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Das Oceanus Mosaik Bad Kreuznach - eine Primärquelle für römische Navigation und Kartografie?

Der Victorinus Code®, Teil 4

von Walther Krumme

Es geht darum, alles, was man darstellen möchte, lang genug zu betrachten, um darin einen Aspekt zu entdecken, der noch nie von jemandem erkannt oder ausgesprochen wurde. In allem liegt Neuland, weil wir gewohnt sind, unsere Augen nur mit Erinnerung an das zu nutzen, was vor uns über den Gegenstand unserer Betrachtung gedacht wurde. In der geringsten Sache steckt etwas Unbekanntes. Finden wir es.
Gustave Flaubert (zitiert nach: Katrin Zeug, Wie das Schreiben das Denken verändert[Anm. 1])

Meinen Kindern und Enkelkindern gewidmet

0.1.Zusammenfassung

Nach Kenntnis des Verfassers haben sich weder originale Karten noch eine bildliche Darstellung der Navigation auf See aus römischer Zeit erhalten. Ausgehend von der Bildinterpretation der Besatzung des Seeruderschiffes wird die Frage gestellt: Könnte das Oceanus Mosaik Bad Kreuznach vielleicht eine in Stein gelegte Momentaufnahme römischer Navigation zur See überliefern? Die „schielende“ Gottheit Oceanus wird als „Steuermann“ interpretiert, der gleichzeitig die Himmelsrichtung Nord und zwei Landmarken anpeilt. Aus dieser Interpretation wird eine Navigationstechnik zur Bestimmung des eigenen Standortes auf See herausgearbeitet. Das Mosaik könnte demnach eine Primärquelle zur römischen Navigation sein.

Daniel KIRSCHNER legt seine Rekonstruktion des ausgebrochenen Buges des Seeruderschiffes vor.

Die Konstruktionslinien des Mosaiks machen auch sichtbar, dass der römische Künstler VICTORINUS die Landmassen und das Meer seines Mosaikbildes auf einen Fächer von „Längengraden“, unterteilt durch „Breitengrade“, aufgelegt hatte. Er folgte damit ganz offensichtlich der Anweisung des Klaudios Ptolemaios, der in seinem „Handbuch der Geographie“ u.a. die Theorie der sog. einfachen Kegelprojektion entwarf. Damit würde das Oceanus Mosaik, das nur etwa 90 Jahre nach der Niederschrift der beiden Hauptwerke des Ptolemaios verlegt wurde, sowohl das erste Theorem (das zirkelkonstruierte Pentagon) des ersten Buches der Syntaxis Mathematica (= Almagest I, 10) als auch die sog. erste Projektion aus dem „Handbuch der Geografie“ (I, 24, 1-9) zitieren. Überliefert damit das Mosaik auch Informationen zur römischen Geographie und Kartografie?

Sollten die hier vorgelegten Thesen in der Diskussion Bestand haben, wird angeregt, den Eintrag des Oceanus Mosaiks in die Liste der Kulturdenkmäler von nationalem Rang zu prüfen.

0.2.1. Einleitung

Das Oceanus Mosaik Bad Kreuznach zeigt auf zwei Bildinseln, die je einen Natur- und einen Kunsthafen darstellen und dem Triclinium (hölzerne Rundbank in der Apsis) am nächsten liegen, logistische Abläufe  eines Übersee – Eilfrachtunternehmens. Handel wird quasi im Vorbeilaufen getrieben, im Sprint mit "wehendem Rockzipfel" wird eine Amphore auf dem Kai des Naturhafens transportiert. Ein seetüchtiges Ruderschiff in Klinkerbauweise fährt, gezogen von einem mythologischen Fabeltier, so schnell, dass trotz sturmartigem Gegenwind (achterlich überblasenes, gespanntes Tauwerk) oder Flaute (ohne Spannung herabhängendes Segel-Tauwerk) Gischt um das Heck sprüht (vgl. Abb. 4). Ein Leichter unter Segel, offensichtlich in Kraweelbeplankung gebaut, wird auf der Reede eines Kunsthafens abgebildet. Sein Dschunkensegel kann einhändig gefahren werden und entfaltet z.B. im engen Revier eines Hafenbeckens mit dicht an dicht ankernden Hochseeschiffen seine besonderen Vorteile. Kurzum: die Darstellung der Häfen und Großschiffe „atmen“ Geschwindigkeit und Effizienz. 

Könnte es sein, dass diese Darstellung einer Überseeunternehmung auch eine in Stein gelegte Momentaufnahme römischer Navigationstechnik wiedergibt? Diese Frage entzündet sich an der Darstellung der Gottheit Oceanus in der Apsis des Mosaiks. Seit der Entdeckung  des Oceanus Mosaiks durch Paul CZEPLUCH im Jahre 1966 lässt den Verfasser die Frage nicht los, warum der römische Mosaizist Victorinus diese Gottheit scheinbar schielend dargestellt hat:

Abb. 1: Kopf des Oceanus. [Bild: Matthias Luhn, entnommen aus: Hornung, Sabine: Luxus auf dem Lande. Die Römische Palastvilla von Bad Kreuznach. Bad Kreuznach 2011, S. 54.]

Es wird die These formuliert:

Der Tabubruch der Oceanus-Darstellung als „schielender Gottheit“ stellt paradoxerweise die axiomatische Grundtechnik der Navigation zur Bestimmung des eigenen Standortes auf See, der Gleichzeitigkeit der Bestimmung der Himmelsrichtung Nord und Winkelmessung zweier Peilstrahlen auf Landmarken in Bezug zur festgestellten Himmelsrichtung (Kreuzpeilung), als „göttliche Idee“ dar.

Mit dem Tabubruch der Darstellung einer „schielenden“ Gottheit und der Darstellung von Bergspitzen in der Bildinsel Naturhafen (über dem Seeruderschiff), die sich gegen alle natürlichen Gegebenheiten in Richtung Brunnen-Hexagon tief herunterneigen, weist der römische Künstler Victorinus gemäß der immanenten Logik seiner künstlerischen Ausdrucksweise auf fundamentale, quasi „göttliche“ Linienführungen hin, denen im Mosaik eine besondere Bedeutung zukommt: hier mutmaßlich der Fähigkeit zur möglichst präzisen Navigation als eine der Erfolgsgrundlagen des Geschäftsmodells des Auftraggebers. Wer auf See den Kurs seines Schiffes möglichst genau bestimmen kann, kann die Laufzeit einer Schiffsfracht durch Optimierung des Kurses verkürzen und auch sicherer machen.

Die Entdeckung der „Standlinie“ (navigatorischer Fachausdruck: der Peilstrahl der Augen vom Schiff aus auf eine Landmarke wird als Standlinie auf eine Karte übertragen), beginnend bei den Bergspitzen in der Bildinsel Naturhafen, dann punkt(!)genau durch den Stamm einer Zypresse führend, weiter entlang einer Sehne des Hexagons auf das linke Auge des Oceanus zulaufend (s. Abb. 5), erinnert an eine terrestrische Navigationstechnik:
Bevorzugt angepeilt werden dabei zwei markante Erhebungen am Horizont bei gleichzeitiger Feststellung derer Himmelsrichtung mittels Kompass. Der Schnittpunkt der auf die eingenordete Karte eingezeichneten Standlinien zeigt dann näherungsweise den eigenen Standort. Diese terrestrische Navigation wird Kreuzpeilung genannt und begründet das erste Vorverständnis.

Es wird also angenommen, dass die scheinbar schielende Augenstellung  des Oceanus die Wiedergabe einer Momentaufnahme römischer terrestrischer Navigation sein könnte: der Steuermann (= Oceanus) eines seegängigen Schiffes peilt gleichzeitig mit einem Auge entlang der Mittagslinie genau nach Norden, mit dem anderen um 30° versetzt auf eine Landmarke, um so die Position seines Schiffes auf See zu bestimmen. Abgeleitet aus dieser These wird die Frage diskutiert, ob das o.g. Mosaik auch eine Primärquelle zur römischen Kartografie sein könnte.

Der offensichtlich vielseitig gebildete römische Künstler VICTORINUS strukturiert über geometrische Raster und reichert in seiner Komposition Motive und sogar einzelne Mosaiksteine mit mehreren Deutungsebenen an: So ist das Brunnenhexagon in erster Deutungsebene der „umbilicus“ (= Nabel) zur Vermessung von Mosaikfläche und Villengrundriss. In zweiter Ebene ein mit Wasser gefülltes „Modell“ eines hexagonalen Hafenbeckens, dessen Innensehne S6 die Maße zur Konstruktion der Bildinsel Kunsthafen vorgibt. In dritter Ebene wird über das Hexagon der „Erdkreis“ in „Breitengrade“ (vgl. 2.2.) unterteilt und in vierter Ebene transportiert das Hexagon möglicherweise Informationen zu einem Navigationsinstrument. Sogar ein einziger Mosaikstein, der „Punctum Victorinii“, ist Träger mehrerer Deutungsebenen.[Anm. 2] Erkennbar wird, dass der Künstler VICTORINUS so viele Informationen wie irgend möglich in sein Mosaik integrierte, das damit mit einem „analogen Speicher“ mit „komprimierten Dateien“ zu vergleichen wäre.  So „informieren“ z.B. auch die Taue des Seeruderschiffes in nur einer Darstellung gleichzeitig über Flaute (schlaff herabhängendes Tauwerk) und sturmartigen Gegenwind (achterlich überblasenes Tauwerk). Ein Analogieschlussverfahren, das sich vergleichend nur an der Oberfläche des Mosaiks entlang tastet, entfaltet z.B. bei der Rekonstruktion des Bad Kreuznacher Gladiatorenmosaiks seine volle Berechtigung. Aber das „römisch wissenschaftliche“ Denken des Oceanus Mosaiks kann es wohl kaum „in der Tiefe“ ergründen. Und wie soll dieses mehrere Sinnebenen gleichzeitig „umkreisende“ Denken wissenschaftlich linear analytisch und dazu auch möglichst allgemeinverständlich beschrieben werden? Es soll trotzdem versucht werden, die Untersuchungsergebnisse geordnet und im Rahmen unseres heutigen Wissenschaftsverständnisses überprüfbar, vorzustellen.

Die vorgelegte Untersuchung analysiert zunächst den Befund, in einem zweiten Schritt folgt die Interpretation, einmal bezogen auf die vermeintlich festgestellte Technik der Navigation, zum anderen auf die vermeintlich festgestellten Hinweise zur Kartografie. Um das Verständnis der Materie und des Textes zu erleichtern, hat Ingenieur und Graphiker D. Kirschner die entdeckten Kompositionslinien des Künstlers Victorinus digital sichtbar gemacht. Unter 3.1. legt er seine Rekonstruktion des ausgebrochenen Buges des Seeruderschiffes vor.

