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Heinrich Claß

Publizist und Politiker

Pseudonyme: Einhart, Daniel Frymann
* 29.2.1868 Alzey, † 16.4.1953 Jena. (ev.)
V: August (1834-93), Notar; M: Anna, geb. Fischer (1839-1911); 
°° 1896 Mathilde, geb. Manefeld (1878-1927); S: Wilhelm (1901-1947), Verlagskaufmann, 1 T.

 

Nach dem Besuch des Gymnasiums in Mainz, studierte Heinrich Claß bis 1891 Rechts- und Staatswissenschaften in Berlin, Freiburg und Gießen. Er absolvierte seine Referendarausbildung 1894 in Mainz, wo er sich 1895 als Rechtsanwalt niederließ. Als Student politisch beeinflusst durch den Nationalismus Heinrich von Treitschkes und die antisemitische Bauernbewegung in Hessen um Otto Böckel, entwickelte sich Claß in den 1890er Jahren zu einer Schlüsselfigur im völkischen Vereins- und Verbandwesen. Zunächst engagierte er sich als führendes Mitglied des antisemitischen Vereins Deutscher Studenten in Gießen. 1894 baute er gemeinsam mit dem Publizisten Friedrich Lange (1852- 1917) den Deutschbund auf, der versuchte, einflussreiche Personen des öffentlichen Lebens in einer Art Ordensgemeinschaft zusammen zu führen und im Sinne des völkischen Antisemitismus zu schulen. Claß leitete die Deutschbundgemeinde in Mainz, bevor er 1897 zum Alldeutschen Verband (AV) wechselte. Aufgrund des erfolgreichen Ausbaus des AV in Rheinhessen, wurde Claß 1900 in die Hauptleitung berufen und stieg 1904 zum stellvertretenden Vorsitzenden auf. Nach dem Tod von Ernst Hasse (1846- 1908) übernahm er den Verbandsvorsitz, den er bis zur Auflösung des AV innehatte. Gemeinsam mit Constantin von Gebsattel (1854- 1932), der von 1914 bis 1929 als zweiter Vorsitzender amtierte, restrukturierte Claß den Verband nach dem Führerprinzip und richtete ihn auf einen völkischen Nationalismus aus. Claß gewann führende Vertreter des "Rassegedankens" wie den Anthropologen Otto Ammon (1842- 1916), den Gobineau- Übersetzter Ludwig Schemann (1852- 1938) und den Münchener Verleger Julius Friedrich Lehmann (1864- 1935) für die Arbeit des AV.

Claß verband seinen radikalen Nationalismus mit einer regierungskritischen Haltung. In der Innenpolitik sei man zu liberal gegenüber den inneren "Reichsfeinden", die Claß vorrangig in Sozialdemokraten, Polen und Juden erblickte. Enttäuscht zeigte er sich über die Entlassung Bismarcks, die Politik des "Neuen Kurses" unter dessen Nachfolger Leo von Caprivi und die seiner Ansicht nach zu defensive Bündnis- und Kolonialpolitik unter Kaiser Wilhelm II. Um Abhilfe zu schaffen, mobilisierte Claß in Form des AV und anderer Verbände eine "nationale Opposition", die über öffentliche Meinungsbildung Druck auf die Regierung ausüben sollte. Angewandt wurde diese Strategie vor allem in der Sympathiebewegung für die Buren (1899- 1902), in der Marokkokrise (1911) und in der Kriegszieldebatte im Ersten Weltkrieg. Der AV gewann zwar nicht unmittelbaren  Einfluss auf die Regierungspolitik, erzeugte mit seiner "Bierbankpolitik" (Reichskanzler Bernhard von Bülow) im "nationalen Lager" aber eine hohe Erwartungshaltung und setzte die Regierung unter Handlungs- und Rechtfertigungsdruck.

