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Elisabeth Langgässers „Reise in die kalte Fassenacht“ und der Mainzer Dom

von Hans Berkessel

Der literarische Bericht ihrer Reise nach Mainz im Frühjahr 1947, mit dem Elisabeth Langgässer ihr erstes Wiedersehen mit der rheinhessischen Heimat nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Diktatur feierte, wurde zuerst in der Berliner Zeitung "Der Tagesspiegel" am 16. März 1947 und dann im Mainz-Heft (3/1949) der legendären Merian-Hefte des Hamburger Verlags Hoffmann & Campe veröffentlicht.
Wir dokumentieren im Folgenden Auszüge aus diesem Text, der den Mainzer Dom inmitten der Trümmerlandschaft des zerstörten Mainz als Symbol der Hoffnung imaginiert.

Kalte Reise in die Fassenacht

[...] Doch muß man geschieden sein, Jahr um Jahr, von der süßen dionysischen Heimat, um den unbegreiflichen Stoß zu ermessen, den das Herz erduldet, wenn Auge und Herz, als ob sie beide das gleiche Organ und nur in ihren Funktionen leicht unterschieden wären, wieder den ersten Rebstock erblicken; nicht erblicken, sondern assimilieren; wahrnehmen, wahrmachen in der Tiefe einer gültigen Wirklichkeit.
Hier ist die Grenze, hier fährt die Klinge zwischen Osten und Westen hindurch. Was ist ein Rebstock im Frühling und im Sommer? Eine Versprechung. Was ist er im Herbst? Ein kultischer Gebrauch. Aber hier war Winter, und dieser Rebstock, den der Fremdling als ersten wieder erblickte, war weiter nichts als ein krummes Stück Holz; ein unendlich zähes, sehr dunkles Holz; eine heilige Schlange, aufgebäumt über der frostigen Erde mit zorniger Geduld. Ein Rebstock, vereinzelt wie dieser, ist nichts; eine Zeile von Rebstöcken ist schon mehr. Aber erst der Wingert, die Wingerte in ihrem Auf und Nieder -- ! Nur wer die Monotonie erfaßt hat, weiß um die Größe archaischer Götter, die Größe der Fuge, die Größe einfacher dorischer Säulen, die Größe der Geduld. Und nur im Winter entblößt der Weinberg sein inneres Gesetz, seine eigentümliche Schönheit, die ebenso Schönheit der Form, wie Schönheit des Rhythmus' ist. Er beginnt zu tönen wie Notenköpfe auf einer Partitur; anzuschwellen und abzusteigen, die gemauerten Treppchen herauf und herunter bis an den Himmel und an die Erde und wieder zum Himmel zurück. Der Fremdling, der Heimgekehrte, der Zonenwanderer träumt von ihm, wenn er die Augen schließt; er läßt sich wiegen von seiner Bewegung und beruhigen von seiner Ruhe. Er glaubt dem alten Onkel Sebastian, der die Pfeife im Mundwinkel hin und her rückt, ihn unter der starren Bürste der schlohweißen Haare mit knallblauen Augen anblitzt und erklärt, daß der Frost seinen Reben nicht schade: "Nur das Eis, wenn es taut und sich dann von neuem auf dem Rebenholz niederschlägt, um wieder einzufrieren, schadet den Reben. Aber bis jetzt - - !"
Und dann trinken sie. 45er Domthal, der noch einen leisen, mostigen Nachgeschmack hat, und erst in weitern fünf, sechs Jahren zu voller Entfaltung kommt. Fünf, sechs Jahre denkt da der Gast bekümmert und betrachtet die beiden Alten: das gute versorgte Gesicht der Tante mit den schönen nachtschwarzen Augen, die von feinem Spinnweb umzogen sind wie die besten, die ganz versteckten Flaschen im hintersten Kellerwinkel. "Ja, weißt du", der Alte lächelte jetzt, und dieses Lächeln fliegt über ihn wie der erste flüchtige Sonnenstrahl über den eisgrauen Rhein, und macht den kleinen verschmitzten Buben, der er vor sechzig Jahren einmal gewesen ist, sichtbar, "die meisten Weinbauern haben natürlich noch ein paar unangemeldete Stücke in ihrem Keller liegen oder in ihrer Scheune, wo niemand sie vermutet – und ein Fläschchen am Tag, du lieber Himmel, steht uns ja sowieso zu."
Nun weiß es der Fremdling. Die Rebe erfriert nicht unter dem strengen Nachtfrost, der Weinbauer schlägt seinen Rockkragen hoch und zieht den Stuhl zu dem Herd in der Küche, wo hinter dem Glas der Küchenbuffets die feinen, alten Goldtassen stehen, die Erinnerungstassen an Hochzeiten, Taufen, gute und schlechte Jahre. Auf und nieder. Der Weinberg muß warten können auf seine besonderen Jahre; der Weinbauer lebt von der Hoffnung und der Erinnerung…
Zwischen dem Hoffen und Harren, das manchen zum Narren macht, wie man sagt, liegt die heilige Fassenacht. "Nach den Feiertagen bleibt das Geschäft zwei Tage lang geschlossen", bemerkt die kleine Friseuse in Mainz, und: "Wieso Feiertage?" fragt der perplexe Gast. Ach so, - die Fastnacht besinnt er sich, indem er zum Rheinufer geht.

