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Neues von gestern: 150 Jahre Eisenbahn in Rheinhessen

von Gunther Höbel

Mainzer Journal vom 16. März 1853

"Heute fand auf unserer Ludwigsbahn eine solenne Probefahrt statt. Der Verwaltungsrath unserer Eisenbahngesellschaft hatte dazu eine Reihe der höchsten Staatsbeamten, Abgeordneten der beiden Kammern und Notabilitäten unserer Stadt eingeladen. Nachdem die von Darmstadt kommenden Gäste, von Herrn Verwaltungsrath Korn in Frankfurt abgeholt, mittels der Taunusbahn in Kastel eingetroffen waren, fuhren dieselben in für sie bereit stehende Equipagen nach dem Bahnhofe der Ludwigsbahn, wo sie, gleich den eingeladenen Gästen aus unserer Stadt, in dem Wartesaale dritter Classe von dem Verwaltungsrathe empfangen wurden. Unter den Anwesenden bemerkten wir den Präsidenten des Gesamtministeriums Freiherr von Dalwigk, den Herrn Ministerialrath Grève aus Darmstadt, ferner unseren Vicegouverneur Freiherr von Mertens mit mehreren österreichichen und preußischen Stabsoffizieren, den Herrn geheimen Regierungsrath Schmitt, Herrn Superintendanten Schmitt, die Chefs der hiesigen oberen Justizbehörden, den Herrn Bürgermeister unserer Stadt usw. Nachdem die Anwesenden den mit Fahnen und Flaggen festlich geschmückten Bahnhof in verschiedenen Theilen und Einrichtungen näher in Augenschein genommen, setzte sich der Festzug aus einer Reihe von Wagen bestehend, voran die gleichfalls geschmückte Locomotive Dalwigk bald nach 10 Uhr in Bewegung und erreichte in beiläufig einer halben Stunde Oppenheim. Nach einem etwas längeren Aufenthalte in Oppenheim selbst und im gelben Hause kehrte der Festzug nach zwölf Uhr wieder hierher zurück. Über die Vortrefflichkeit der Bahn und Locomotive, die Bequemlichkeit und geschmackvolle Einrichtung der Wagen, wie überhaupt über die Annehmlichkeit der Fahrt auf unserer Bahn herrschte nur eine Stimme. In den Bahnhof zurückgekehrt, begab sich die Gesellschaft in das Civilcasino, den Hof zum Gutenberg, wo ihrer ein splendides Mahl wartete, welches durch Frohsinn, Heiterkeit und Toaste reichlich gewürzt war."

Der Adler - die erste deutsche Eisenbahn

Als im Jahre 1835 die erste Eisenbahn auf deutschem Gebiet von Nürnberg nach Fürth fuhr, war bald danach das ganze Land vom Eisenbahn-Bazillus erfasst. Die ersten Impulse für einen Bahnbau in Rheinhessen kamen jedoch nicht von den Einheimischen, sondern von außerhalb; insbesondere französisch-bayrische Kreise hatten daran ein Interesse. Aus militärstrategischen Gründen stand der preußische Staat einer linksrheinischen Streckenführung jedoch ablehnend gegenüber. In Baden betrachtete man das Unternehmen aus wirtschaftlicher Perspektive skeptisch; man befürchtete, dass der Verkehr am eigenen Land vorbeigeführt werde. Erst im Jahr 1844, als die bayrische Regierung dem Bahnbau in der Pfalz die Konzession erteilte, bewegte sich wieder etwas. Saarkohle und Holz aus dem Pfälzer Wald warteten - aus bayrischer Sicht - nur darauf, per Eisenbahn nach Rheinhessen zu gelangen. In Mainz fanden sich alsbald einige Bürger, um eine Aktiengesellschaft zum Bau einer Eisenbahnlinie zu gründen. Auch der Pionier des deutschen Eisenbahnwesens, Friedrich List, setzte sich persönlich für einen Bahnbau von Mainz nach Worms ein. Die großherzogliche Regierung in Darmstadt blieb jedoch zunächst bei ihrer ablehnenden Haltung, zumal 1842 per Gesetz ein Staatsbahnsystem festgelegt wurde. Anfang 1845 fanden sich auch in der Regierung einige Befürworter der Eisenbahn und die Iniatoren begannen neuen Mut zu schöpfen. Völlig unklar war zunächst die Streckenführung. Die Alternative Mainz - Alzey - Worms wurde allerdings bald zugunsten der direkten Trassierung verworfen.