0.3.2. Vorverständnis und Befund: Die Entdeckung der Kompositionslinien des Mosaizisten VICTORINUS

Die o.g. Vermutung einer Navigationstechnik (erstes Vorverständnis) leitet sich ab aus der Entdeckung des besonderen Stilmittels  der „provozierenden Schiefstände“ im Mosaik, das bereits in den veröffentlichten Untersuchungen zum Victorinus Code, Teil 1-3,  herausgearbeitet wurde. Es wird hier vorgeschlagen, dieses Stilmittel als Victorinus-Paradox zu bezeichnen. Mit offensichtlich imperfekt wirkenden Details (z.B. dem zergliederten Mast des Segelbootes) weist der Künstler paradoxerweise hin auf perfekte geometrische Linienführungen als Subtext seines Mosaiks. Zu den „Schiefständen“ gehört z.B. auch der nachgesteuerte, wie nach fehlerhafter Einmessung korrigiert wirkende Apsis Rand des Mosaiks. Auf diesen „Fehler“ lässt der Meister demonstrativ die Klauen eines Hypokampen zeigen. Dieser „Wink mit den Klauen“ führte zur Entdeckung, dass sowohl der Grundriss des Mosaiks als auch der Grundriss der Villa aus dem Hexagon des Brunnens entfaltet worden sind: Mosaik und Peristyl Villa sind messtechnisch so zu einem geometrischen Gesamtkunstwerk verwoben.

Die Künstlersignatur des Mosaiks wurde provozierend auf einer zur Grundlinie des Mosaiks schiefen Ebene ausgeführt. Diese demonstrative Missachtung von Parallelität  stört den ästhetischen Gesamteindruck. Die Untersuchung dieser künstlerischen Provokation führte zu der Entdeckung von „Längen- und Breitengraden“ im Mosaik.[Anm. 3]

Nach der inneren Logik des Mosaiks (opus tesselatum sui ipsius interpres) müsste dann auch der Schiefstand der Augen des Oceanus ein Hinweis sein auf perfekte geometrische Linienführung mit besonderer Aussagekraft: der Schiefstand des rechten Auges lässt sich als Ausgangspunkt eines um 30° abgewinkelten Peilstrahles kompositionstechnisch eindeutig erklären.

0.3.1.2.1. Die Entdeckung der Längengrade

Abb. 2: Die sichtbar gemachten Längengrade, Bearbeitung: D. Kirschner.[Bild: GDKE Mainz ]

Die Bezeichnung „Längengrade“ für ein Bündel von Radialstrahlen, die von einem Fluchtpunkt ausgehen, verdeutlicht das zweite Vorverständnis des Verfassers, der in dem Raster von „Längen- und Breitengraden“, über das das Mosaik komponiert wurde, (vgl. Abb. 9) ein künstlerisch bearbeitetes Zitat aus dem Handbuch der Geographie I, 24, 1 -29 von Klaudios Ptolemaios  sehen will, mutmaßlich die einfache Kegelprojektion.[Anm. 4] Nach Anweisung von Ptolemaios werden dabei die Meridiane als Geraden gezogen.

Zunächst ist die Entdeckung der Längengrade ein weiterer Beweis für die Einzigartigkeit dieses Mosaiks: Alle dem Verfasser bekannten römischen Mosaike haben ausschließlich  interne Messbezüge, das Bildprogramm des Oceanus Mosaik wird jedoch auch extern durch den Garten(!)mittelpunkt der Peristyl Villa strukturiert.

Der erste Längengrad (von links nach rechts gezählt) wird durch den Schiefstand des Mastes des Seeruderschiffes und einen durch eine Harpunenspitze genau bezeichneten Punkt in einer Säulen Galerie markiert. Entlang einer zum Bildrand hin auskippenden Säule eines als Tempel gedeuteten Gebäudes verläuft der zweite Längengrad. Die errechnete Spiegelachse dieses Rasters aus Radialstrahlen ist der dritte Längengrad. Er verläuft genau von Norden nach Süden, aber nicht genau auf der Spiegelachse (= Mittagslinie) des Mosaiks, sondern um drei Steine nach links versetzt. Der vierte Längengrad verläuft, spiegelbildlich zum zweiten, genau durch den Kopf des Künstlerporträts und den Stamm des Buchstabens T(ESS) der Künstlersignatur. Der Verlauf des fünften Längengrades wird durch eine große, zur Bildmitte des Mosaiks auskippende Säule mit Krater in der Bildinsel Kunsthafen angezeigt.

Damit kann trotz Verweigerung der Genehmigung durch die derzeitige Museumsleitung, das Mosaik durch zwei Ingenieure vermessen zu lassen,[Anm. 5] der Nachweis geführt werden, dass die positions- und winkeltreue Wiedereinbettung der Künstlersignatur durch spiegelbildlichen Analogieschluss mit Längengrad zwei überprüft und bestätigt werden kann, was für die Deutung der Signatur, des Künstler-Porträts und des Mosaiks von entscheidender Bedeutung ist.

Zudem wird eine erste Messung des Verfassers korrigiert, der den Verlauf des vierten Längengrades durch den „Punctum Victorinii“ anlegen wollte.[Anm. 6]

Auffällig ist, dass die Längengrade zwei und fünf durch Schiefstände an Säulen, die Längengrade eins und drei durch Mastbaum und Buchstabenstamm markiert werden. Natürliche Strukturen werden durch die Längengrade nicht formatiert. Dieser Befund wird so gedeutet, dass es sich bei dem Bündel von Radialstrahlen um eine künstliche, von Menschen erfundene Struktur handelt, auf die die Landmassen und das steinerne Meer des Mosaiks aufgelegt sind. Diese Struktur ist vom „natürlichen“ Längengrad der Mittagslinie (= Spiegelachse des Mosaiks) erkennbar unterschieden.

Das Bündel von Radialstrahlen, die sich im Mittelpunkt des Gartens der Peristyl Villa schneiden,

a.      erbringt den Nachweis der Interdependenz von Villengrundriss und Gestaltung von Motiven auf der Mosaikoberfläche: das Mosaik und der Grundriss der Villa sind zu einem geometrischen Gesamtkunstwerk verwoben,

b.      belegt die Einzigartigkeit dieses Mosaiks: Für diese, von der Architektur der Umgebung abhängige Komposition konnte es kein „Serienmusterblatt“ gegeben haben.

0.3.2.2.2. Die Entdeckung der Breitengrade

Abb. 3: Die sichtbar gemachten Breitengrade. Bearbeitung D. Kirschner.[Bild: GDKE Mainz]

Die Breitengrade im Mosaik werden durch das Brunnenhexagon definiert. Sie teilen die Mosaikoberfläche in gleich breite Streifen. Breitengrad eins und drei (von unten nach oben) sind nach links und rechts ausgezogene Sehnen S6 des Hexagons, der zweite die Spiegelachse des Hexagons, Breitengrad vier ist die Spiegelung von zwei über drei.

Die Breitengrade sind mit Positionsmarkierungen verbunden: Auf Breitengrad eins fußt eine der beiden Tauben scheinbar mitten im Meer. Zwischen das provozierende ornithologische Ärgernis zweizehiger (!) Taubenfüße positionierte der Künstler VICTORINUS den Mosaikstein, der als Fluchtpunkt eines Radialstrahlbündels die Komposition der Bildinsel Naturhafen strukturiert und damit die Flucht der auskippenden Säulen erklärt. Am zweiten Breitengrad „hängen“ die Toppmasten der Großschiffe im Mosaik, entlang dieses Breitengrades werden die einzigen Darstellungen von Schattenwürfen im Mosaik wiedergegeben. Breitengrad drei begrenzt die „Höhe“ der Küstenlinie einer Insel. Der vierte definiert die Position der Künstlersignatur.

Es fällt auf, dass der erste und vierte Breitengrad steingenau die „Höhe“ eines Messpunktes, der Breitengrad zwei die „Höhe“ von Schiffen auf See anzeigt.

Die Assoziation zu „geographischer Höhe“ veranlasste den Verfasser, diese Kompositionslinien als „Breitengrade“ zu bezeichnen.

0.4.3. Die Rekonstruktion der Komposition des Oceanus Mosaiks

Aus der bisher vorgelegten Analyse des Mosaiks kann die Reihenfolge der Einmessung der Kompositionslinien rekonstruiert werden:

Zunächst bestimmte der Künstler den genauen Mittelpunkt des Brunnenhexagons als „Urmesspunkt“  (umbilicus = Nabel) für Villengrundriss und Mosaik. Darüber zog er, vielleicht mit der Sonnenuhr bestimmt, die Mittagslinie. Im rechten Winkel dazu, den Urmesspunkt schneidend, eine Linie von Ost nach West. Über das daraus gebildete „Grundkreuz“, das die Himmelsrichtungen genau bestimmt, wurde das Brunnenhexagon gezirkelt. Daraus entfaltet sich der Grundriss des Mosaiks, der alle Informationen zum Ausmessen des Villengrundrisses enthält.[Anm. 7] Vom Mittelpunkt des real ausgemessenen Gartens der Villa wiederum wurden Messschnüre gespannt, die wie Radialstrahlen über der Mosaikoberfläche die Kippwinkel der provozierenden Schiefstände angeben. Über zwei gegenüberliegende Sehnen des Brunnenhexagons wurde  sodann ein großes gleichseitiges Dreieck ausgezogen. Zwei Seiten werden durch die Standlinien (vgl. Abb. 5) sichtbar gemacht. Die Spitze nach Süden positioniert die Stirn des Oceanus, während die Spitze nach Osten heute anzeigt, dass sich die Mosaikoberfläche hier nicht mehr im Originalzustand befinden kann. Die Technik, mit einem über den Laserscan des Originals gesteuerten Roboterarm die ausgesägten Platten steingenau zu repositionieren, stand zum Zeitpunkt der Wiedereinbettung ja noch nicht zur Verfügung). Die Mosaikoberfläche wurde weiter durch ausgezogene Sehnen S6 und die Spiegelachse des Mosaiks in gleich große Streifen unterteilt. Auf die so vorstrukturierte Fläche wurden die Pentagone der Großschiffe so eingemessen, dass

a.      ihre Masten in der Höhe durch den Breitengrad drei begrenzt,

b.      in der Neigung durch Längengrad eins (Seeruderschiff) und die Spiegelachse der Bildinsel Kunsthafen (Segelboot) definiert werden,

c.       eine ausgezogene Linie vom rechten Auge des Steuermannes des Seeruderschiffes über die Daumenspitze seiner rechten Hand und das Auge des Hypokampen den Konstruktionspunkt O des Segelschiffes genau trifft.[Anm. 8] Dieser Befund ist die Grundlage der These, dass das Mosaik eine Momentaufnahme römischer Navigation auf See wiedergeben könnte.

Wie hochelitär das Mosaik konzipiert und verlegt worden ist, zeigt der Umstand, dass der Zirkelschlag, mit dem die Sehne S5 der drei bisher festgestellten Pentagone konstruiert worden ist, immer zur Spiegelachse Süd-Nord des Mosaiks hin ausgezogen wurde. Bewiesen wird damit, dass das Mosaik ein künstlerischer Entwurf aus einer Hand ist und dass über die entdeckten Konstruktionslinien eine „mosaizistische Quellenkritik“ ermöglicht wird.

0.4.1.3.1. Daniel Kirschner, Die Rekonstruktion des Seeruderschiffes im Oceanus Mosaik Bad Kreuznach

Abb. 4: Das rekonstruierte Seeruderschiff im Oceanus Mosaik. Bearbeitung und Rekonstruktion: D. Kirschner.[Bild: GDKE Mainz]

Anhand des über den Victorinus Code rekonstruierten Musterblattes konnte die Rekonstruktion des ausgebrochenen Schiffbuges erstellt werden. Unter Verwendung von Bildbearbeitungssoftware wurden dazu die fehlenden Mosaiksteine des Schiffbuges an den ausgebrochenen Stellen durch Kopien von vorhandenen Steinchen wieder ergänzt. So wurde die Handschrift des Meisters – des ursprünglichen Mosaiklegers – bei der Rekonstruktion nachempfunden (z.B. Verlege Technik, Auswahl und Anordnung der Steine). Der Rekonstruktionsversuch aus den 1960er Jahren blieb dagegen unberücksichtigt. Diese Rekonstruktion wurde zusammen mit der Entdeckung des Victorinus Code anlässlich des 10. Römertages  am 30.04.17 im Museum für antike Schifffahrt Mainz erstmals der Öffentlichkeit durch Vortrag und Ausstellung vorgestellt. Die Ausstellung realisierten Carolin Schäfer und Lutz Luckhaupt vom Institut für Geschichtliche Landeskunde Mainz.

