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Sebastian Walter: Pionier des Emaillierhandwerks in Amerika und Wohltäter seiner Heimatgemeinde

von Helmut Schmahl

Zu den Wahrzeichen der südlich von Alzey gelegenen Gemeinde Ober-Flörsheim gehört das Denkmal für die Veteranen des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 vor dem Rathaus. Aufgrund seiner exponierten Lage vor dem Rathaus an der viel befahrenen Bundesstraße 271 halten immer wieder Durchreisende an und lesen die Inschriften. Auch im deutschen und französischen Fernsehen war das Denkmal schon mehrmals zu sehen.

In den Dörfern Rheinhessen finden sich nur wenige Kriegerdenkmäler, die so aufwendig gestaltet sind wie das Ober-Flörsheimer Monument, das von der überlebensgroßen Metallfigur eines Kriegers geziert ist. Es wäre jedoch falsch, hieraus zu schließen, dass die Spendenbereitschaft der Bewohner Ober-Flörsheimer ausgeprägter gewesen sei als anderswo im wilhelminischen Deutschland. Eine am Sockel angebrachte Tafel verrät, wer den Bau des Ober-Flörsheimer Denkmals „aus Liebe und Dankbarkeit“ ermöglichte: Sebastian Walter aus Milwaukee/Wisconsin. Der Sponsor war ein ehemaliger Ober-Flörsheimer, der als Fabrikant in den Vereinigten Staaten zu großem Wohlstand gelangt war. Er verkörperte somit für die Bewohner seiner Heimatgemeinde das landläufige Bild des ‚reichen Onkels aus Amerika', die unter den vier Millionen deutschen USA-Auswanderern des 19. Jahrhunderts dünn gesät waren.

Sebastian Walter wurde am 29. März 1848 in der 1200 Einwohner zählenden Gemeinde Ober-Flörsheim als Sohn des Taglöhners Peter Sebastian Walter und dessen Ehefrau Eva Katharina Ebling geboren. Nachdem er eine mehrjährige Lehre als Spengler (Klempner) in Alzey absolviert hatte, wanderte der 17jährige 1866 zu Verwandten nach Milwaukee aus. Sein Vater begründete das Vorhaben seines Sohnes damit, dass „derselbe als Spengler sich alda naturalisiren wolle und für sein Leben eine bessere Existenz finden wird als in Deutschland“. Sebastian reiste auf dem Schiff Atlantic, das am 9. April 1866 von Bremerhaven kommend den Hafen von New York erreichte. Nach seiner Weiterreise in den Westen arbeitete er zunächst in einer Eisenwarenhandlung und wohnte bei seiner Tante. 1874 heiratete er Henrietta Harzbecker, die Tochter eines aus Sachsen eingewanderten Maurers.

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In der von deutschen Einwanderern geprägten jungen Stadt entwickelte sich seit dem Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges, also um die Zeit der Ankunft Sebastian Walters, aus bescheidenen Anfängen heraus eine bedeutende eisenverarbeitende Industrie. Nachdem Walter in zwei Spenglerbetrieben gearbeitet hatte, traf er die Brüder Ferdinand A. W. und William Kieckhefer, die Besitzer einer Eisenwarenhandlung waren und 1880 die Kieckhefer Brothers Company gegründet hatten. Die Firma stellte Blechgeschirr und Eisenblech her. Walter war zunächst Vorarbeiter und bald Teilhaber. Man begann die Produktion auf drei Stockwerken eines angemieteten Hauses. Die Brüder Kieckhefer und Walter investierten ihren anfänglich bescheidenen Gewinn in Pressen und Stanzmaschinen, welche die Produkte teilweise so formten, dass die rund vierzig Beschäftigten sie nur noch von Hand zusammenlöten mussten. Zwei Jahre später erbauten die Firmeninhaber ein eigenes dreistöckiges Fabrikgebäude, das kurz danach um einen vierstöckigen Anbau erweitert wurde. 1886 beschäftigte die Firma ungefähr 200 Arbeiter und hatte Aktien im Wert von etwa 100.000 Dollar ausgegeben. Damals umfasste das Angebot neben emailliertem Blechgeschirr auch Bratpfannen und Abflussrohre. Der Jahresumsatz betrug über 300.000 Dollar, der Absatzmarkt erstreckte sich damals bereits über fast alle Staaten Nordamerikas.

Die Brüder Kieckhofer und Sebastian Walter führten einige Neuerungen in der Herstellung von emailliertem Geschirr ein, die sich bald landesweit durchsetzten. 1890 ließ Walter sich eine Erfindung, die jacketed can, patentieren. Es handelte sich dabei um eine aus Blech, Holz und mehreren Riemen gefertigte Schutzhülle für Ölkannen.

