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Da „war der Henker gar los...“

Ludwig Christian Kehr´s literarische Jugendsünden, nebst einer glücklichen Fügung

(anhand von Rezensionen und seiner Autobiographie)

Zusammengestellt von Jörg Julius Reisek

Eine Rezension in der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung bewog mich, die folgende Spurensuche aufzunehmen. Sie führt in die „Sturm- und Drangzeit“ des jungen Ludwig Christian Kehr (1775-1848), der sich später als Buchhändler und Verleger in Kreuznach etablierte. 1775 in Homburg v. d. H. als Sohn eines Tambours geboren, absolvierte er von 1789 bis 1794 in Offenbach eine Buchhändlerlehre. Nach einer kurzen Gesellenzeit zog es ihn 1795 nach Frankfurt a. M., um am 1. März als Gehilfe im Verlag Esslinger angestellt zu werden.


„Um diese Zeit brachte mich ein böser Geist an die Schriftstellerei. Dazu konnte ich nur einen Theil der Nächte verwenden, weil ich von sieben Uhr früh bis um sieben Uhr Abends auf dem Comtoir und im Laden am Joche ziehen musste. Gewöhnlich arbeitete ich für mich, wenn ich nicht nächtliche Stunden den Comtoirgeschäften widmete, von Abends sieben Uhr bis um Mitternacht, schlief etwa drei Stunden und arbeitete dann wieder bis um sieben Uhr. Ich aß nur Mittags; das Abendessen hatte ich mir abgewöhnt. So schmierte ich Vieles zusammen und fand zum Unglück auch Verleger für meine literarischen Produkte, die aber dabei nicht reich wurden. Als Meusel (Johann Georg Meusel 1743-1820, Verfasser biographischer Sammelwerke), freilich unbewusst, die Sünde beging, meinen Namen als Schriftsteller in seinem gelehrten Deutschlande aufzunehmen, war der Henker gar los, denn nun erachtete ich es als Pflicht, die Welt mit meinen Schmierereien zu beglücken und hielt es für einen großen Verlust, daß ich nicht auch die Tage dazu benutzen konnte. Zwar gingen die Rezensenten unbarmherzig mit mir um, allein das machte mich nicht irre, denn es lag am Tage, daß es aus Neid und Schmähsucht geschah. Später habe ich freilich eingesehen, daß die Kritiker ganz vollkommen Recht hatten, und ich wünschte recht aufrichtig, daß diese literarischen Jugendsünden bis auf die letzte Spur vertilgt seyn möchten.“

Jenaer Allg. Literatur-Zeitung, 1796

Frankfurt a. M. b. Zeßler: Skizzen, Erzählungen und Gedichte zur Unterhaltung des schönen Geschlechts, von Ludwig Christian Kehr. 1795. 164 S. 8°.

Das schöne Geschlecht sollte Hn. K. eine harte Buße dafür auferlegen, dass er Sachen, die keinen einzigen männlichen Leser unterhalten können, für gut genug gehalten hat, dem weiblichen Publicum an den Kopf zu werfen. Seine Skizzen sind so flüchtig entworfen und oft ganz unbedeutend, dass sie gar kein Interesse haben; seine prosaischen Erzählungen, welche meistens besiegte Hindernisse, die Liebenden entgegenstehen, zum Gegenstand haben, stellen Entführungen, Raub, Mord, Blutvergießen und Schlagflüsse auf, wodurch sie, bey dem gänzlichen Mangel an wesentlichen Schönheiten, nur Leser ergötzen können, die mit diesen verbrauchten Dingen noch nicht bekannt sind; seine Gedichte endlich, Lieder, Elegien, Idyllen, sind voll der mattesten prosaischen Stellen, z. B. S. 22 befreyt vom Lastgewimmel – wo das kleine Luftgefieder aus Instinkte huldigt, S. 23 wo Gessner im Gedächtnis steht; S. 78. ich liebte so herzlich diese gute Schwester, wie noch nie Geschwister sich geliebt. Oft erlaubte sich der Vf. Reime, wie Kinderspiel und Will. und Härten sind ihm so gleichgültig, daß er der Lieb´ Gebrauch sagt, wo er durch die kleine Änderung der Liebe Brauch hätte abhelfen können.

In einer weiteren Rezension erhielt das Publikum folgende Informationen über das 16 Groschen teure Buch:

Ein buntes Allerley, von durchaus unbedeutenden Sachen, bey dem wir viele lange Weile und keine Unterhaltung gefunden haben. Die Verse des Verf. lauten, wie folget:

Ach Tochter, was ich hören muß,
Du liebst des Schulzens Neffen?
Den dummen stolzen Hasenfuß,
Den liederlichen Steffen?
O heil´ge Jungfrau steh mit bey!
Ich brech dir Hals und Bein entzwey. –
Wo hast du dein Gehirne?
Du liederliche Dirne.