0.5.4. Die Interpretation der Befunde (1): Thesen zur möglichen Bedeutung des Oceanus Mosaiks als Primärquelle römischer Navigationstechnik

4.1.            Grundlage der nachfolgend zehn vorgetragenen Thesen ist die Bildinterpretation des Seeruderschiffes und seiner Besatzung: als 1. These wird hier angenommen, dass dessen Steuermann mit weit geöffnetem rechten Auge über zwei Finger der rechten Hand wie über Kimme und Korn eine Peilung an Mast und Bug entlang durchführt (s. Abb. 4). Wird dieser vermutete Peilstrahl digital sichtbar gemacht, schneidet er in Fahrtrichtung des Schiffes ausgezogen den Konstruktionsdurchmesser AOB des Segelbootes genau bei  O, das Seeruderschiff käme also am Ziel der Reise genau neben dem Segelboot zu liegen.

Abb. 5: Die sichtbar gemachten Peilstrahlen. Bearbeitung: D. Kirschner. Die Peilstrahlen, Standlinien und ein „Breitengrad“ (blau) werden digital sichtbar gemacht. Die Ziffern beziehen sich auf die Nummern im Text. [Bild: GDKE Mainz]

Der Kurs des Seeruderschiffes wird hier so angelegt, dass der Toppmast in Verlängerung backbord querab auf einen durch eine Harpune genau bezeichneten Punkt einer Säulengalerie weist. In weiter ausgreifender Verlängerung würde der Gartenmittelpunkt der Peristyl Villa, Fluchtpunkt der bildgestaltenden Radialstrahlen im Norden, getroffen (2). Die Mastspitze liegt genau auf dem Schnittpunkt dieses „Längengrades“, angezeigt durch Harpunenspitze und Säulenkolonnade, mit einem „Breitengrad“ (blau markiert), der gleichzeitig die Spiegelachse des Brunnen-Hexagons von Ost nach West ist. Dieser angenommene Breitengrad wird in These 4.7 untersucht werden. Damit würde im Mosaik nach der Künstlersignatur zum zweiten Mal ein Bildmotiv durch Schnittpunkt von „Breiten- und Längengrad“ wie eine Positionsmarkierung auf einer Karte positioniert: Der Schiefstand der Künstlersignatur und der Schiefstand des Seeruderschiffes hätten demnach eine gemeinsame Ursache. Eine Aussage des Motives „Seeruderschiff“ im Mosaik könnte dann lauten: Der Steuermann kann den Kurs schon beim Auslaufen aus dem Naturhafen im Westen so genau anlegen, dass er nach einer Fahrt über das „steinerne Mosaik-Meer“ exakt auf Reede des Kunsthafens im Osten neben das Segelboot zu liegen kommen wird (1). Peilung des Kurses, exakte Feststellung der Himmelsrichtung Nord und die eines Breitengrades erfolgen offenbar gleichzeitig. Der Toppmast eines römischen Schiffes hatte offenbar instrumentale navigatorische Bedeutung. 

Abb. 6: Mosaik mit Darstellung von Hafentätigkeit - Ostia Antica, Piazzale delle Corporazioni, in situ. Amphoren Fracht wird von einem seegängigen Schiff auf einen Leichter umgeladen. [Bild: https://arachne.dainst.org/entity/3627023?fl.de]

(Diese 2018 im Museum für antike Schifffahrt, Mainz ausgestellte Fotografie inspirierte die oben behandelte Frage, ob eine „Verbindung“ zwischen Seeruderschiff und Segelboot im Mosaik nachgewiesen werden könnte.)


4.2.            Aus der o.g. Bildinterpretation wird These 2 abgeleitet. Behauptet wird, dass die Gottheit Oceanus in der Apsis genau in der Pose des o.g. Steuermannes dargestellt ist: Die auf dem Triclinium (hölzernes, halbrundes Liegesofa) um die Rundung der Apsis lagernden Gäste und der Hausherr sahen die anthropomorphe Gestalt mit glänzender Haut aus der gleichen Perspektive wie die Ruderer des o.g. Seeruderschiffes ihren auf einem Podest stehenden Steuermann: Von ihren tiefer gelegten Ruderbänken blickten sie auf und sahen das Weiße in seinen Augäpfeln bei Durchführung der angenommenen Kreuzpeilung.

4.3.           Wenn die Gottheit Oceanus mit einem Steuermann eines römischen Hochseeschiffes gleichgesetzt werden könnte, überliefert, so die 3. These, sein „schielender“ Blick über Kreuz möglicherweise die axiomatische Grundtechnik römischer Navigation zur See: Die Gleichzeitigkeit der Bestimmung der Himmelsrichtung Nord (= Mittagslinie) (3) mit dem Anlegen zweier Peilstrahlen (4) (5) zur Durchführung der Winkelmessung mittels einer Winkelscheibe auf künstliche oder natürliche, weithin sichtbare Landmarken.                                                                                                                                    Begründung: Die Mittagslinie von Süden nach Norden entspricht exakt der Hauptachse des Mosaiks in ursprünglicher Lage. Entlang dieser Linie (3) peilt Oceanus mit (vom Triclinium aus gesehen) weit geöffnetem rechtem Auge genau über den Mittelpunkt des Brunnenhexagons. Gleichzeitig visiert das linke Auge (5) über den Rand des jetzt in vierter Deutungsebene (vgl. die vier Deutungsebenen des punctum victorinii) als Winkelscheibe zur Navigation gedeuteten Hexagons auf die Basis der Mittelsäule eines Tempeldaches, wo sich die angelegte „göttliche“ Standlinie punktgenau mit dem Peilstrahl, visiert über den Toppmast des Segelbootes, schneidet.[Anm. 9]

4.4.            Die vierte These behauptet die Unterteilung der Landmarken in künstliche und natürliche Peilmarken. Zu den drei künstlichen Marken gehören eine genau markierte Säulenbasis der Tempelkuppel im Osten (Spitze 5), das Tor (einer Marktbasilika?) bzw. das goldene Schild im Giebel der Marktbasilika(?) im Norden (Spitze 3), und ein durch eine Harpunenspitze präzise angezeigter Punkt in der Säulenkolonnade im Westen (Peilstrahl 4). Zu den drei natürlichen Peilmarken zählen die Bergspitzen (Spitze 4) über der Bildinsel Naturhafen, deren extrem unrealistischer Schiefstand die forschende Frage nach dem dadurch angezeigten Peilstrahl provoziert: er führt punkt(!)genau durch den Stamm einer Zypresse entlang der westlichen Seitenlinie des Hexagons auf das linke Auge des „Steuermannes“ Oceanus. Die dritte natürliche Peilmarke ist offensichtlich die Flucht  zweier überhängender Felsnasen in der Bildinsel Kunsthafen, über die die Standlinie (5) zur Säulenbasis der Tempelkuppel verläuft.

4.5.          Als 5. These wird formuliert: das Oceanus-Mosaik überliefert die Momentaufnahme einer terrestrischen römischen Kreuzpeilung, um den Standort eines Schiffes auf See zu bestimmen. Es würde dann dargestellt, wie der „Steuermann“ Oceanus die Himmelsrichtung Nord (3) bestimmt (um eine Seekarte einzunorden) und gleichzeitig zwei Landmarken (4) (5) anvisiert (die Bergspitze über dem Naturhafen und eine Säulenbasis unter der Tempelkuppel über dem Kunsthafen). Die zur fixierten Himmelsrichtung Nord festgestellten Winkel der Peilstrahlen können auf der „Winkelscheibe“ (= Brunnenhexagon) mit je 30°abgelesen werden. Die Kreuzpeilung wird hier modellhaft, nicht real,  wiedergegeben, da ja Natur- und Kunsthafen nach Angaben des Mosaiks durch „ein Meer“ getrennt sind.                                                     
Begründung: Erreicht die Sonne zur Mittagszeit den höchsten Punkt, zeigt der Schatten eines Gnomon (Schattenwerfender Stab der Sonnenuhr) genau nach Norden. Über diesen Schattenwurf kann eine Karte eingenordet werden. Mit Hilfe einer Winkelscheibe können die gleichzeitig zum abgelesenen Sonnenstand anvisierten Peilstrahlen auf herausragende Landmarken als Standlinien auf eine Seekarte übertragen werden. Ihr Schnittpunkt zeigt näherungsweise die Position des Schiffes auf See.

Diese Entdeckung der Peilstrahlen ist auch für die Rekonstruktion des z.T. ausgebrochenen Riesenkrebses über dem Haupt des Oceanus bedeutsam.

0.5.1.4.1. Erster Exkurs: Rekonstruktion und Deutung des Riesenkrebses

Abb. 7: Der Riesenkrebs. Bearbeitung: D. Kirschner.[Bild: GDKE Mainz]

Die Peilstrahlen lassen das gleichseitige Dreieck sichtbar werden, in dessen Mittelpunkt der Künstler diesen Riesenkrebs verortet hat. Deutlich wird, dass er wohl kaum nach der Natur abgebildet, sondern „naturähnlich“ geometrisch konstruiert wurde. Deshalb beteiligt sich der Verfasser auch nicht an Versuchen einer zoologischen Einordnung. Der Mittelpunkt des Innenkreises des Dreiecks wird durch einen kleinen Punkt genau auf der Mittagslinie des Mosaiks angezeigt, über den Victorinus auch den Ansatz der Krebsscheren konstruierte. Jetzt kann eine Theorie zur Rekonstruktion der ausgebrochenen Flächen vorgelegt werden: so wie der rechte Fühler des Krebses durch den rechten Peilstrahl begrenzt wird, wird möglicherweise sein Hinterleib durch den linken Peilstrahl begrenzt worden sein. Dieser Riesenkrebs würde damit quasi wie ein „Wappentier“ geometrisch in Beziehung zum Kopf des Oceanus gesetzt.