Zerstörte Anmut: kein Capitol mutet antiker an, kein Tempel zierlicher, keine Fassade hat größere Gewalt. Aber wenn andere Städte im Reich, moderne Großstädte [...] nichts weiter sind als schlechthin zerstört - mächtige Zahnstümpfe ihre Ruinen, geöffnete Mäuler alter Amphibien und zerbrochene Wirbelsäulen - gewinnt sich die Würde und die Bedeutung, das menschliche Maß und die geistige Freiheit einer römisch-barocken Stadt wie dieser erst in dem Untergang ganz zurück; sie legt noch einmal ihr Fundament und den Kern, aus dem sie gewachsen ist, bloß; das Organische und das Lapidare; das Samenkorn und den Stein. Wie klar die geschwungenen, leeren Giebel gegen den Himmel stehen, wie leicht die ausgefensterten Wände, die ohne Hintergrund sind! Hier ist ein zartes Blattornament und dort ein lieblicher Fries erhalten, und wenn der Fluß über Steine klettert, ist es, als ob er ein Quellchen freilegt, einen Obulus aus der Tiefe des Grabes, das Lächeln der Penaten. In diesen Ruinen, scheint nichts mehr zu leben außer Traum und Erinnerung. Eine sehr tiefe und unzerstörte, steingewordene: flache Ziegel, welche in ausgemauerten Bögen nach Art der römischen Aquädukte den Weg oder Unweg begleiten. Welche Kraft! Entblößt wie die Kraft von Riesen und gleichzeitig niedergestürzt und besiegt wie das alte Gigantengeschlecht. Wie wird es hier aussehen, wenn der Mond seinen verzauberten Schein ausgießt, das lunarische Licht der Hekate? Wenn im Frühling das Gräberfeld Gras und Unkraut, das blaue Leberblümchen, den Gauchheil und die flache Rosette des Wegerichs austreibt, und ein Schneckenhaus wie vergessen an einer Säule klebt, um noch einmal in seiner Fadenspirale den Schwung der Voluten nachzuzeichnen: süßer und kräftiger als die Zeichnung eines Rodin, wenn sein Griffel über das Skizzenblatt geht, um ein Basrelief festzuhalten.
 