(Neue allgemeine deutsche Bibliothek)

„Der längst verstorbene Buchhändler Zeßler in Frankfurt war mein Hauptverleger, und auf seinen Wunsch schrieb ich – was wagt ein junger Mensch nicht Alles! – für ihn mehrere politische Pamphlete, welche, obgleich sie keinen Pfennig werth und höchst unreife Geburten waren, doch mehrere starke Auflagen erlebten. In diesen politischen Flugschriften schimpfte ich, denn das war damals an der Tagesordnung, weidlich auf Fürsten, Minister und Adel und trat in offenen Krieg mit ihnen; aber ich habe keinen zu Falle gebracht. Obgleich mir noch heute der Liberalismus im Blute sitzt, habe ich doch in reiferen Jahren die Fürsten mit mehr Billigkeit beurtheilt, weil ich einsehe, daß nicht Alles zu tadeln ist, was sie thun und oft thun müssen.“

„Im Anfange des Jahres 1797 kam mir der Gedanke, nach Nord-Amerika gehen zu wollen, und dieser Entschluß stand bei mir ziemlich fest... [Es] trat ein Ereignis ein, welches Nordamerika um einen Einwanderer ärmer machte. Zur Ostermesse 1797 kam nämlich der bekannte Dichter J. Heinrich Kaufmann in Kreuznach, mit welchem ich seit einiger Zeit in freundschaftlichem Briefwechsel stand, mit seiner Schwester, meiner jetzigen Frau, nach Frankfurt, dort lernten wir uns persönlich kennen und es entstand eine gegenseitige Neigung zwischen seiner Schwester und mir.“

„Auf Pfingsten 1797 machte ich einen Gegenbesuch in Kreuznach; hier lernte ich die Familie Kaufmann näher kennen und sie flößte mir Achtung und Liebe ein. Dem Haupte derselben, meiner nachherigen Schwiegermutter, einer ehrwürdigen Matrone, gefiel mein ernstes, solides Wesen; von ihrem Sohne hatte sie Vieles zu meinem Lobe gehört und es war entscheidend für mich, daß ich mich zur lutherischen Kirche bekannte. Meine Bitte um Aufnahme in ihre Familie fand Gewährung und die Tochter war mir nicht entgegen. Mit Hand und Herz und Mund besiegelten wir den Bund für´s ganze Leben, einen Bund, den ich noch heute, nach 36 Jahren, nicht bereue.“

„Meine Jugend-Schmieralien sind, ich will es hoffen und wünschen, auf diese oder jene Weise aus der Welt verschwunden...“

Erhalten geblieben sind lediglich „Humoristische Bagatellen“ von 1795. Das vermutlich einzig erhalten gebliebene Exemplar wird in der Trierer Stadtbibliothek aufbewahrt.

Nachweise

Verfasser: Jörg Julius Reisek

Redaktionelle Bearbeitung: Dominik Kasper

Literatur:

  • Jenaer Allgemeine Literatur-Zeitung, 1796, Sp. 487/488 (Digitalisat: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek)
  • Blum-Gabelmann, Franziska: Der Kreuznacher Johann Jacob Beinbrech (1799-1834) : Bürger - Kaufmann – Spaziergänger. Bad Kreuznach: Ess, 2006. (Aus Museen und Archiv ; 4)
  • Kehr, Ludwig Christian: Humoristische Bagatellen. Frankfurt/M.: Johann Ludwig Ernst Zeßler, 1705. (StB Trier/Weberbach Sign. T 2357 / Herzlichen Dank für die Kopie der Titelseite)
  • Kehr, Ludwig Christian: Selbstbiographie: zunächst für angehende Buchhändler geschrieben. Kreuznach : Ludwig Christian Kehr, 1834. S. 15-18, /40 dsgl. - „Rabatt habe ich nie gegeben“ Aus der Selbstbiographie von Christian Ludwig Kehr. Sdr. 1980. S. 23-26, 42
  • Neue allgemeine deutsche Bibliothek. Kiel 1796. Bd. 23. S. 474 (HWZB)
  • Rissel, Heribert: Große Literatur aus einer kleinen Stadt : Die "Raub"drucke des Ludwig Christian Kehr in Kreuznach. 2006. (in: Jahrbuch für westdt. Landesgeschichte ; 32)
  • Stadtarchiv Bad Kreuznach: Lexikon Kreuznacher Persönlichkeiten

(Dieser Artikel erschien in ähnlicher Form im Nahelandkalender 2010)

Heimatwissenschaftliche Zentralbibliothek Bad Kreuznach: Zahlreiche Originalwerke und Abhandlungen zum Thema. Die frühen Werke d. Verf. sind hier leider nicht vorhanden.

Erstellt: 08.03.2010