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III. Auswanderer

[Bild: © Paddy Robin - https://500px.com/paddyrobin]

Es folgt ein weiterer Eindruck von der Fremde, um von dort aus zu verstehen, was Heimat bedeuten kann: Die Sicht auf das Leben früherer deutscher Auswanderer in Lateinamerika.

Die deutsche Auswanderung nach Nord- und Lateinamerika begann in einer ersten Phase nach einer Hungerkrise in 1816/17. Sie führte nicht nur in das Hauptauswanderungsland Amerika, sondern bis 1820 auch zu Einwanderungsströmen nach Brasilien. Ab 1850 gab es aufgrund einer weiteren Agrarkrise einen Einwanderungsschub nach ganz Lateinamerika. Bis zum Ersten Weltkrieg, der auch Auslöser für Auswanderungen war, gab es noch zwei weitere Auswanderungswellen, aber auch danach noch in der Weimarer Republik oder mit Flüchtlingswellen im Rahmen des Zweiten Weltkriegs und in den Nachkriegsjahren.[Anm. 1]

Dass viele Deutsche nach Lateinamerika kamen, und dort ihre Kultur einbrachten und heimisch wurden ist in der Öffentlichkeit häufig kaum mehr bekannt.

In den frühen Auswanderungsphasen erfolgte die Auswanderung organisiert und gruppenweise, um sogenannte Agrarkolonien zu gründen. Länder wie Brasilien förderten dies, um die extensiven Großgrundbewirtschaftungen durch Kleinbetriebe zu ersetzen, und um bisherige Urwaldgebiete durch Einwanderer kultivieren zu lassen. Außerdem versprach man sich von den europäischen Siedlern neue Anbaumethoden und eine Ankurbelung der Wirtschaft.[Anm. 2]

In den deutschen Siedlungen gab es eine selbständige Siedlungsverwaltung, Festlegungen für das Siedlungsvorgehen, eine geordnete Verteilung der zu bebauenden Grundstücke und des Saatguts sowie Vieh und Werkzeuge, die an die neuen Siedler verliehen wurden.

Was unterschied die deutschen Siedlungen von den bestehenden brasilianischen Siedlungen? Wie beheimateten die Deutschen sich damals dort?

Für die Siedler war wichtig, dass sie Handwerksbetriebe und kleine Manufakturen aufbauten, so wie sie es von zu Hause aus Deutschland kannten. Und dass sie ihre eigenen, deutschsprachigen Schulen und ihre eigenen Kirchen errichten konnten. Zugereiste deutsche Kaufleute bauten darüber hinaus eine Handelsstruktur auf und importierten Waren aus Deutschland in die neue Heimat.

Natürlich soll nicht das harte Leben dieser Aufbauzeiten verschwiegen werden, die fehlende Infrastruktur, Sprachprobleme und Entbehrungen. Hinzu kamen Probleme mit dem subtropischen Klima und auch immer wieder vielfältige Rückschläge. Es war schon sehr viel Idealismus, Einsatz und Entbehrungsbereitschaft notwendig, um erfolgreich zu sein.[Anm. 3]


[Bild: © Paddy Robin - https://500px.com/paddyrobin]

Interessant sind die Phasen, in denen sich von kultureller Distanz bis zu einem kulturellen Anpassungsprozess, der sogenannten Akkulturation, die Beheimatung der deutschen Auswanderer im neuen Heimatland abspielte. Die Forschung der Einwanderung nach Chile berichtet hierzu, dass die ersten Siedler sich zunächst über mehrere Jahrzehnte hermetisch abschotteten und jegliche kulturelle Einflussnahme seitens der chilenischen Gesellschaft abwehrten. Sie fanden ihre Heimat darin, dass sie die bisher gewohnte deutsche Gesellschaft, aus der sie stammten, möglichst 1:1 abbildeten: Sei es in der Wohnungsausstattung, in der Kleidung, beim Aufbau von Landsmannschaften und durch die Bildung von Kirchengemeinden, Turn- und Schützenvereinen.

In der zweiten Phase der Akkulturation wurden nach einigen Jahren Traditionen, Werte und Verhaltensweisen weiterhin nach dem Muster des Herkunftslandes stabilisiert, um sich heimatlich zu fühlen.

In der dritten Phase wurde nach vielen Jahren das ursprüngliche Heimatland Deutschland jedoch zunehmend fremder. Die Siedler hatten eine Erinnerung an die Zeit von ihrer Auswanderung konserviert, die mit den Entwicklungen in Deutschland jedoch aktuell nicht mehr übereinstimmte. Die Identitätsverbindung zu Deutschland wurde zunehmend als fremder empfunden und ein erster Ablösungsprozess begann. Hierbei wurde aber noch versucht, die Ablösung zu kompensieren, zum Beispiel durch importierte deutsche Zeitungen oder Intensivierung der bestehenden Bindungen nach Deutschland.

Die vierte Phase brachte eine zunehmende Entfremdung mit sich, die realistischer und weniger emotional auf das ehemalige Vaterland blickte, ehe dann in der fünften Phase eine Akkulturation – eine kulturelle Angleichung - mit der chilenischen Gesellschaft stattfand. Hier entstanden die kulturellen Mischformen und Deutschland wurde zum „Ausland“, während Chile zum neuen Heimatland wurde.[Anm. 4]


Ein Zwischenfazit: Beheimatung findet nicht ad hoc oder auf Knopfdruck statt, sondern ist ein Prozess. Und: Oft versteht man erst in der Fremde, was Heimat ist, und was man dazu benötigt, um sich beheimatet zu fühlen.

NACHWEISE

Verfasserin Text: Marion Nöldeke

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

  • Bernecker, Walther L./Thomas Fischer: Deutsche in Lateinamerika. In: Klaus J. Bade (Hg.): Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. München 1993.
  • Klose, Joachim: Heimatschichten: Anthropologische Grundlegung eines Weltverhältnisses. Wiesbaden 2013.
  • Mitzscherlich, Beate: Heimat. Kein Ort. Nirgends. In: Joachim Klose: Heimatschichten: Anthropologische Grund-legung eines Weltverhältnisses. Wiesbaden 2013, S. 47-67.

Abbildungsverzeicnis

Erstellt am: 13.02.2021

Anmerkungen:

  1. Walther L. Bernecker/Thomas Fischer: Deutsche in Lateinamerika. In: Klaus J. Bade (Hg.): Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. München 1993, S. 197-198. Zurück
  2. Bernecker 1993, S. 200-202. Zurück
  3. Bernecker 1993, S. 200-204. Zurück
  4. Bernecker 1993, S. 212-214. Zurück