Inhaberaktie der Königlich-Privilegierten Ludwigseisenbahn-Gesellschaft von 1869 (Ersatzausfertigung der Gründeraktie von 1835).

Am 15. August 1845 wurde dann der "Mainz-Ludwigshafener-Eisenbahngesellschaft" die Konzession erteilt. Die Gesellschaft nannte sich später in "Hessische-Ludwigs-Eisenbahngesellschaft" um - zu Ehren des Großherzogs Ludwig III. von Hessen - obwohl dieser den Bahnbau zunächst ablehnte. (Die Abkürzung "HLB" wurde in späteren Jahren in "Hoch lebe Bismarck" umgedeutet). In der Folgezeit kam die HLB immer in finanzielle Schieflagen, da einige Aktionäre ihr Geld zurückzogen. Mit dem Bau der Strecke konnte erst im Frühjahr 1848 begonnen werden. Da auch die Staatskassen infolge der Revolution von 1848 leer waren, konnte man von dieser Seite keine Unterstützung erwarten - der Bahnbau drohte zum Erliegen zu kommen. Erst im August 1852 entschloss sich die hessische Regierung, die HLB zu unterstützen. Darüber hinaus wurde mit Bayern ein Vertrag bezüglich der gesamten Strecke Mainz - Ludwigshafen geschlossen. Als sich die Wormser, nach einigem hin und her, auf einen Bahnhofsstandort geeinigt hatten, ging der Bau dann zügig voran. Die 46 Kilometer lange Strecke wurde in mehreren Teilabschnitten von Mainz nach Worms im Zeitraum vom 23. März (Mainz - Oppenheim) bis 24. August 1853 eröffnet.
Selbstverständlich ließ es sich auch der Großherzog nicht nehmen, die neue Eisenbahnlinie in Augenschein zu nehmen. An allen Bahnhöfen war geflaggt. Auch in Nackenheim sollte der Zug anhalten; die Schulkinder standen mit eigens eingeübten Liedern und Gedichten auf dem Bahnsteig, der Bürgermeister in Frack und Zylinder wartete darauf, den hohen Gast persönlich begrüßen zu dürfen, und der Bahnhofsvorsteher hatte extra die Knöpfe seiner Uniform blank geputzt. Doch dann geschah das unglaubliche: Der Sonderzug mit dem Großherzog fuhr durch den Nackenheimer Bahnhof - ohne anzuhalten!

Mainzer Stadtansicht von 1860

Rat- und fassungslos sah man sich an, ging in den Ort zurück und beschloss, den Ärger im Wirtshaus herunterzuspülen...
Zur Entschuldigung kam ein paar Tage später ein Schreiben der großherzoglichen Regierung: "Leider war es dem Lokomotivführer nicht möglich, den Zug zum Stehen zu bringen. Der Großherzog versichert aber die Nackenheimer Bevölkerung seines größten Wohlwollens" (Mainzer Stadtansicht von 1860). Ab dem 15. November konnte man von Mainz bis Ludwigshafen fahren. Am Anfang waren täglich 6 Personenzüge (darunter 2 Schnellzüge) in jeder Richtung von Mainz nach Worms unterwegs. In Mainz bestand Anschluss an die Dampfschiffe der "Köln und Düsseldorfer Gesellschaften" und mittels Trajekteinrichtung an die Taunusbahn. In Worms wurde am 14. Juni 1855 eine Rheinschiffbrücke dem Verkehr übergeben; eine feste Rheinbrücke wurde am 1. Dezember 1900 in Betrieb genommen. Da die Jahre 1854, 1855 und 1856 sehr nasse Sommer mit sich brachten, waren übrigens weite Teile der Bevölkerung der Ansicht, dass die von der Eisenbahn entwickelten Dämpfe den Regen verursachten...