Einerseits legte sich der AV auch unter Claß eine Zurückhaltung in Sachen Antisemitismus und Antikatholizismus auf, um das "nationale Lager" nicht zu spalten. Andererseits gewann unter seinem Vorsitz völkisch- antisemitisches Gedankengut im AV massiv an Bedeutung, während der Verband in katholischen Regionen nach wie vor ein Schattendasein führte. Obwohl Claß die "Los- von- Rom- Bewegung" der österreichischen Alldeutschen um Georg Ritter von Schönerer (1842- 1921) nicht unterstützte, wurde der AV auch im Deutschen Reich als "antiultramontan" wahrgenommen. 

Große Resonanz in der völkischen Bewegung und im gesamten "nationalen Lager" gewann Claß mit zwei unter Pseudonym veröffentlichten Schriften. Als "Einhart" verfasste er 1909 eine "Deutsche Geschichte". Unter dem Deckmantel der Geschichtsschreibung ging es Claß darum, die These von der Saturiertheit des Deutschen Reiches zu widerlegen und für eine aggressive Kolonial- und Lebensraumpolitik zu werben. In der Broschüre "Wenn ich der Kaiser wär" (1912) empfahl er unter dem Pseudonym "Daniel Frymann" einen Staatsstreich als Ausweg aus der innenpolitischen Misere nach dem Sieg der Linksparteien bei der Reichstagswahl von 1912. Claß forderte die Entmachtung von Kaiser und Reichstag, die Errichtung einer völkischen Diktatur mit einem starken Reichskanzler Bismarckscher Prägung, die Aufhebung des allgemeinen und gleichen Reichstagswahlrechts, das Verbot von SPD und Gewerkschaften und die Rücknahme der Judenemanzipation. Im Ersten Weltkrieg gehörte Claß zu den Anhängern eines "Siegfriedens", im Gegensatz zu dem von einer Reichstagsmehrheit aus SPD, Liberalen und Zentrum befürworteten Verständigungsfrieden. 1914 und 1917 trat Claß mit Denkschriften hervor, in denen weit reichende Annexionen im Westen und Osten gefordert wurden. Darüber hinaus empfahl Claß, im Sinne einer "nationalen Flurbereinigung" umfangreiche Aus- und Umsiedlungen in Ostmitteleuropa vorzunehmen, mit dem Ziel, das germanische Rassenelement gegenüber Slawen und Juden zu stärken. Der "Siegfrieden" solle ein deutsches Mitteleuropa (zu Lasten Frankreichs und Belgiens) und die Gewinnung von Lebensraum im Osten (zu Lasten Russlands) hervorbringen. Um seinen Kriegszielen politisches Gewicht zu verleihen, beteiligte sich Claß 1917 an der Gründung des "Unabhängigen Ausschusses für einen deutschen Frieden" und rief gemeinsam mit Alfred von Tirpitz und Wolfgang Kapp die Vaterlandspartei ins Leben. Nach Kriegsniederlage und Novemberrevolution richtete Claß den AV mit der Bamberger Erklärung (1919) auf den Kampf gegen die Weimarer Republik aus. Der Antisemitismus wurde zum offiziellen Programmpunkt des AV, die Verbreitung der Dolchstoßlegende anvisiert und die Wiedereinführung der Monarchie gefordert. Maßgeblich beteiligt war Claß an der Gründung und Leitung des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes (DSTB), in dem sich die völkisch- antisemitischen Parteien, Vereine und Verbände des Kaiserreichs zusammen schlossen. Nach seiner Verstrickung in den Rathenau- Mord wurde der DSTB 1922 verboten. Seine Mitglieder sammelten sich in NSDAP und SA. Claß wirkte in der Weimarer Republik eher im Hintergrund über seinen Einfluss in völkischen Zirkeln und in der national gesinnten Presse. Er war seit 1917 Inhaber der "Deutschen Zeitung", die die Interessen des AV und des Bundes der Landwirte (ab 1921 Reichslandbund) vertrat. Claß unterstützte den Kapp- Putsch (1920), den Hitler- Putsch (1923) und das Volksbegehren gegen den Young- Plan (1929). Erwar am Zustandekommen der "Harzburger Front" (1931) und am Sturz der Regierung Heinrich Brünings beteiligt. Mit Adolf Hitler stand Claß 1920-23 in engem Kontakt. Sein Einfluss auf die Nationalsozialisten schwand allerdings, nachdem die NSDAP sich zunehmend von ihren Wurzeln in der völkischen Bewegung distanzierte und sich in den 1930er Jahren zur Massenpartei entwickelte. Stattdessen förderte Claß nun den Medienunternehmer Alfred Hugenberg (1865- 1951), der Mitgründer und bis 1903 Vorstandsmitglied des AV gewesen war. Hugenberg übernahm 1928 den Vorsitz der DNVP, führte die Partei auf einen republikfeindlichen Kurs und 1933 in die Regierungskoalition mit der NSDAP. Nach der Machtergreifung Hitlers wurde Claß Mitglied im gleichgeschalteten Reichstag. In die NSDAP ist er, soweit bekannt, nicht eingetreten. Der AV bestand im "Dritten Reich" zunächst weiter, bis er 1939 zur Selbstauflösung genötigt wurde, weil der Nationalsozialismus mittlerweile alle Verbandsziele verwirklicht habe. Claß hat sich seitdem offenbar nicht mehr politisch betätigt. Über seinen Werdegang nach 1945 ist nichts bekannt. Er starb 1953 in Jena, wo er bei seiner Tochter lebte.   