Und über all dem der Dom! Der Dom! Mutter und Grabmonument in einem: beide mit Nachkommenschaft für die Zeit und Nachkommenschaft für die Ewigkeit bis in ferne Tage erfüllt. Wenn nichts mehr wäre außer dem Dom, so könnte man, denkt der einsame Mensch, der über die Trümmer klettert, die ganze Stadt aus dem Anblick des Domes wieder von neuem erbauen; dieser Dom, dieser steinerne Schoß der Gottheit würde sie wieder gebären; und wenn von dem Dom selbst gar nichts mehr stünde als die Fundamente des Ostchors, so  könnte sich aus ihrem Gefels der ganze Dom in die Höhe atmen und mit dem Dom die zerstörte Stadt samt den anderen Gotteshäusern, dem Kurfürstlichen Schloß und dem Deutschhaus und den köstlichen Adelshöfen. Doch wird man sie nicht restaurieren – nein. Man wird sie transzendieren: die perlmutternen Seifenblasen der Rokokotürme St. Peters und die strenge und zarte Gotik der Karmeliterkirche; transzendieren in unvergleichlich reale-re Bezirke als diese, in welche die Bomben fielen. Wo die Wurzeln nicht zerstört worden sind, schlägt ein vom Blitzstrahl getroffener Baum aus der Kraft seiner Wurzeln aus: junge Sprößlinge von der gleichen Art, junge Nadeln, junges Laub.
Träumt der Fremde oder steigen Eroten aus zersprungenen Kellern empor, treten sie aus den gemauerten Nischen und klettern sie wie gespenstische Vögel an hängenden Luftwurzeln auf und ab-farbig und fallterhaft? Kleine Rokokoherren in roten, verschossenen Samtjackettchen und brüchigen Spitzenmanschetten, weißen Lederschuhen auf hohen Stöckeln, einen Stoßdegen an der Seite und in dem gleichen Format die winzigen Hofdamen, Hofnärrchen, Zwerge in gewürfelten Clownsanzügen mit selbstgemachten Pritschen, taumeln wie trunken dahin. Sie sind heiß vor Lust; ihre hübschen Gesichter, die schelmischen Augen, das Purpurmäulchen, die lebendige kluge Stirn heben sich unter der Lockenperücke zu dem staunenden Fremdling auf. Sie lächeln mit ihren geschminkten Mündern; ihre hellroten Bäckchen brennen wie Feuer, die Schönheitspflästerchen auf dem Gesicht und der kohlschwarz ausgezogene Schnurrbart suchen die Maske vorzutäuschen, die es nicht mehr zu kaufen gibt; nicht für die ältere Schwester, von welcher der Lippenstift stammt, und für die jungen Burschen, die, während der Tag sich allmählich neigt, nun gleichfalls ausschwärmen: als Apachen, als Tanzstundenherrchen im Gehrock des Vaters, als Schiffer oder ganz einfach als die Verkleidung an und für sich, als die verzweifelte Lustigkeit, die lustige Verzweiflung, die Freude um jeden Preis. Trügen sie Masken, so würde ihr ohnehin schon sehr gespenstisches Treiben noch um vieles gespenstischer wirken, ihr Lachen noch schrecklicher und ihre Gesten, diese schlenkernden, losen, puppenhaften, nach weit lemurischer. So aber ist die Maske verpönt und mit der Maske der Sinn ihres Treibens: die Toten heraufzubeschwören und ihre Wiederkehr in das Leben und das Heute möglich zu machen. Diese Schöne da: ist sie nun eigentlich verkleidet oder nicht? Ihr Kostüm ist phantastisch: ein seidenes Kleid mit malvenroten Streifen, darüber ein Samtjjäckchen, kaffebrau, und Stiefelettchen aus zweierlei Leder, die den graziösen, gefesselten Fuß wie eine Woge das flüchtige Bild der Arethusa tragen. So läuft sie den Trümmerpfad ernst und gesammelt und in sich gekehrt dahin. Wer erwartet sie? Welches verborgene Schicksal greift schon um ihren Leib? Tod oder Leben, Lust oder Schmerz haben die gleiche Chance, dieses Wesens habaft zu werden. Kommt oder geht sie? Woher? Wohin? Und würde der Fremdling sie halten können, indem er sie umarmt? Jetzt ist sie verschwunden. Ein dunkles Gäßchen, das sich plötzlich hinter dem rosigen Bogen aus Sandstein aufgetan hat, hat sie eingefangen. Entzückt und verwirrt, ein umgekehrter Orpheus, folgt der fremde Gast ihren Spuren, die zweimal um die Ecke und dann einem deutenden Pfeil entlang (von wessen Bogen ist er gesprungen? Hat Eros, hat Thanatos ihn gespannt?) in ein winziges Kaffeestübchen führen, aus welchem der Wanderer Wärme und Lachen und seltsam gedämpftes Sprechen unvermutet entgegenschlägt. Obwohl alle Stühle mit Gästen besetzt sind und die Tische über und über bestellt mit groben Tassen, die Teller beladen mit bunten Torten sind, ist es eigentümlich still in dem Stübchen, still wie ein Bienenstock still ist, der mitten in dem Sommer und der wabernden Mittagshitze von dem Ein- und Ausflug der Immen summt, von dem Geläute der Honigbienen, das unaufhörlich sich hebt und senkt, und auf- und niedersteigt. Auf und nieder: die Melodie des Winzers, die Monotonie der Geduld. Auch die kleinen Eroten sind wieder da: die kindlichen Kurfürsten, Schornsteinfeger, Hofnärrchen, Rotkäppchen, Rokokodämchen, und graben den Löffel tief in das Weiß des falschen Eierschaumes und den süßen, himbeerfarbenen Obstbelag der fettlosen Fastnachtstorte. Ein kleiner Domino kommt herein und hält in der Linken die Kuchenmarken, in der Rechten das Portemonnaie. Eine Torte will er. "Ja, eine ganze, für ganze 800 Gramm." So will es die Fastnacht, so will es die Sitte in dem alten goldenen Mainz. Heute rot, morgen tot. Heute Torte und übermorgen kein Brot. Die ganze Lust und die ganze Trauer und übermorgen das graue, rieselnde Aschenkreuz…