Zu dieser Zeit erwies sich die Produktionsstätte der expandierenden Firma wieder als zu klein, und man errichtete einen Gebäudekomplex mit fast 40.000 Quadratmetern Arbeitsfläche, dessen Front sich über 180 Meter an der St. Paul Avenue hinzog. 950 Menschen fanden jetzt Arbeit. Eine Brücke über die Schienen einer Eisenbahnlinie hinweg verband die Emaillier- und Galvanisierungsabteilung mit den restlichen Werkhallen. 1895 betrug der Jahresumsatz eine halbe Million und das Geschäftskapital eine Million Dollar. Zwischenzeitlich hatte man sich auf die Herstellung von Haushaltswaren spezialisiert. Werkstoffe waren neben Eisenblech nun auch Kupfer, Messing und Stahl. Absatzgebiet für die emaillierten Produkte wie etwa Brotdosen, Dampfkessel, Kochgeschirr, Tee- und Kaffeekannen, Schöpfkellen und Messbecher war vor allem der amerikanische Westen, dessen Bevölkerung überdurchschnittlich gewachsen war. Vertretungen hatte die Firma in den pazifischen Küstenstädten San Francisco und Portland sowie in Denver. Auch im 100 Kilometer südlich von Milwaukee gelegenen Chicago unterhielt man ein sechsstöckiges Auslieferungslager für den dortigen Handel.

1899 ging die Kieckhefer Brothers Company in der National Enameling & Stamping Company auf, ein Konzern, der damals der größte eisenblechverarbeitende Betrieb der Welt war. Sebastian Walter, dessen Aufgabe als superintendent officer die Aufsicht über die Produktion gewesen war, verkaufte nun für eine Million Dollar seinen Anteil an der Firma und zog sich aus dem Geschäftsleben zurück. Er war jetzt nur noch stiller Teilhaber der Schoen & Walter Trunk Company. Einen Teil seines Vermögens legte er in Grundstücken in der Stadt an, die 1890 bereits mehr als 200.000 Einwohner zählte. Das Interesse des kinderlosen Mannes – fünf Kinder waren tot zur Welt gekommen oder starben früh - galt von nun an dem öffentlichen Leben und seiner alten Heimat.

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Sebastian Walters ausgeprägter Bürgersinn, sein Ansehen und sein Einfluss als erfolgreicher Geschäftsmann hatten zur Folge, dass er einige öffentliche Ämter in Milwaukee bekleidete. Er gehörte der Partei der Republikaner an und war zeitweise als deren Kandidat für das Amt des Bürgermeisters im Gespräch. 1892 war Walter Mitglied der Schulbehörde, 1902 wurde er Stadtrat (alderman) des twenty third ward, eines Stadtbezirks im Süden Milwaukees. Diese Funktion hatte er zehn Jahre inne, zeitweise gehörte er zur Spitze der republikanischen Minderheit im Stadtrat. Daneben betätigte er sich in mehreren karitativen Organisationen.


Sebastian Walter war einer der wenigen Ober-Flörsheimer Auswanderer, die den Kontakt zur alten Heimat nicht abreißen ließen. Er und seine Geschwister unterstützten finanziell die Eltern, und er besuchte sechsmal seinen Geburtsort. Bei seinen Aufenthalten erwies er sich als großer Gönner seiner Heimatgemeinde. Am 30. Juni 1901 enthüllte er vor dem Rathaus das von ihm gestiftete Denkmal für die Teilnehmer des Deutsch-Französischen Krieges, neun Jahre später rief er eine soziale Stiftung ins Leben. Unter dem Namen Sebastian-Walter-Schenkung vermachte der Fabrikant der Gemeinde Ober-Flörsheim ein Kapital von 10.000 Mark, dessen Zinsen vom Ortsvorstand jährlich aufgeteilt werden sollten. Der größte Teil, bis zu 100 Mark jährlich, war der Krankenschwesterstation des Dorfes zugedacht. Bis zu 70 Mark sollten für die Unterstützung hilfsbedürftiger Kinder der Kleinkinderschule verwendet werden, bis zu 20 Mark waren für die Anschaffung von Schulbüchern armer Kinder bestimmt. Weitere 30 Mark sollten für die Verteilung von Brezeln für die Kinder am Geburtstag des Stifters dienen. Bis zu 25 Mark im Jahr waren für die Unterhaltung und Reinigung des Kriegerdenkmals und der Anlage vorgesehen und weitere 20 Mark zur Pflege der Gräber von Walters Eltern auf dem Friedhof. Mit dem Rest der Zinsen sollten hilfsbedürftige Bewohner des Dorfes unterstützt und ein Reservefonds gebildet werden.