4.6.            Daraus wird die 6. These abgeleitet: Möglicherweise bildet das Mosaik auch die astronomische Navigation bei Nacht, sichtbar gemacht durch zwei kunstvoll in die Haarpracht des Oceanus eingearbeitete Augen des Uhus (bubo bubo) [s. Abb. 1] ab. (Die Augen sind mit den über dem Geweihansatz abgebildeten Locken identisch und am besten zu erkennen, wenn man Abb. 1 auf den Kopf stellt). Phänomenologisch exakt werden die weit geöffneten Augen bei nächtlicher Anpeilung der Beute wiedergegeben. Wie die Augen des Oceanus bei Tage, so legen auch die Augen des Uhus bei Nacht über eine Winkelscheibe Peilstrahlen an, während die Schnabelspitze zwischen den Augen ganz exakt die Süd-Nord-Linie anzeigt. Diese Darstellung wird so gedeutet, dass auch die römische Navigation bei Nacht auf der Gleichzeitigkeit der Bestimmung der Himmelsrichtung Nord und dem Ablesen von Winkeln zweier Peilstrahlen basierte. Ermittelte schon Pytheas der Seefahrer mit Hilfe eines Winkelmessers die Höhe eines Sterns beim Himmelspol über dem Horizont, um den Breitengrad zu bestimmen? [Vgl. Anm. 14]

Beachtenswert ist, dass das „Naturbild“ Uhu mit seiner Schnabelspitze die „natürliche“ Süd-Nord-Linie anzeigt, der „künstliche“ Mastbaum des Seeruderschiffes und die „künstliche“ Harpunenspitze jedoch auf den „künstlichen“ Längengrad eins einer Kegelprojektion hinweisen, der als Teil eines „künstlichen“ Kartenwerkes die Süd-Nord-Linie abbildet. [Vgl. Abb. 2]

Römische Seeleute, die speziell als Navigatoren tätig waren, erwähnt schon das erste erhaltene Seehandbuch der römischen Handelsmarine, der „Periplus Maris Erythraei, das um 60 n. Chr. entstand. Die Navigatoren waren während der gesamten Fahrt von Ägypten nach Indien und Sri Lanka auf den Schiffen anwesend.“[Anm. 10] Der Geograph Strabon von Amaseia berichtet um Christi Geburt, „... dass wohl 120 Schiffe von Myos Hormos nach Indien fuhren ...“,[Anm. 11] d.h. die Technik der Navigation bei Tag und bei Nacht ohne Landsicht über das offene Meer musste bereits zu dieser Zeit sehr ausgefeilt gewesen sein. Die Navigation bei Nacht in römischer Zeit in den Gewässern um Taprobane (Sri Lanka) überliefert Plinius d. Ä. in seiner Historia Naturalis, sechstes Buch, § 83: „... siderum in navigando ... observatio, septentrio ... cernitur...“.[Anm. 12] (FALLER übersetzt septentrio a.a.O. S. 58 mit „Großer Bär“).  Folgende Deutung wird zur Diskussion gestellt: die Navigatoren beobachteten die Bewegung von Sternbildern und einzelner Sterne (siderum) zur Bestimmung des Breitengrades, davon unterschieden angepeilt (cernitur) wurde der „Große Bär“(septentrio) zum Anlegen des Kurses.

Abb. 8: Das Pantheon in Rom. Aufnahme am 12.04.2019. Der Sonnenstrahl fällt zur Mittagsstunde durch die Kuppelöffnung genau auf das große Bronzetor. Die Beobachtung dieses Zusammenhanges führte zur Entdeckung, dass es auch im Oceanus-Mosaik einen ursprünglichen Zusammenhang zwischen einem Tor und dem Sonnenstand zur Mittagsstunde gab. [Bild: Walther Krumme]

4.7.            In einer 7. These könnten die für den Akt der Kreuzpeilung  notwendigen Instrumente und Materialien erschlossen werden:
a.      Ein Instrument zur Feststellung der Himmelsrichtung: eine römische Reisesonnenuhr (wie sie schon Pythèas verwendete) in der Funktion eines Sonnenkompasses. Das Mosaik in Originallage ist ja in der Funktion eines Mittagzeigers selbst eine Sonnenuhr gewesen: der Schatten des aufrecht stehenden Wasserrohres des Springbrunnens im Brunnenhexagon (im Original nicht erhaltenen, sondern aus einem ausgegrabenem Fragment der Druckleitung aus Blei [ausgestellt in der Römerhalle Bad Kreuznach] erschlossen) zeigte in Originallage des Mosaiks bei Sonnenhöchststand wie ein Gnomon exakt in Richtung Tor einer großen Halle (Marktbasilika?) im Norden (3 Spitze).

Im Mosaik werden auch Uhrzeiten mit in Stein gelegten Schattenwürfen angezeigt: Der Fuß des als Fragment erhaltenen Anglers in der Bildinsel Kunsthafen wirft einen langen Schlagschatten nach Westsüdwest, zeigt also die Richtung der eben aufgehenden Sonne in Ostnordost zur Zeit des Hochsommers an, dem Zeitfenster römischer Schifffahrt. Der Schatten des rechten Unterschenkels des sitzenden Verkäufers in der Bildinsel Naturhafen zeigt den Sonnenstand genau im Osten an. Ob bis zu dieser (dritten?) Stunde das Geschäft  mit verderblichen Meeresfrüchten abgewickelt sein musste?

b.      Ein Winkelmesser: Der Augen-Blick über Kreuz des „Steuermannes“ Oceanus und die die Sehnen des Hexagons tangierenden Peilstrahlen legen nahe, dass es sich wohl um eine Scheibe handeln musste, die sich der Steuermann genau in Richtung Norden in definiertem Abstand waagrecht vor die Augen hielt. Es ist denkbar, dass die Vorrichtungen zur Bestimmungen der Himmelsrichtung (Sonnenuhr) und Winkelmessung wahrscheinlich in einem Instrument vereinigt waren.

c.      Eine Seekarte in Trapezform zur Bestimmung der Position des Schiffes auf See, denn die vermutlich dargestellte Kreuzpeilung im Mosaik macht ohne den gleichzeitigen Gebrauch einer Karte keinen Sinn: wie soll denn ohne Karte ein Schnittpunkt einzuzeichnender Standlinien bestimmt werden? Sollte die hier vorgelegte Deutung einer Kreuzpeilung bestätigt werden, würde damit gleichzeitig mittelbar die Existenz einer ziemlich exakten römischen Seekarte nachgewiesen, die Voraussetzung für eine solche Peiltechnik gewesen wäre. Könnte es sein, dass Victorinus sein Mosaik nach diesen Anweisungen wie eine römische Karte gestaltet hat? Das soll unter Punkt 5 untersucht werden.

Abb. 9: Das Raster aus Längen- und Breitengraden, auf denen die Landmassen des Mosaiks aufgelegt sind. Bearbeitung: D. Kirschner.[Bild: GDKE, Mainz]

 

4.8.            Der Fächer von Radialstrahlen / Längengraden, auf den die Landmassen im Mosaik aufgelegt sind, wird unterteilt durch vier parallele Breitengrade, deren Lage durch die Künstlersignatur (punctum victorinii), Sehnen und Spiegelachse des Brunnenhexagons definiert werden. Es wird beobachtet: Der Breitengrad, der gleichzeitig die Spiegelachse des Brunnenhexagons ist, wird besonders hervorgehoben (digital blau unterlegt, vgl. Abb. 10):  Nur entlang dieses Breitengrades werden im Mosaik messbare Schattenwürfe mit Bezug zu einem bestimmten Sonnenstand dargestellt (Schattenwürfe der Füße des Anglers und des Händlers, der Schatten des Unterschenkels des Verkäufers ist dazu parallel nach unten versetzt).  Die Topmasten beider Großschiffe im Mosaik berühren mit ihrem Topp diesen Breitengrad. Dieser Befund ist Ausgangspunkt der 8. These: Die Toppmasten römischer Schiffe müssen einen instrumentalen Bezug zur Navigation gehabt haben, wie es der Exkurs zum zergliederten Mast des Segelbootes bereits aufzeigte.[Anm. 13] Die Höhe dieses für das Auge zunächst unsichtbaren Breitengrades im Mosaik wird auch sichtbar, wenn die o.g. Schattenwürfe mit einer Linie verbunden werden, wie digital ausgeführt. Die Bildaussage könnte lauten: Ein bestimmter Breitengrad könnte die Funktion eines „Schifffahrtsweges“ von West nach Ost (und umgekehrt) ohne Landsicht gehabt haben, der durch Schattenwürfe messtechnisch sichtbar und damit bestimmt werden kann. Fährt das Schiff exakt auf dem gewählten Breitengrad (die Toppmasten beider Großschiffe „hängen“ an dieser Linie), wird der Schatten der Sonnenuhr zum Sonnen Höchststand immer eine bestimmte gleiche Länge haben. Weicht der Kurs nach Süden ab, verkürzt sich der Schatten, bei Abweichung nach Norden verlängert er sich. Diese Überlegung wird durch den Bericht des großen Entdeckungsreisenden Pythèas (um 380 – um 310 v.Chr.) gestützt: „Pythèas konnte bereits die geografische Breite bestimmen einmal mit Hilfe der Schattenlänge der Sonne zur Mittagszeit (Höhe der Sonne) oder mit Hilfe eines Sterns beim Himmelspol über dem Horizont“.[Anm. 14] In noch nicht geklärter Weise muss es einen möglichen Zusammenhang zwischen Toppmast und Bestimmung des Breitengrades gegeben haben. Der Breitengrad, der gleichzeitig die Spiegelachse des Brunnenhexagons ist, wird beosnders hervorgehoben (digital blau unterlegt, vgl. Abb.10).

Abb. 10: Die kongruenten rechtwinkligen Dreiecke. Bearbeitung D. Kirschner.[Bild: GDKE Mainz]

4.9.            Die 9. These formuliert die Vermutung, dass der unter 4.8. untersuchte Breitengrad in einer zweiten Deutungsebene auch eine biografische „Funktion“ haben könnte. In der „mit Information maximal anreichernden Darstellung“ des Künstlers ist eine Trennung der Themen Navigation, Biografie  und der Diskussion um Konstrukt und Phänomenologie nicht möglich. Zunächst wird beobachtet: Sowohl der Schattenwurf des rechten Fußes des Anglers als auch der Schattenwurf des linken Fußes des Händlers fußen auf den Katheten kongruenter rechtwinkliger Dreiecke, die in einem spiegelbildlichen Verhältnis zueinander stehen. Die jeweils kürzeste Kathete dieser Dreiecke ist auf  den Breitengrad aufgelegt. Anscheinend hat der Künstler auch die Beine des Anglers und des Händlers im gleichen Winkel so abknicken lassen, dass jeweils ein Fuß genau in den rechten Winkel des jeweiligen Dreiecks positioniert wurde. Eine genaue Analyse der Abbildung des Händlers zeigt, dass dessen rechtes Bein in einem anatomisch unmöglichen „Schiefstand“ zum linken Bein (das durch die perspektivische Abbildung der Sandale eindeutig erkennbar ist) komponiert wurde. Dieser „Fehler“ wird wieder dem Victorinus Paradox zugeordnet und soll wohl die Bedeutung der Position des rechten Fußes, eben genau im rechten Winkel des Dreiecks, unterstreichen. Der Befund wird wie folgt interpretiert: Es handelt sich bei den Füßen, deren Schatten auf die jeweils kürzere Kathete auf fußen (einmal Händler, einmal Angler), um die Füße ein und derselben Person: der bedeutungsperspektivisch hervorgehobene Angler in der Bildinsel Kunsthafen und der in besonders wertiger Kleidung (Seide?) abgebildete Mann, der in der Bildinsel Naturhafen quasi im raschen Vorbeilaufen einen Kauf tätigt, müssten demnach identisch sein. Dem Sonnenlauf folgend, wird im Osten wohl die Jugendzeit, im Westen das reife Alter und der Wohlstand (römische Kleiderordnung) dargestellt. Es wird angenommen, dass hier ein erster belastbarer Hinweis auf die biografische Funktion des Mosaiks entdeckt worden ist, praktisch ein „biografischer Fußabdruck“, lokalisiert im rechten Winkel eines Dreiecks. Der Breitengrad würde demnach in erster Deutungsebene einen Schifffahrts-, in zweiter Deutungsebene einen Lebensweg  (mit jeweiliger „Standortangabe“) abbilden. Sollte dies bestätigt werden, könnte in Zusammenarbeit mit den kriminaltechnischen Wissenschaften das ausgebrochene Gesicht des Anglers rekonstruiert und damit eine weitere Fehlstelle im Mosaik wiederhergestellt werden. Die Darstellung des sitzenden Anglers an einer tief zerklüfteten Felsküste wäre dann als „biografischer Einschub“ (= Informationskomprimierung des Künstlers) in die Bildinsel Kunsthafen zu verstehen.