Als der Fremdling, der Heimgekehrte, das Stübchen und sein leises Lärmen verlassen hat, und wieder den Rhein entlanggeht, spielt das Abendrot über dem Strom. Das Wasser zieht rasch und stetig dahin und trägt die Eisschollen gleichmütig weiter, die sich fester zusammenbacken. Es wird wieder kälter, auch Matheis wird heuer das Eis nicht brechen, sondern noch neues machen, Fähre um Fähre, hört man bereits, stellt ihre Tätigkeit ein. Bald wird man bei Caub und Aßmannshausen über den Rhein gehen können, aber ein Eisfest, wie jenes, von welchem die Alten erzählen, ein Fest mit Salzbretzeln, Drehorgelmännern und einem gebratenen Ochsen am Spieß auf der Mitte des zugefrorenen Stromes wird sich, solange dieses Geschlecht noch Atem hat, nicht wiederholen. Und auch die kleinen, kleinen Eroten dürften es nicht mehr erleben…

Literarisches Werk geprägt von Kindheitserfahrungen

Wie in einem Brennspiegel werden in dem hier abgedruckten Ausschnitt die frühen und nachhaltigen Prägungen gebündelt, die die Autorin seit ihrer Jugend durch die rheinhessische Hügellandschaft mit ihren charakteristischen Weinbergen und dem Rhein, dem ewig dahin fließenden Strom, der Städte und Kernregionen Rheinhessens verbindet und die unverwechselbare Landschaft des Ried hervorgebracht hat, erfahren hat.  Daneben spielte die Grunderfahrung eines tief empfundenen und gelebten Glaubens in ihrem Elternhaus für ihr weiteres Leben wie für ihr literarisches Werk eine herausragende Rolle.