Bei seinem letzten Besuch in seiner alten Heimat wurde Sebastian Walter vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs überrascht. Nach seiner Rückkehr gab er der deutschamerikanischen Zeitung Germania Herold unter dem Titel „Deutschland wird Sieger bleiben. Das ist Sebastian Walters feste Ansicht“ ein Interview. Wie die große Mehrzahl der Deutschamerikaner Milwaukees stand er beim Kriegsausbruch hinter Deutschland und kritisierte die amerikanische Presse wegen der ihrer Meinung nach einseitigen, pro-britischen Berichterstattung. Der Kriegseintritt der USA am 6. April 1917 war ein traumatisches Ereignis für die deutschstämmige Mehrheit Milwaukees. Das Parlament von Wisconsin sprach sich noch eine Woche später gegen den Krieg mit Deutschland aus, aber beim Ausbruch offener antideutscher Ressentiments zogen die Deutschamerikaner des Staates es vor, ihre Loyalität zu den Vereinigten Staaten zu bekunden. Auch Sebastian Walter passte sich der neuen Lage an. Er stiftete der Stadt einen Fahnenmast für den Mitchell Park. Dieser kostete die stattliche Summe von 7000 Dollar.

Das deutsche Kulturleben Milwaukees kam zum Erliegen. Der Deutsche Club der Stadt wurde in Wisconsin Club umbenannt, das Pabst Theater setzte alle deutschen Bühnenwerke aus. Der Deutschunterricht in den Volksschulen wurde stark eingeschränkt und im Juni 1919 eingestellt. Am Ende des Krieges lernten nur noch 400 Schüler in der über 400.000 Einwohner zählenden Stadt die Sprache ihrer Vorfahren. Nachdem seit der Jahrhundertwende die deutsche Einwanderung weitgehend versiegt war, hatte sich die Zahl der am Deutschunterricht teilnehmenden Kinder landesweit verringert, ebenso sanken die Auflagen der deutschsprachigen Zeitungen. Der Erste Weltkrieg war somit für die deutsche Bevölkerung kein abrupter Bruch mit der Vergangenheit, sondern die starke Beschleunigung eines Verfallsprozesses, der schon vor längerer Zeit begonnen hatte.

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Sebastian Walter starb am Abend des 23. August 1922 in seinem Haus in der National Avenue im Alter von vierundsiebzig Jahren an einem Schlaganfall. Alle Tageszeitungen Milwaukees widmeten ihm ausführliche Nachrufe auf den Titelseiten. Bemerkenswert war insbesondere die Charakterisierung der sozialistischen Zeitung Milwaukee Leader, es sei eine der liebsten Beschäftigungen Walters gewesen, von Armut und Not betroffenen Menschen zu helfen.

Am 26. August 1922 wurde der Industrielle, der als unbemittelter Spengler nach Amerika gekommen war, auf dem Forest-Home-Friedhof begraben. Seine Frau Henrietta überlebte ihn um zwanzig Jahre und starb am 10. Oktober 1942. Sie wurde an der Seite ihres Mannes beerdigt. Walters 1892 erbautes Wohnhaus steht nicht mehr, das Grab der Eheleute mit dem vier Meter hohen Denkmal ist noch vorhanden. Walters Ober-Flörsheimer Stiftung wurde durch die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg weitgehend wertlos. Dennoch ist der erfolgreiche Auswanderer und Ehrenbürger der Gemeinde bis heute in der lokalen Erinnerungskultur präsent. Der Platz vor dem Rathaus wurde noch vor dem Ersten Weltkrieg nach ihm benannt. Das von ihm gestiftete Denkmal steht heute nicht mehr für einen lange vergangenen und in seinen Langzeitfolgen fatalen „glorreichen Feldzug“, sondern zum Andenken daran, dass einst hunderte von unbemittelten Dorfbewohnern in die Neue Welt aufbrachen und zumindest einer von ihnen es zu beträchtlichem Wohlstand brachten.

Verwendete Literatur

  • Schmahl, Helmut: „... denn in Deutschland ist ja kein Glück mehr zu hoffen...“ Zur Lebensgeschichte der Familie Walter in Ober-Flörsheim und Milwaukee, USA. In: Alzeyer Geschichtsblätter 26 (1992), S. 36-64.
  • Ders:. Das Ober-Flörsheimer Kriegerdenkmal und sein deutschamerikanischer Stifter Sebastian Walter. Kirchheimbolanden 1901 (Ober-Flörsheim einst und jetzt, 1) (dort weitere Hinweise zu deutschen und vor allem amerikanischen Quellen und Veröffentlichungen).

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Verfasser: Helmut Schmahl

Redaktionelle Bearbeitung: Dominik Kasper