Auf die Spitze, den die längere Kathete mit der Hypotenuse des Dreiecks bildet, ist die jeweilige Peilmarke aufgesetzt: ein Berggipfel über dem Naturhafen und eine Säulenbasis der Tempelkuppel über dem Kunsthafen. Ist unter dieser kompositionstechnischen Voraussetzung die Abbildung des Kunsthafens ein  Konstrukt aus Details, die möglicherweise der Hafenansicht von Portus entnommen worden sind? Ist die Lage des Tempeldaches demnach zum geometrischen Subtext und nicht gemäß der Phänomenologie „passend gemacht“ worden? Hat es in Portus wirklich ein imposantes Gebäude mit Lisenen im Mauerwerk am Kai gegenüber der Einfahrt in das hexagonale Hafenbecken gegeben, oder sind die Lisenen eine nicht wirkliche Chiffre für kolossales Mauerwerk? Das Verhältnis von Phänomenologie und Konstrukt im Mosaik ist ein Thema für den interdisziplinären Dialog mit den Kunst-, geographischen und archäologischen Wissenschaften, bereichert um das Fachwissen zu römischer Philosophie.

4.10.            Als 10. These wird behauptet, dass die Darstellung von zwei Tauben in Ruhestellung, dem Augenschein nach auf Meereswogen, gemäß den Konstruktionslinien aber auf Breitengrad eins auf fußend, die Navigationstechnik mit Vögeln wiedergibt. Plinius der Ältere berichtet im sechsten Buch der naturalis historia § 83 über die Navigationsweise der Ceylonesen (=  dem römischen Taprobane), das dort Vögel zur Navigation eingesetzt wurden. „Die Praxis der `Vogelflug – Navigation´... ist tatsächlich schon für vorchristliche Zeiten in der Pâli – Literatur Ceylons bezeugt; die Vögel werden dort als tiradassi („die, die die Küste finden“) bezeichnet.“.[Anm. 15] Es wird hypothetisch davon ausgegangen, dass römische Seefahrer nicht nur den Fachausdruck „navigatio“ aus dem Sanskrit (navgathi) übernahmen, sondern auch Navigations- und Schiffbautechniken aus diesem Kulturkreis. Es sei in diesem Zusammenhang an das Untersuchungsergebnis erinnert, das für das Segelschiff ein Dschunkensegel rekonstruieren konnte.[Anm. 16] Und besteht die Gewandung des Händlers (= Auftraggeber) im Mosaik vielleicht aus Seide?

Sollten die Thesen 4.1 - 4.10 zutreffend sein, würde eine Deutungsebene des Mosaiks besonders hervorgehoben: die Darstellung der Logistik eines römischen Übersee -Eilfrachtunternehmens. Quasi „im Vorbeilaufen“ wird Ware gekauft, eine Amphore wird im Sprint mit "wehendem Rockzipfel" auf dem Kai des Naturhafens bewegt, die Ware wird durch genaue Navigation (Kreuzpeilung und Bestimmung des Breitengrades) ohne Umweg direkt über das Meer von Hafen A nach B durch ein Seeruderschiff mit Hilfssegel und geklinkertem Rumpf transportiert. (Der Mosaikkünstler verlegte vermutlich das Steuerruder nach backbord, um die Klinkerbauweise ganz deutlich hervorzuheben). Das im Oceanus-Mosaik abgebildete Segelboot wiederum verfügt über einen Rumpf in glatter Kraweelbeplankung und ein speziell konstruiertes Segel, mit dem einhändig im engen Revier der dicht an dicht liegenden Hochseeschiffe schnell und wendig gefahren werden kann. Ohne Verzug navigiert es mit Hilfe eines Piktogramms auf kürzestem Wege direkt über Baustrukturen in das Zentrum eines Kunsthafens mit hexagonal angelegtem Hafenbecken.

0.6.5. Die Interpretation der Befunde (2): Thesen zur Bedeutung des Oceanus Mosaiks als mögliche Primärquelle römischer Kartografie

Im Folgenden wird untersucht, ob das Oceanus Mosaik möglicherweise Theorien (zur Projektion) eines antiken Kartenwerkes überliefert und deshalb vielleicht als Primärquelle römischer Kartografie bezeichnet werden könnte.

5.1.            These 1: Behauptet wird, dass das Oceanus Mosaik eine antike Theorie zur Wiedergabe der Kugelgestalt der Erde auf ein zweidimensionales Planum wiedergibt. Beobachtet wird, dass die Landmassen des Mosaiks ersichtlich auf einen Fächer von Radialstrahlen aufgelegt sind (s. Abb. 9), unterteilt durch vier „Breitengrade“. Diese Radialstrahlen werden, wie bereits gezeigt, durch provozierende Schiefstände im Mosaik sichtbar, muten an  wie Längengrade und erinnern damit an die Theorie zur Abbildung der Erdkugel durch  die einfache Kegelprojektion nach Ptolemaios. Ptolemaios gibt in seinem Handbuch der Geographie  Anleitung, wie man Karten entwerfen soll: I, 18-24. Bei der geraden oder einfachen, sog. 1. ptolemäischen Projektion werden die Meridiane als Geraden gezogen, die Breitengrade im Unterschied zum Mosaik als gezirkelte Kreisbögen angelegt: I, 24, 1-9. Diese erscheinen künstlerisch bearbeitet (ausgezogene Sehnen des Hexagons) im Mosaik als parallele Geraden. A. STÜCKELBERGER hat ... „die zwei ältesten und prächtigsten Kartenhandschriften (erg. des Ptolmaios), den Cod. Seragliensis GI 57 und den Vaticanus Urbinas Graecus 82 (beide um 1300) ...“ analysiert: „Die gerade gezogenen Meridiane werden durch vier Parallelkreise unterteilt: Den Parallelkreis von Thule, von Rhodos, Äquator, Parallelkreis von Antimeroe“.[Anm. 17] Diese Einteilung der Erdkugel durch Längengrade und vier parallele Breitengrad Unterteilungen kopiert ganz offensichtlich der Künstler Victorinus. Die Radialstrahlen wandeln sich dann zu Längengraden einer Art Kegelprojektion, wie es bereits bei der Analyse der Künstlersignatur vermutet worden ist. Wie in Abb. 2 gezeigt, werden diese „Längengrade“ im Mosaik durch besondere Schiefstände, zu denen auch die Abbildung einer geneigten Säule mit Krater in der Bildinsel Kunsthafen gehört, sichtbar gemacht. Die Tatsache, dass die Landmassen auf ein Gitternetz aus Radialstrahlen und Breitengraden wie nach Anweisung des Ptolemaios zur einfachen Kegelprojektion aufgelegt sind, begründet die Annahme des Verfassers, dass der Künstler Victorinus Kenntnis des ptolemäischen Handbuchs der Geographie  gehabt haben könnte.

5.2.            2. These: Behauptet wird, dass das Oceanus Mosaik ein theoretisches Problem römischer mathematischer Geografie abbildet: Wie sollen über quadratische Limitation gewonnene Messergebnisse auf die Kegelprojektion übertragen werden?  Ein Deutungsversuch der „schiefen Säule mit Krater“ in der Bildinsel Kunsthafen soll das Problem verdeutlichen: Die harte Dissonanz von „schiefer“ Säule (definiert durch Längengrad 5) und lotrechter Hauswand in der Bildinsel Kunsthafen kann oberflächlich zunächst „provinzial-römische Durchschnittlichkeit“ assoziieren: der Meister des Mosaiks wollte offenbar Perspektiven abbilden, deren Ausführung er dann doch nicht künstlerisch vollendet beherrschte. Erst die tiefer schürfende Analyse zeigt anhand der Konstruktionslinien, dass hier möglicherweise Abbildungsformen der Erdoberfläche durch die römisch mathematische Geographie „diskutiert“ werden: Einerseits die Vermessung der Erde durch angelegte Quadrate, geübt durch die römischen Agrimensoren in etruskischer Tradition, die die Erde als Scheibe annahm.[Anm. 18]Offensichtlich in dieser Tradition stehend, umschließt im Mosaik ein Quadrat das Hexagon, über das die Bildinsel Kunsthafen mit Gebäuden und Hafenbecken eingemessen worden ist.[Anm. 19] Andererseits weist die „schiefe“ Säule der Bildinsel Kunsthafen als Segment eines „Längengrades“ auf den „Nordpol“ (= Gartenmittelpunkt der Villa) eines trapezförmigen Gitternetzes, das als angenommene Kegelprojektion nach Ptolemaios die Oberfläche einer als Kugel gedachten Erde abbildet. Die harte Dissonanz von schiefer Säule und lotrechter Hauswand erweist sich damit vermutlich als „Diskussion“ eines sehr speziellen Problems römisch mathematischer Geographie:  Wie soll die Abbildung einer über die quadratische Limitation eingemessenen Hafenanlage (quadratische Platte) auf das trapezförmige Gitternetz einer Kegelprojektion (Kugel) übertragen werden?

5.3.            Florian MITTENHUBER hat eine vermutlich spätantike Anweisung zum Zeichnen der Karten aus Cod. Seragliensis GI 57 (K), fol 11r veröffentlicht: „Umriss, Landspitzen, Inseln, Beischriften der Flüsse, Einzeichnen der Küstenlinie, Namen der Berge, Berge, Flüsse, Seen, Namen der Provinzen, Regionen oder Völker, Vignetten (epigraphai), Beschriftung (der Vignetten) (epigrammata), bedeutende Städte, zweitrangige Städte, drittrangige Städte.“[Anm. 20] Behauptet wird als 3. These, dass das der Künstler VICTORINUS einer solchen Anweisung zum Zeichnen der Karten bei der Gestaltung des Mosaiks gefolgt ist, in dem er

a.      gegenüber der Künstlersignatur den Umriss einer Insel,

b.      über dem Fischer mit Harpune eine Landspitze abbildet,

c.       unterschiedliche Küstenlinien einzeichnet: z.B. die detailliert wiedergegebene, tief zerklüftete und z.T. überhängende Felsenküste zu Füßen des Anglerfragmentes, die von Menschenhand (rechte Winkel) künstlich angelegte Reede, die flache Küste vor einem kleinen Hafenbecken, das umlaufend flache, z.T. eingebuchtete  Ufer einer Insel,

d.      über der Bildinsel „Naturhafen“ Berge abbildet,

e.      mit dem Harpunenfischer möglicherweise einen Hinweis gibt auf die Völkerschaft, die an diesen Gestaden wohnt, mit ihren betont großen, kräftigen Körpern und dem hellen Haar,

f.        bedeutende Hafenstädte, unterteilt in einen Naturhafen und einen hexagonalen Kunsthafen, einen zweit- oder drittrangigen (?) mit kleinerem, rechteckigem Grundriss des Hafenbeckens, darstellt.