Der Vater, Sohn einer alteingesessenen jüdischen Familie in Mainz, war Architekt und großherzoglicher Baurat in Alzey. Er war vom Judentum zum Katholizismus konvertiert und assimiliert; die Mutter stammte aus einer gutbürgerlich-katholischen Familie in Mainz. Hier in der rheinhessischen Kleinstadt Alzey wurde Elisabeth Langgässer am 23. Februar 1899 geboren. Hier verbrachte sie die ersten zehn Jahre ihrer Kindheit und besuchte die höhere Mädchenschule, bis die Familie nach dem Tod des Vaters nach Darmstadt übersiedelte. Am Darmstädter Victoria-Gymnasium legte sie 1918 ihr Abitur ab und bereitete sich am Lehrerinnenseminar auf den Lehrerberuf vor, den sie dann von 1921 bis zu ihrem Ausscheiden aus dem hessischen Staatsdienst (wegen der bevorstehenden Geburt ihrer unehelichen Tochter Cordelia) 1928 in Seligenstadt und Griesheim ausübte.

Im Text „Kalte Reise in die Fassenacht“ - wie in vielen ihrer Gedichte und Prosawerke von Tryptichon des Teufels (1932), Grenze: Besetztes Gebiet (1932) über Proserpina (1933) und Gang durch das Ried (1936) bis hin zu Rettung am Rhein (1938) und Das unauslöschliche Siegel (1947) - verbinden sich detaillierte metaphorisch-sinnhafte Landschaftsbeschreibungen mit naturmythischen Betrachtungen. Hinzu kommt eine geschichtsphilosophische Sicht, die geprägt vom katholischen und national eingestellten Umfeld ihrer Kindheit und Jugend, die liberalen Traditionen der Aufklärung und Französischen Revolution ablehnte, stattdessen alte matriarchalische und antike Mythen einbezog und wie viele andere die Gefahr des Nationalsozialismus anfangs unterschätzte. Der in Ludwigshafen und Worms aufgewachsene spätere Philosoph und Zeitgenosse ERNST BLOCH, der sich selbst als "Rationalist des Irrationalen" bezeichnete, hat diese über das Landsmannschaftliche hinaus gehende "Seelenverwandtschaft" in einem Brief vom 16. Januar 1934 als Reaktion auf Langgässers Proserpina so beschrieben: "Es verbindet [uns] auch eine geistige Kraft des Irrationalen, welche ungewordene Ahnung grade im Uralten hat."

Bedeutendes Werk: "Das unauslöschliche Siegel"

Ihr vielleicht wichtigstes Werk, den Roman "Das unauslöschliche Siegel", den sie schon Ende 1936, nachdem Sie vom nationalsozialistischen Regime nach Maßgabe der Nürnberger Rassegesetze als Halbjüdin mit einem Publikationsverbot belegt worden war, begonnen hatte, konnte sie daher erst 1947 veröffentlichen. Darin geht es wie in vielen anderen ihrer Werke um "die Urereignisse von Sünde, Gnade und Erlösung" (E. Langgässer), ja um nicht weniger als "das Schicksal der Welt in der Geschichte schlechthin" (H. C. KIRSCH), deren Verlauf als Teil eines göttlichen heilsgeschichtlichen Plans betrachtet wird. Diesen Roman, der wegen seines an James Joyce erinnernden Stils und des Verzichts auf eine geschlossene Handlung, von der Kritik zu den wichtigen Beispielen des modernen europäischen Experimental-Romans gerechnet wurde und die Autorin mit einem Schlag bekannt machte, hat HERMANN BROCH als "surrealistisches" aber auch "zwiespältiges" Buch bezeichnet: "Zwiespältig ist vor allem sein Verhältnis zum Katholizismus, der im Grunde sein einziges Thema ist, und der trotzdem nicht verhindern kann, daß eine Atmosphäre blasphemischer Verruchtheit über allen Vorgängen, über der ganzen äußeren und inneren Landschaft des Buches lagert." [in: Literarische Revue, H. 1/1949]. Diese "Verruchtheit", die die zeitgenössische Kritik vor allem in den erotischen Episoden des Romans und in der Darstellung einer lesbischen Liebesbeziehung oder in der Schilderung eines Bordells zu erkennen glaubte, führte zu Zerwürfnissen mit der "offiziellen Amtskirche", so dass das Buch beinahe auf den Index gesetzt worden wäre. Andererseits wird die Bedeutung des Romans für die theologische Diskussion der Nachkriegszeit u. a. durch einen Brief des Theologen HANS KÜNG vom 27.10.1957 bezeugt: "Man wird weit zurückgehen müssen, bis man einen Roman von derselben dichterischen und theologischen Kraft findet. Nur Dostojewski hat mich mit einer ähnlichen Gewalt angesprochen."