Werke

  • [Einhard], Deutsche Geschichte, Leipzig 1909.
  • West- Marokko deutsch! München 1911.
  • [Daniel Frymann], Wenn ich der Kaiser wär. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, Leipzig 1912.
  • Denkschrift betreffend der national-, wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele des deutschen Volkes im gegenwärtigen Kriege, München 1914.
  • Zum deutschen Kriegsziel, München 1917.
  • Wider den Strom. Vom Werden und Wachsen der nationalen Opposition im alten Reich, Leipzig 1932.

Nachweise

Verfasser: Thomas Graefe

Literatur:

  • Chickering, Roger, We Men who feel most German. A cultural study of the Pan- German League 1886- 1914, Boston 1984.
  • Conze, Werner, Heinrich Claß, in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 263
  • Eley, Geoff, Reshaping the German Right. Radical Nationalism and Political Change after Bismarck, New Haven 1980.
  • Erbar, Ralph, Dr. Heinrich Claß (1868-1953) - ein Wegbereiter des Nationalsozialismus? In: Hans-Georg Meyer/ Hans Berkessel (Hg.), Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz, Bd. 1, Mainz 2000, S. 41-49.
  • Hartwig, Edgar, Alldeutscher Verband (ADV) 1891- 1939, in: Dieter Fricke (Hg.), Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien und anderer bürgerlicher Interessenorganisationen vom Vormärz bis zum Jahre 1945, Bd.1, Leipzig 1968, S. 1-26.
  • Hering, Rainer, Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1939, Hamburg 2003.
  • Könnemann, Erwin, Umsturzpläne der Alldeutschen im Jahre 1919 und ihre Haltung zum Kapp- Putsch im März 1920, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 38 (1990), S. 438-447.
  • Leicht, Johannes, Alldeutsch - vielleicht alljüdisch? Rassistische und antisemitische Semantiken in der Agitation des Alldeutschen Verbandes in den Jahren 1891 bis 1919, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 13 (2004), S. 111-137.
  • Peters, Michael, Der Alldeutsche Verband am Vorabend des Ersten Weltkrieges (1908- 1914). Ein Beitrag zur Geschichte des völkischen Nationalismus im spätwilhelminischen Deutschland, Frankfurt a.M. 1992.
  • Petzold, Joachim, Claß und Hitler. Über die Förderung der frühen Nazibewegung durch den Alldeutschen Verband und dessen Einfluss auf die nazistische Ideologie, in: Jahrbuch für Geschichte 21 (1980), S. 247-288.
  • Walkenhorst, Peter, Nation - Volk - Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890- 1914, Göttingen 2007.