Zusammenfassend sieht der Verfasser eine Übereinstimmung der o.g. spätantiken (?) Anweisung zur Herstellung einer Karte mit dem Mosaik in: Umriss, Landspitzen, Inseln, ... , Einzeichnen der Küstenlinie, ... , Berge, ... , Regionen oder Völker (?), ... , bedeutende Städte, zweitrangige Städte (?), drittrangige Städte (?). Diese Übereinstimmung könnte die Zeitstellung „spätantik“ der o.g. Randnotiz bestätigen. Die Zeitstellung könnte sogar noch präziser vor das Jahr 234 n. Chr. eingegrenzt werden, dem Verlege-Jahr des Mosaiks nach unsicherer Konsularinschrift.  Könnte das Mosaik damit in den Rang eines original erhaltenen römischen Kartenwerkes erhoben werden, das Anweisungen und Theorien zur Kartografie überliefert?

Über die Aufzählung in o.g. Notiz hinaus geben die Darstellungen des Mosaiks auch wieder:

a.      hervorgehoben gezeichnete Landmarken zur Navigation, die von Zypressen ähnlichen Bäumen bedeutungsperspektivisch gerahmt sind,

b.      Angaben zu Gefahrenstellen, die durch einen Schlangenstern und einen nackten Harpunenfischer symbolisiert sein könnten und weiter unten analysiert werden,

c.       vermutlich ein Piktogramm als Teil einer See(?)karte.[Anm. 21] Es diente offensichtlich zur Navigation in die enge Einfahrt eines Kunsthafens und gibt an: die Einfahrt ist so anzusteuern, dass bei Peilung über Mast und Bug die Mole steuerbord zu liegen kommt, es herrscht demnach Rechtsverkehr in der Hafeneinfahrt. (Der Rechtsverkehr bei Einfahrt in den Kunsthafen Portus könnte durch einen Sesterz (Bronzemünze) des Kaisers Nero bestätigt werden, der das massiv umbaute große Hafenbecken des Hafens Portus mit wie eingepfercht  ankernden Schiffen und ein  im Rechtsverkehr nahe an der Mole vorbei einfahrendes Hochseeschiff unter Segel wiedergibt.[Anm. 22] Es mutet hier an, als ob dieses Segelschiff den Navigationsanweisungen des hypothetisch erschlossenen Piktogramms zur Einfahrt in den Hafen genau folgt.

Nach Meinung des Verfassers sind a. – c. Hinweise auf eine Seekarte.

0.6.1.5.1. Zweiter Exkurs: Zur Deutung des „Schlangensterns“ unter dem Kiel des Segelbootes

Der „Schlangenstern“ wird hier nicht als faunistische, abbildungsähnliche Arabeske, sondern, der mythologischen Gedankenwelt Homers folgend, wohl als tückischer Meeresstrudel (bei Vollmond?) und damit als mythologische Chiffre für Tod und Verderben zu deuten sein. In der über den Victorinus Code rekonstruierten Originallage der Mosaikscholle war eine der mythologischen Schlangen eben im Begriff, mit aufgesperrtem Maul in den im Original durch Zirkelschlag konstruierten Kiel zu beißen: der vermutete Strudel war demnach gerade dabei, das Schiff zu „fassen“ und zu „verschlingen“. Das deutet möglicherweise auf den gefährlichen Strudel Charybdis hin, der jedes Schiff, das sich ihm näherte, auf den Grund hinabriss und verschlang. Bei der Bergung des Mosaiks durch Zersägen in einzelne Schollen wurde offenbar entschieden, diesen „zubeißenden“ Schlangenkopf zu erhalten und den Bergungsschnitt stattdessen durch den Kiel des Schiffsrumpfes zu führen: die jetzige Rumpfform des Segelschiffes präsentiert den angesägten Zustand noch immer und lässt deshalb dem Augenschein nach durchaus ein Plattbodenschiff vermuten. Die Mosaikscholle „Schlangenstern“ ist nach unten (Richtung Apsis) verkantet wieder eingebettet worden, was u.a. ein jetzt um etwa drei Steine zueinander verrutschter Wellenverlauf  beweist. Der Zusammenhang zum Schiff und damit die Dramatik der Situation, in der sich das Segelboot befindet, ist heute durch die viel zu breite Reparaturnaht unter dem Kiel und die konservatorische Bearbeitung des Rumpfes kaum noch zu erkennen. Dankenswerterweise  haben die Trierer Restauratorinnen und Restauratoren die Nähte zwischen den ausgesägten Mosaikschollen farblich abgesetzt, sodass eine Diskussion um den Originalzustand ermöglicht wird (mosaizistische Quellenkritik). Es handelt sich im Original um die Darstellung eines Überlebenskampfes in höchster Seenot: Der Steuermann versucht, das Schiff mit einem Segel, in das  ein Windwirbel zaust, an einem Wasserwirbel, der den Rumpf zu zerbrechen und zu verschlingen droht, vorbeizusteuern, indem er mit äußerster Anstrengung kniend das durch den Windwirbel offensichtlich in sich verdrehte Segel wieder unter Kontrolle zu bringen versucht: eine an sich aussichtslose Situation. Religionsgeschichtlich geht es hier um die sehr entscheidende Frage, ob das Oceanus Mosaik als römisch pagane Votivtafel gedeutet werden könnte, mit der der Auftraggeber für übernatürliche Rettung seiner Frachttermine und Schiffe  aus Flaute, sturmartigem Gegenwind, Windwirbel und Wasserstrudel dankt. Wird diese These bewiesen, ist gleichzeitig die Ausnahmestellung des Mosaiks unter römischen Mosaiken klar und deutlich belegt: Votivtafeln sind, bedingt durch die Einmaligkeit des biographischen Erlebens, individuell, nicht seriell. Philosophisch wird möglicherweise die Weltanschauung verdeutlicht, über deren Hintergrund das Mosaik komponiert wurde: Sowie sich die aus der Heckzier des Segelbootes hervorschießende mythische Schlange auf einen Kreisbogen mit r = AS auf schmiegt, so passt sich der hohläugige, mit r = AS kreisrund konstruierte Schlangenstern, in rekonstruierter Originallage genau ein in einen stumpfen Winkel, den zwei Sehnen S5 des für das Segelschiff konstruktiven Pentagons bilden. Abgeleitet aus dem systeminternen Analogieschluss zum Riesenkrebs über dem Haupt des Oceanus (s. 4.5.) wird festgestellt, dass der „Mythos“ in diesem Mosaik durchkonstruiert, eingemessen und damit eingegrenzt ist. Die formgebende Gestaltungshoheit hat die Geometrie. Begegnet uns hier ein „römischer Rationalismus“, dessen deskriptive Weltanschauung sich mythologischer Chiffren bedient?

(Der offensichtliche Gegensatz zwischen „römischen Rationalismus“ und „Votivtafel“ macht deutlich, dass die Begrifflichkeit, die dem Verfasser zur Verfügung steht, nicht ausreicht, um die religiöse und philosophische  Dimension, die sich in diesem Mosaik widerspiegelt, in letzter Tiefe angemessen zu beschreiben.)

Damit ist die besondere Bedeutung einer rekonstruierten Originallage der ausgesägten Mosaikscholle „Schlangenstern“ in ihrem Verhältnis zur Mosaikscholle „Segelschiff“ herausgearbeitet worden. Deutlich wurde, dass die fachliche Vermessung des Mosaiks wissenschaftlich unumgänglich ist. Und die Ergebnisse dieser dann wissenschaftlichen Anforderungen genügenden Untersuchung sind ins Verhältnis zu setzen zu den fotografischen und zeichnerischen Dokumentationen des Mosaiks in situ, den Ausgrabungsbefunden der sensationellen Funde römischer Schiffswracks in Pisa (navi antiche di Pisa) und den Berichten antiker Autoren über vernichtende Stürme im Hafen von Portus.

Es wird fortgefahren mit den Angaben zu möglichen Gefahrenstellen eines vermuteten Kartenwerkes: Der in derber, robuster Körperlichkeit dargestellte Fischer (erste Deutungsebene) über dem Naturhafen hält eine langstielige Harpune in der Hand. Nach Kenntnis des Verfassers ist Harpunenjagd vom Ufer aus auf größere Fische, wie im Mosaik in der rechten Hand des Harpunenfischers abgebildet, nur in einer Ufer-Brandung stehend aussichtsreich. Vielleicht ist dieser Fischer deshalb auch eine auf eine Seekarte eingezeichnetes anthropomorphes, symbolisches Warnzeichen  für die Schifffahrt gewesen, nur ja einen Sicherheitsabstand zu diesem gefährlichen Ufer zu halten.

5.4.            Als 4. These wird behauptet, dass sich auf dem Oceanus Mosaik bedeutende Hafenstädte erkennen lassen: Der Naturhafen „im Westen“ könnte Toulon (Telo Martius) sein, der Kunsthafen „im Osten“ möglicherweise Portus abbilden. Für Toulon spricht die natürliche Bucht vor hohem Berg (Mont Falon). Dessen römischer Hafen müsste dann, nach Angaben des Mosaiks, von See aus gesehen auf der den Hafen umschließenden Landzunge backbord quer ab (bei Einfahrt) gelegen haben. Für Portus spricht das erschlossene hexagonale Hafenbecken, die ins Meer gebaute Mole, die enge Hafeneinfahrt und die für die Navigation „herausgehobene“ Stellung des Tempeldaches. Es fällt auf, dass die Küstenlinie zwischen Portus(?) und einem kleinen Hafenbecken (wohl ein kleiner Nothafen, von See aus gesehen steuerbord quer ab zur Hafeneinfahrt Portus(?), besonders detailliert wiedergegeben worden ist, für den Auftraggeber hatte sie möglicherweise besondere Bedeutung. Die geologischen Fachwissenschaften mögen beurteilen, ob die zu Füßen des Anglers perspektivisch abgebildete, betont tief zerklüftet dargestellte Felsküstenlandschaft mit überhängenden Felsnasen (ein Hinweis auf Tafoni?) ein starker Hinweis auf korsische, sardische oder sizilianische Küstenlandschaft sein könnte. Sollte dies bestätigt werden, wird gleichzeitig nachgewiesen dass es sich bei der „Victorinus Karte“ um ein Konstrukt ähnlich einer Collage handeln muss, die auf eine trapezförmige römische Seekarte(?) u.a. mit einem Teilausschnitt westliches Mittelmeer zugreift.

Welche Bedeutung könnte dann das Mosaik eventuell für die historische kartografische Wissenschaft haben? Sie überliefert nach Meinung des Verfassers als original erhaltenes Kartenwerk des römischen Reiches, wenn auch in künstlerischer Bearbeitung,

a.      möglicherweise ein sehr spezielles Problem römisch - mathematischer Geografie: wie soll eine über die quadratische Limitation eingemessene Hafenanlage auf die erste Projektion nach Ptolemaios eingezeichnet werden?

b.      die Ansichten von künstlichen und natürlichen Peilmarken (auf römischen Seekarten?),

c.       Theorie und Technik der Kartenzeichnung nach Ptolemaios und bestätigt auch die angenommene Zeitstellung „spätantik“ der o.g. Randnotiz im Codex Seragliensis.

