine Reihe anderer Indizien dafür, wie tief die faschistische Gewalterfahrung in das Kollektivbewusstsein der Italiener eingedrungen ist. Als vor einigen Jahren die sich zeitweise sezessionistisch gebärdende Lega-Bewegung von Umberto Bossi sich einen ‚grünen' uniformierten Ordnerdienst zulegte, in martialischen Tönen redete und von einem gewaltsamen „Marsch auf Rom – diesem Nest von Dieben und Nichtstuern“ − zu fantasieren begann, reagierte die Öffentlichkeit höchst sensibel. Die erste konkrete Gewaltaktion, die spektakuläre Besetzung des Glockenturms auf dem Markusplatz in Venedig, endete binnen weniger Stunden durch energisches Eingreifen einer militärischen Spezialeinheit. Die Akteure, die die Lega-Bewegung vergeblich als ‚Märtyrer' zu feiern versuchte, wurden in kurzer Zeit zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Der Staat wollte offensichtlich Strenge, Schnelligkeit und Effizienz zeigen, um alle Gewaltverlockungen im Ansatz zu ersticken.

 Auch der neue Populismus Berlusconis und seiner Partei „Forza Italia“ vermeidet gezielt und mit großer Sorgfalt jegliche Anklänge oder visuellen Parallelen zur Gewaltseite des Faschismus, also Uniformen, martialisches Auftreten, Bewaffnung, Märsche usw. Die Gewalterfahrung des Faschismus bleibt so in den verschiedensten und vielfach unsichtbaren Formen in das Kollektivbewusstsein der italienischen Nation eingeschrieben.

 

Literaturhinweise

GAY, Peter: Kult der Gewalt. Aggression im bürgerlichen Zeitalter, München 1996.

LYTTELTON, Adrian: Faschismus und Gewalt. Sozialer Konflikt und politische Aktion in Italien nach dem Ersten Weltkrieg. In: Wolfgang J. MOMM-SEN/Gerhard HIRSCHFELD (Hrsg.): Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart l982, S. 303-324.

PETERSEN, Jens: Das Problem der Gewalt im italienischen Faschismus, 1919-1925. In: Wolfgang J. MOMMSEN/Gerhard HIRSCHFELD (Hrsg.): Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 325-348.

REICHARDT, Sven: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im ita-lienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002 (hier auch eine umfassende Bibliographie der neueren Literatur).

SOFSKY, Wolfgang: Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M. 1996.