Elisabeth Langgässer, durfte sich also, in ihrer dichterischen Schaffenskraft bereits stark durch eine schwere Krankheit (Multiple Sklerose) beeinträchtigt, an der sie seit 1942 litt, berechtigte Hoffnungen machen, endlich die Anerkennung als Schriftstellerin zu erhalten, die sie als "katholische Stimme" der "Inneren Emigration" zu finden hoffte. So hielt sie eines der Hauptreferate unter dem Titel "Schriftsteller unter der Hitlerdiktatur" auf dem Ersten Deutschen Schriftstellerkongress 1947 in Berlin. Dabei verurteilte sie in Kenntnis des Schicksals ihrer unehelichen Tochter Cordelia (mit dem jüdischen Staatswissenschaftler Hermann Heller) - die mit drei jüdischen Großeltern als nach NS-Kriterien als "Volljüdin" 1941 zunächst von der Familie getrennt, dann nach Theresienstadt und später nach Auschwitz deportiert wurde, die KZ-Haft überlebte und sich nach Schweden retten konnte - einerseits kompromisslos die Unverbindlichkeit der konventionellen Naturlyrik während der NS-Zeit "dieses anakreontische Tändeln mit Blumen und Blümchen über den scheußlichen, weit geöffneten, aber eben mit diesen Blümchen überdeckten Abgrund der Massengräber" [Ost und West, H. 4/1947, S. 36 - 41]. Andererseits verteidigte sie die Schriftsteller der "Inneren Emigration", die während der NS-Diktatur nicht emigriert, sondern in Deutschland geblieben waren. Hier traf Elisabeth Langgässer auch zum ersten Mal mit ihrer rheinhessischen Schriftstellerkollegin Anna Seghers zusammen, die sich über schwedische Freunde für sie nach Aufenthaltsort und Befinden Cordelias in Stockholm erkundigt hatte und im gleichen Jahr für ihren bereits international erfolgreichen Roman Das siebte Kreuz mit dem Georg-Büchner-Preis der Stadt Darmstadt ausgezeichnet wurde, den Elisabeth Langgässer erst posthum nach ihrem frühen Tod im Jahr 1950 erhielt.

Mit letzter Kraft...