5.5.            Als fünfte These wird behauptet: Die Künstlersignatur lässt sich als Positionsmarkierung auf einer römischen Seekarte interpretieren. Nach o.g. Untersuchungen kann die Komposition der Künstlersignatur jetzt noch differenzierter verstanden werden. In „Der Victorinus Code Teil 1“ wurde bereits die Entdeckung vorgestellt, dass Victorinus die Künstlersignatur über das zirkelkonstruierte Pentagon nach Ptolemaios konzipiert hat. Diese Konstruktion setzt einen Kreis mit dem Mittelpunkt 0 und dem Durchmesser A0B voraus. In einer genauen Abfolge von Zirkelschlägen wird die Sehne S5 konstruiert, die im o.g. Kreis innenliegend fünffach aneinandergelegt den Umriss des Pentagons bildet. Es konnte gezeigt werden, dass der Kreisbogen r = OA die Buchstabenfolge VICTORINUS.TESS.FEC. , das Seitenporträt des Künstlers und das Heck des Ruderbootes umschließt. Dieses Porträt bildet somit Victorinus ab, der die Kalligraphie seines Namenszuges exakt über die Sehne S5 abmisst. Dieses die Künstlersignatur konstituierende Pentagon ist so kunstvoll in das Raster von Längen- und Breitengraden eingefügt, dass Längengrad vier die Lage des Buchstabens T(ESS),  und die Mittellinie des Seitenporträts bestimmt. Nicht nur die Position der Künstlersignatur im Mosaik, sondern auch die Signatur in sich ist kunstvoll vermessen: Die Sehne S5 ist das kalligraphische Maß für den Namen Victorinus in seiner ganzen antiken Bedeutungsschwere. Und das Seitenporträt des Künstlers ist so ausgerichtet, dass der abgebildete Künstler VICTORINUS die Sehne S5 beständig „vor Augen“ hat. Gestaltet ist die Künstlersignatur somit über das erste Theorem der Syntaxis Mathematica (= Almagest I, 10: „Data circuli dymetro latera decagoni pentagoni ...“),[Anm. 23] künstlerisch eigenständig zum Victorinus Code weiterentwickelt. Im Mosaik ist die Künstlersignatur lokalisiert über die sog. erste Projektion der Geografike Hyphegesis (= Handbuch der Geographie), die künstlerisch mit ausgezogenen Sehnen S6 des Hexagons statt gezirkelten Breitenkreisen bearbeitet ist. Das kann nach Meinung des Verfassers so verstanden werden, dass Victorinus im Jahre 234 n. Chr. (Verlege Datum des Mosaiks nach unsicherer Konsularinschrift) Kenntnis der zwei Hauptwerke des Ptolemäus hatte, die um 150 n. Chr. entstanden sind, und sie so kongenial künstlerisch bearbeiten konnte wie den technischen Seitenriss des Segelbootes, den er zur Seenotszene umarbeitete. Das Victorinus Paradox des provozierenden Schiefstandes der Künstlersignatur zur Grundlinie des Mosaiks verweist wieder auf geometrisch kunstvoll durchdachte Linienführung: die kalligraphischen Hilfslinien, über die der Namenszug gelegt worden ist, stehen genau im rechten Winkel zum vierten Längengrad. Und der Buchstabe T(ESS), der genau auf Längengrad vier aufliegt, kann in einer zweiten Deutungsebene auch als Anfangsbuchstabe des griechischen Wortes „ (he) tome“ (= Schnittpunkt, Schnitt, Einschnitt ...) verstanden werden. Nach Meinung des Verfassers könnte Victorinus damit anzeigen, dass er sich der „besonderen Leistung des Ptolemaios“ bedient, ein „kohärentes Koordinatensystem eingeführt“ zu haben, mit der eine Position durch Schnitt von Längen- und Breitengrad genau beschrieben werden kann. Ptolemaios selbst schreibt in „Geogr(afphie) 1,18,4: ... ist es doch unerlässlich, bei jedem anzuführenden Ort – will man ihn richtig eintragen – die (geographische) Länge und Breite zu kennen ...“.[Anm. 24] Victorinus positioniert seine Künstlersignatur so vor den (vom Triclinium aus gesehen) „am weitesten entfernten Landstrich“, dass er eine Hafenanlage (rechte Winkel im Küstenverlauf) genau vor Augen hat, seinen Fischernachen also genau mit Kurs zum Hafen hin steuert. Die Lage der Künstlersignatur im Mosaik wird deshalb als „Positionsmarkierung auf einer römischen Seekarte“ interpretiert.

0.7.6. Die Frage nach möglichen Vorlagen des Künstlers

Sollten die vorgelegten Thesen in der wissenschaftlichen Diskussion Bestand haben, würde sich unweigerlich die Frage nach den Kenntnissen und Vorlagen des Mosaizisten Victorinus stellen, denn er, der sich „nur“ als Steuermann eines kleinen Fischernachens (das genaue „Gegenbild“ des Geschwindigkeit und Effizienz „atmenden“  Bildprogramms) in der Künstlersignatur selbst porträtiert, bildet doch offenbar Techniken der  Navigation auf hoher See ab. Aus der Bildinsel Kunsthafen könnten vielleicht erste Antworten auf diese Frage nach Vorlagen entschlüsselt werden:

a.      Vorlage des technischen Seitenrisses des Segelbootes, konstruiert über den Victorinus Code, über den die Seenotszene komponiert wurde. [Der Verfasser ist mit jetzigem Kenntnisstand der Meinung, dass das rekonstruierte Musterblatt des Segelbootes auf einer römischen technischen Zeichnung basiert. Wenn diese These verifiziert werden könnte, würde das Oceanus-Mosaik auch technikgeschichtlich eine Primärquelle sein.]

b.      Vorlage einer römischen Landschaftsmalerei mit mediterranem Motiv, vielleicht eine korsische, sardische oder sizilianische, betont tiefzerklüftet wiedergegebene Felsküstenlandschaft? (Darstellung zweier überhängender Felsnasen = Peilmarke der Heimat des Auftraggebers?)

c.       Vorlage eines römischen Kartenwerkes, aus der u.a. das vermutete Piktogramm zur Navigation in die Hafeneinfahrt, die Abbildung von Landmarken und Gefahrenstellen und der Anweisung, wie man Karten zeichnen soll, übernommen wurde.

Demnach würde der Künstler Victorinus in der Bildinsel Kunsthafen drei Arten römischer Malerei zitieren, deren Vorlagen er eigenständig umarbeitete und in das Raster seiner geometrischen Linien komponierte: die technische Zeichnung mit Zirkel und Lineal, die perspektivische Landschaftsmalerei und die zweidimensionale kartografische Abbildung. Durch die abgebildeten harten Dissonanzen „lotrecht ./. schief“, „perspektivisch ./. flächig“, „malerisch geschwungen [Felsküste]./. technisch exakt [Schiffsrumpf], „heller ./. schwarzen Ufersaum“ würde er die Zitierung der verschiedenen Vorlagen bis heute kenntlich machen. Seine umfassenden geometrischen Kenntnisse bildet Victorinus als Subtext der gesamten Bildinsel ab. 

0.8.7. Diskussion

7.1. Der Verfasser riskiert die wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügende Ausführung unter 5.3.1., um auf die besondere Bedeutung der korrekten Repositionierung der Mosaikscholle „Schlangenstern“ hinzuweisen, geht es doch um die nicht unerhebliche Frage, ob das Mosaik als römisch-pagane Votivtafel gedeutet werden und damit einzigartig sein könnte. Die wissenschaftlich exakte, vollständige Rekonstruktion der originalen Mosaikoberfläche ist alternativlos. Die „extreme“ Genauigkeit, mit der VICTORINUS z.B. das Musterblatt für das Segelschiff konzipierte, bildet sich in folgenden Zahlen ab: Wenn dieses Musterblatt auf ein DIN A 4 Blatt gezeichnet werden soll,  beträgt der Konstruktionsdurchmesser AOB = 18cm. Damit die Zirkelschläge mit denen des Mosaiks übereinstimmen, muss der Zirkelfuss mit einer Messtoleranz von < 0,3mm eingesetzt werden.  Alles deutet darauf hin, dass mit dieser praktisch gegen Null gehenden Messtoleranz auch das gesamte Mosaik im Original eingemessen worden war. Die Thesen des Verfassers wären an diesem wiederhergestellten „Urmosaik“ erneut zu prüfen.    

7.2. Gegen die Annahme, dass Victorinus das trapezförmige Gitterraster eines römischen Kartenwerkes nach Ptolemaios zitiert, könnte angeführt werden: Es handelt sich hier nicht um ein Zitat aus dem Handbuch der Geographie des Ptolemaios, sondern um das sehr eigenwillige künstlerische Stilmittel einer zweidimensionalen Zentralperspektive. Dieser Einwand könnte belegt werden durch die bereits veröffentlichte Analyse der Bildinsel Kunsthafen, deren Bildkomposition durch ein quadratisch umfasstes Hexagon, geschnitten durch Radialstrahlen, deren Fluchtpunkt die Hand des Matrosen mit dem Mast umklammert, bestimmt wird.[Anm. 25] Der Sturz der Tempelsäulen wird eindeutig durch diese zweidimensionale Zentralperspektive eingemessen. Victorinus hätte dann dieses Stilmittel auch der Grundkonzeption seines Mosaiks zu Grunde gelegt, indem er den Gartenmittelpunkt der Peristyl Villa zum Fluchtpunkt eines Radialstrahlbündels seiner zweidimensionalen Zentralperspektive einmaß. Diese Radialstrahlen bestimmen das Bildprogramm durch provozierende Schiefstände, die die Individualität und Einzigartigkeit des Mosaiks unterstreichen. Bewiesen wird nicht die Verwendung eines ptolemäischen Vorschlages zur Zeichnung von Karten, sondern die Übereinstimmung des Seitenporträts eines alten Mannes mit dem Schriftzug VICTORINUS TESS(ELARIUS) FEC(IT) ohne Bezug zu einem römischen Kartenwerk. 

7.3. Für die Annahme, dass das Mosaik das Raster und eventuell Details eines römischen Kartenwerkes zitiert, sprechen wichtige Details der Komposition: der Steuermann des Seeruderschiffes ist in der Lage, den Kurs seines Schiffes schon bei Ausfahrt aus dem Hafen so genau anzulegen, dass der Zielpunkt seines Peilstrahls den Konstruktionspunkt O des Segelbootes einmal quer über das steinerne Mosaikmeer genau trifft. Hier wird eine Navigation dargestellt, die nicht die Konturen des Küstenverlaufes abfährt, sondern mit speziellen Hilfsmitteln in der Lage ist, den kürzesten Weg direkt über das Meer bei Tag und bei Nacht zu bestimmen. Dazu gehört nach Meinung des Verfassers unumgänglich eine recht genaue Karte.

7.4. Der Verfasser vertritt deshalb die Ansicht, dass das Mosaik Technik und Grundlagen römischer Navigation auf See abbildet. Die sichtbar gemachten Peilstrahlen zielen auf tatsächliche Peilpunkte wie Bergspitzen, Felsnasen, herausragende Bäume und hochaufragende Gebäude. (Vergleiche die antike Peilmarke: Tempelfassade auf Kap Sounion). Man kann die Argumentation unter 7.1. auch umkehren: die Lektüre des ptolemäischen Handbuches der Geographie hätte den Künstler zur Ausformung seines Stilmittels der zweidimensionalen Zentralperspektive inspiriert.

Dann wäre das Oceanus Mosaik in Kunst übersetzte römische Wissenschaft (in Anlehnung an Leonardo da Vinci), die auf Klaudios Ptolemaios zurückgeht.

