Mittelrhein

Johann "Jean" Moritz: Ein Mainzer im Banne Napoleons

Ein Mainzer in Napoleons Diensten : das Leben von Johann "Jean" Moritz 1785 - 1837 ; nach Originalaufzeichnungen und Briefen aus den napoleonischen Kriegen von 1805 bis 1814 und der Zeit danach, für Mainz einzigartige persönliche Dokumente als Zeugnis eines zeitgenössischen Schicksals / aktuell übertragen, redigiert und mit Hintergrundinformationen in lokale und zeitgeschichtliche Zusammenhänge gestellt von Eva und Helmut Lehr. Bodenheim : Bonewitz Communication, 2006, 112 S., Kt., ISBN: 3-00-020243-9.

So ungeschickt überkleistert der Titel sich liest, so  sind hier seltene historische Dokumente von höchstem Wert ediert. Diese Selbstzeugnisse eines Mainzer Schiffsmeisters (das entspricht in etwa einem heutigen Partikulier), der als Pontonnier zur Armee eingezogen wurde und viele Napoleonische Kampagnen mitmachte, auch den katastrophalen Russlandfeldzug, wo er sich nicht nur beim Übergang über die Beresina auszeichnete und auch ausgezeichnet wurde als Ritter der Ehrenlegion. Sein Bericht über den katastrophalen  Rückzug, den er nach unsäglichen Leiden und Erlebnissen glücklich überstand als einer der gerade 30.000 von etwa einer halben Million Sol-daten. Er wurde – in keiner anderen Armee wäre das damals möglich gewesen – zum Offizier befördert, nahm nach Napoleons Abdankung seinen Abschied aus der Armee, wurde nach einem unglücklichen Versuch, sich selbständig zu machen, als Brücken- meister für die Schiffsbrücke in seiner Heimatstadt angestellt. Er wurde 1833 Mitgründer des Mainzr Veteranenvereins, der Vorbild für erstaunlich viele andere wurde, vor allem in Rhein- hessen und der Pfalz, und der ein Denkmal den Gefallenen und den bereits gestorbenen Veteranen setzte, „zugleich der dankbaren Erinnerung an den unsterblichen Helden, der uns so oft zum Kampf und zum Siege geführt hat“. Diesen in den autobio-graphischen Papieren nicht berichteten Lebensabschnitt haben die Herausgeber dokumentiert, wenn auch aus einem anachronistischen Pazifismus heraus voll Unverständnis, das freilich durch ein sehr ausgewogenes Vorwort von Franz Dumont zurechtgerückt wird. Das „Tagebuch“ ist zwar keines, sondern eine 1827 verfasste Lebenserinnerung „Zum Andenken seiner ihm werthen Kinder“, während die erhaltenen Briefe die Erlebnisse unmittelbar widerspiegeln. Aus ihnen wird auch deutlich, welch großer Teil der Korrespondenz nicht erhalten ist, und dass es selbst im katastrophalen Rückzug aus Moskau noch eine funktionierende Feldpost gegeben haben muss. Erstaunlich auch das sprachliche und schriftliche Niveau, sowohl deutsch wie französisch. Umsomehr verwundern einige Lesefehler: compagnie statt campagne, Ackerplatz statt Ankerplatz usw. S. 67 ist ein Facsimile abgebildet: Jena statt Gena ist sachlich richtig transkribiert, aber „bey dreysig Tausend Menschen lagen da verkrüppelt oder tot“ wird verfälscht zu „Fünfzig Tausend…“
Recherchen im Militärarchiv in Vincennes könnten gewiss noch Auskünfte über Moritz, der sich sowohl Johann wie Jean nannte, und über die wichtigsten der von ihm erwähnten Kameraden liefern. Noch leichter wären in Mainz und Straßburg genealogische Auskünfte zu finden. Der „Stammbaum“ auf S. 111 ist keiner, sondern eine rudimentäre Ahnentafel der Herausgeber, von denen eine Linie zu dem erstaunlichen Verfassser dieser fast einmaligen Aufzeichnungen führt. Deren Quellenwert ist nicht nur für alle Geschichtsbetrachtung „von unten“ immens, ihre Lektüre ist spannend und lehrreich. Nicht alle, aber doch manche unserer Altvordern durchliefen ein ähnlich bewegtes Leben, nur wenige haben es derart respektheischend reflektiert, und das meiste davon ging durch die Ungunst der Zeiten oder das Unverständnis der Nachfahren verloren. Wer immer solche Dokumente besitzt oder erreichen kann, möge wie hier die Herausgeber alles daran setzen, sie zu erhalten und herauszugeben.
Übrigens: Die Ausstattung des schön gestalteten Büchleins mit seinen vielen klug gewählten Illustrationen macht dem Gegenstand und der Gutenbergstadt alle Ehre.