Ihr letztes Buch, den Roman "Märkische Argonautenfahrt" (1950), hatte Elisabeth Langgässer, der immer schneller fortschreitenden Krankheit buchstäblich abgetrotzt: "[...] die 'Märkische Argonautenfahrt' ist gestern fertig geworden. Das letzte Kapitel habe ich auf dem Rücken geschrieben - vollkommen erledigt und total knock out." [Brief an Cordelia Edvardson am 7. Juni 1950]. Sie war inzwischen mit ihrer Familie von Berlin nach Rheinzabern/Pfalz umgezogen und hatte mit der Aufnahme in das Kollegium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt im September 1949 und in die Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz im März 1950 und durch zahlreiche Lese- und Vortragsreisen weitere Anerkennung für ihr literarisches Werk erfahren. Auch dieses letzte große Werk, dessen Fabel im Kern als "christliche Parallelgeschichte zur antik-heidnischen Sage der  Argonauten" (H.C. KIRSCH) die Pilgerfahrt einer Personengruppe nach 1945 auf der Suche nach Gnade und Erlösung von (Mit-)Schuld (an der deutschen Katastrophe) beschreibt, erscheint heute merkwürdig ambivalent. Da die Autorin den Holocaust und das im Roman erkennbar verarbeitete Schicksal der eigenen Tochter in einen größeren heilsgeschichtlichen Prozess einordnet, an dessen Ende der Glaube siegt, kann zumindest der Eindruck entstehen, als ob dem grauenhaften Morden des NS-Regimes ein tieferer metaphysischer Sinn unterlegt werden könnte. Hinzu kommt, dass in diesem wie in früheren Romanen, immer wieder antijüdische Ressentiments aufbrechen, dessen Wurzeln ganz offenkundig in einem christlich-katholischen Antijudaismus zu suchen sind, der auch Elisabeth Langgässer, die Tochter eines konvertierten Juden, nachhaltig geprägt hat.
Am 25. Juli 1950 starb Elisabeth Langgässer in einem Karlsruher Krankenhaus; im gleichen wurde ihr posthum der Georg-Büchner-Preis verliehen. In ihrem gesamten Werk wird die enge Bindung an die rheinhessische Landschaft ihrer Jugendjahre deutlich. Wie stark die Sehnsucht nach dieser "als existentielle Heimat verstandenen Landschaft des Rheintals" (H. CHR. KIRSCH) auch aus der Entfernung gewesen ist, bezeugt u. a. ein Brief den sie am 5. Mai 1947 in Berlin schreibt: "Ach ich sehne mich wieder nach dem Südwesten zurück und weiß genau, dass irgendwo bei der Wurzel irgendeines zähen krummen Rebstocks meine eigene liegt."

 

Wichtige Werke Langgässers

  • Grenze: Besetztes Gebiet. Ballade eines Landes. Olten/Freiburg 1983.
  • Der Gang durch das Ried. Roman. München 1962.
  • Das Unauslöschliche Siegel. Düsseldorf 1987.
  • Proserpina. Eine Kindheitsmythe. Frankfurt/Main 1982.
  • Märkische Argonautenfahrt. [o.O] 1966.
  • ... so viel berauschende Vergänglichkeit. Briefe 1926-1950. Frankfurt/Main 1981.
  • Gedichte. Der Wendekreis des Lammes. Tierkreisgedichte. Der Laubmann und die Rose. Metamorphosen. Kölnische Elegie. Verstreute und nachgelassene Gedichte. Frankfurt/Main [u.a] 1981.
  • Briefe. 1924 bis 1950. 2 Bde. Düsseldorf 1990.

Nachweise

Verfasser: Hans Berkessel

Bearbeiter: Rebecca Mellone

Erstellt am: 07.01.2010

  • Literatur: Edvardson, Cordelia: Gebranntes Kind sucht das Feuer. München 1989.
  • Edvardson, Cordelia: Die Welt zusammenfügen. Deutsch von Jörg Scherzer und Anne-Liese Kornitzky. München 1991.
  • El-Akramy, Ursula: Wotans Rabe. Elisabeth Langgässer, ihre Tochter Cordelia und die Feuer von Auschwitz. Frankfurt/Main 1997.
  • Hetmann, Frederik: Schlafe, meine Rose. Die Lebensgeschichte der Elisabeth Langgässer. Weinheim/Basel 1986.
  • Hilzinger, Sonja: Elisabeth Langgässer. Eine Biografie. Berlin 2009.
  • Kirsch, Hans-Christian: Elisabeth Langgässer. Literatur und Landschaft. Ingelheim 2004 (Köpfe der Region Bd. 2).