0.9.8. Fazit

  • Es konnte deutlich gemacht werden, dass im Oceanus-Mosaik Bad Kreuznach möglicherweise eine in Stein gelegte Momentaufnahme römischer Navigation zur See abgebildet erhalten ist, aus der römische Techniken der terrestrischen und astronomischen Navigation und Hinweise auf eine römische Seekarte herauslesbar sein könnten:
  • römische  Peil- und Navigationstechniken zur Hafeneinfahrt in Form eines Piktogramms (aus einer Seekarte?), zur Kreuzpeilung auf Landmarken, und zum Kurshalten bei einer Fahrt über einen Breitengrad ohne Landsicht bei Tag und bei Nacht.
  • Diese angenommene Fahrt über einen Breitengrad könnte in zweiter Deutungsebene vermutlich eine biografische Darstellung des Lebensweges des Auftraggebers von Osten nach Westen sein.
  • Die sichtbar gemachten Standlinien lassen das Oceanus-Mosaik als geschlossenen künstlerischen Entwurf aus einer Hand erkennen, begründen Thesen zur Rekonstruktion von Fehlstellen und einen Ansatzpunkt zur mosaizistischen Quellenkritik.
  • Nach Meinung des Verfassers ist das Mosaik eine Primärquelle zu Theorien römischer Kartografie.

0.10.9. Ausblick

9.1.            An die archäologischen, geografischen, historisch-kartografischen, historisch-navigatorischen, römisch-philosophischen, kunsthistorischen, mosaizistischen und konservatorischen Wissenschaften ergeht die freundliche Bitte, die vorgetragenen Thesen des Verfassers kritisch zu prüfen. Sollten diese in der Diskussion Bestand haben, könnten sie Grundlage eines Antrages sein, den Eintrag dieses in Landeseigentum befindlichen Mosaiks in die Liste der Kulturdenkmäler von nationaler Bedeutung prüfen zu lassen.

9.2.            Den Arbeitskreisen der weiterführenden Schulen in Bad Kreuznach und dem römischen Großraum Mainz (und darüber hinaus), die  am Wettbewerb „Jugend forscht“ teilnehmen, wird die Konstruktion eines Roboterarmes vorgeschlagen, der über einen Laserscan gesteuert ausgesägte Mosaikschollen Millimetergenau repositionieren kann. An die Leistungskurse Latein wird die Anregung weitergegeben, antike Texte, die römische Navigation und vernichtende Stürme in Häfen zum Thema haben, zu übersetzen und ins Verhältnis zur Darstellung des Ruder- und Segelschiffes im Mosaik zu setzen. Zu diskutieren wäre auch die Übersetzung von septentrio: ist die Übersetzung „Großer Bär“ korrekt, oder sind die „Plejaden“ gemeint? Vielleicht arbeiten sich auch junge Menschen, die an geschichtlichen Themen besonders interessiert sind, zu dem Archiv vor, das die Zeichnungen und Fotografien des Mosaiks in situ bewahrt, und prüfen kritisch z.B. im Rahmen einer Facharbeit die Thesen des Verfassers unter 5.3.1.  Studierende der Kunstwissenschaften werden angeregt, die „akademisch“ anmutende römische Porträtkunst, die sich im Selbstporträt des Künstlers spiegelt, zu untersuchen und die Frage zu stellen, ob ein vergleichbares römisches Künstlerporträt mit Signatur in geometrisch vermessener Kalligraphie existiert. An der Darstellung der Besatzung des Segelschiffes könnte untersucht werden, mit welchen Techniken der römische Künstler VICTORINUS psychologische Befindlichkeiten darstellte. (Bildinsel Kunsthafen, Darstellung der Hände: Kampf [Segelführer] ./. Aufgabe [schreiender Matrose]; Bildinsel Naturhafen: Darstellung der Hände: Gewinn [Händler] ./. Verlust [Austernfischer]). Das Institut für Geschichtliche Landeskunde Mainz prüft gerne, ob diese Arbeiten hier veröffentlicht werden können.

Nachweise

Verfasser: Walther Krumme

Redaktionelle Bearbeitung: Lutz Luckhaupt

Verwendete Literatur:

  • Faller, Stefan: Taprobane im Wandel der Zeit. Das Sri-Lanka Bild in griechischen und lateinischen Quellen zwischen Alexanderzug und Spätantike. Stuttgart 2000.
  • Grosjean, Georges: Geschichte der Kartographie, Geographica Bernensia U 8 (³2013), S. 13,  [URL: https://core.ac.uk/download/pdf/33073235.pdf]. 
  • Hornung, Sabine: Luxus auf dem Lande. Die römische Palastvilla von Bad Kreuznach. Bad Kreuznach 2008.
  • Lorch, Richard: Some Remarks on the Almagestum parvum. In: S.S. Demidov, M. Folkerts, D.E. Rowe, C.J. Scriba (Hrsg): Amphora. Festschrift für Hans Wussing zu seinem 65. Geburtstag. Basel-CH 2013.
  • Luther, Andreas: Der Seekontakt zwischen Rom und Indien, [URL: https://www.fu-berlin.de/presse/publikationen/fundiert/archiv/2004_02/04_02_luther/index.html].
  • Mittenhuber, Florian: Text- und Kartentradition in der Geographie des Klaudios Ptolemaios. Eine Geschichte der Kartenüberlieferung vom ptolemäischen Original bis in die Renaissance. Bern-CH 2009.
  • Stückelberger, Alfred: Der geographische Atlas des Ptolemaios, ein oft verkanntes Meisterwerk, S. 39 und 34, [URL: https://www.zobodat.at/pdf/JOM_149a_0031.pdf]
  • Stückelberger, Alfred / Graßhoff, Gerd (Hrsg): Klaudios Ptolemaios,.Handbuch der Geographie. Einleitung und Buch 1 - 4. Basel-CH ²2017.
  • Wagenführ, Philip: Navigation in der nordeuropäischen Schifffahrt des Spätmittelalters. Instrumente und Methoden. Hamburg 2015.
  • Wolfschmidt, Gudrun (Hrsg.): „Navigare necesse est“. Geschichte der Navigation. Norderstedt 2008 (= Nuncius Hamburgensis – Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften, Bd. 14).

Erstellt am: 15.09.2020

Anmerkungen:

  1. Zeug, Katrin: Wie Schreiben das Denken verändert, Zeit-Online, https://www.zeit.de/zeit-wissen/201706/schrift-schreiben-denken-verändertZurück
  2. Krumme, Walther: Der Victorinus-Code Teil 1: Konstruktionsanalyse der Künstlersignatur im Oceanus-Mosaik in Bad KreuznachZurück
  3. Ebd. Zurück
  4. Stückelberger, Alfred; Graßhoff, Gerd (Hrsg): Klaudios Ptolemaios, Handbuch der Geographie, Einleitung und Buch 1 - 4, Basel ²2017, S.22. Zurück
  5. Der Antrag des Verfassers vom 18.09.2017, das Mosaik zusammen mit zwei Ingenieuren vermessen und Nahaufnahmen fertigen zu dürfen, wurde durch die Leitung des Schloßpark Museums Bad Kreuznach erst am 27.09.2018 beantwortet und nicht genehmigt: „ ... Durch das Herumlaufen auf dem Boden und Abstellen von Gerät kann nicht ausgeschlossen werden, dass nach so langer Liegezeit es nicht zu Veränderungen an den Stoßfugen kommt und auch an der Mörtelbettung.“... Dagegen die Notiz von Dr. H. Bullinger (unter dessen Leitung die Römerhalle 1985 eröffnet wurde) in einem mss. Manuskript o.J., dass die in Trier neu aufgebauten und auf Aluminiumwaben gesetzten Mosaikplatten in einer Wanne mit 15cm starkem Sperrbeton der Güteklasse B 24 schwimmen. Zurück
  6. Krumme, Walther: Der Victorinus-Code Teil 1: Konstruktionsanalyse der Künstlersignatur im Oceanus-Mosaik in Bad KreuznachZurück
  7. Ebd. Zurück
  8. Krumme, Walther: Das Schulprojekt Römerschiff im Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Der Victorinus Code, Teil 3Zurück
  9. Krumme, Walther: Ein römisches Segelboot mit Dschunken-Segel im Oceanus Mosaik Bad Kreuznach. Nachweis des historischen Konstruktionsansatzes. Der Victorinus Code, Teil 2Zurück
  10. Wagenführ, Philip: Navigation in der nordeuropäischen Schifffahrt des Spätmittelalters. Instrumente und Methoden, Hamburg, Diplomica, 2015, S. 83. Zurück
  11. Luther, Andreas: Der Seekontakt zwischen Rom und Indien, https://www.fu-berlin.de/presse/publikationen/fundiert/archiv/2004_02/04_02_luther/index.htmlZurück
  12. Faller, Stefan: Taprobane im Wandel der Zeit. Das Sri-Lanka Bild in griechischen und lateinischen Quellen zwischen Alexanderzug und Spätantike. Stuttgart, Steiner, 2000, S. 57. Zurück
  13. Vgl. Exkurs: Der zergliederte Mast, in: Krumme, Walther: Der Victorinus-Code, Teil 3Zurück
  14. Wolfschmidt, Gudrun (Hrsg.): „Navigare necesse est“ – Geschichte der Navigation. Nuncius Hamburgensis – Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften, Bd. 14, Books on Demand, Norderstedt 2008, S. 26. Zurück
  15. Faller, S. 57. Zurück
  16. Krumme, Walther: Ein römisches Segelboot mit Dschunken-Segel im Oceanus Mosaik Bad Kreuznach. Nachweis des historischen Konstruktionsansatzes. Der Victorinus Code, Teil 2Zurück
  17. Stückelberger, Alfred: Der geographische Atlas des Ptolemaios, ein oft verkanntes Meisterwerk, S. 39 und 34, https://www.zobodat.at/pdf/JOM_149a_0031.pdfZurück
  18. Grosjean, Georges: Geschichte der Kartographie, Geographica Bernensia U 8, 3. Aufl. 2013, S.13  https://core.ac.uk/download/pdf/33073235.pdfZurück
  19. Krumme, Walther: Ein römisches Segelboot mit Dschunken-Segel im Oceanus Mosaik Bad Kreuznach. Nachweis des historischen Konstruktionsansatzes. Der Victorinus Code, Teil 2. Zurück
  20. Mittenhuber, Florian: Text- und Kartentradition in der Geographie des Klaudios Ptolemaios. Eine Geschichte der Kartenüberlieferung vom ptolemäischen Original bis in die Renaissance, Bern 2009, S. 329. Zurück
  21. Krumme, Walther: Ein römisches Segelboot mit Dschunken-Segel im Oceanus Mosaik Bad Kreuznach. Nachweis des historischen Konstruktionsansatzes. Der Victorinus Code, Teil 2Zurück
  22. https://web.rgzm.de/forschung/forschungsfelder/a/article/antike-hafenstaedte-im- spannungsfeld-politischer-oekonomischer-und-geomorphologischer-entwicklungenZurück
  23. Lorch, Richard: Some Remarks on the Almagestum parvum, in: S.S. Demidov, M. Folkerts, D.E. Rowe, C.J. Scriba (Hrsg): Amphora: Festschrift für Hans Wussing zu seinem 65. Geburtstag, Springer, Basel, 2013; S. 412. Zurück
  24. Stückelberger, S. 36. Zurück
  25. Krumme, Walther: Das Schulprojekt Römerschiff im Gymnasium an der Stadtmauer Bad Kreuznach, Der Victorinus Code, Teil 3Zurück