Bibliothek

Hilfe zur Selbsthilfe - Raiffeisens moderne Genossenschaftsidee für den ländlichen Raum

Der Original-Schreibtisch von Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Er befindet sich heute im Deutschen Raiffeisenmuseum in Hamm (Sieg). [Bild: Deutsches Raiffeisenmuseum/Sarah Traub]
Das Titelblatt von Raiffeisens Schrift über die Darlehnskassen-Vereine in der Erstausgabe aus dem Jahr 1866.[Bild: Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz]

Raiffeisens Idee von den Darlehenskassen darf nicht isoliert betrachtet werden. Es ging dabei nicht nur um die Vergabe von Krediten im heutigen Sinn. Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen seiner Zeit spielten bei Raiffeisens Genossenschaftsidee eine ebenso große Rolle. So war die Bildung der Bevölkerung für ihn eine wichtige Voraussetzung zur Überwindung der schwierigen Situation auf dem Land im 19. Jahrhundert.

Mit jeder Station seiner beruflichen Karriere entwickelte sich die Idee weiter. Der Weyerbuscher „Brodverein“ war noch keine Genossenschaft, sondern einer akuten Notlage geschuldet und nicht auf Dauer angelegt. Beim Flammersfelder „Hülfsverein“ und beim Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein sammelte Raiffeisen wichtige Erfahrungen. Die Vereine konnten nicht nur mildtätiger Natur sein. Neben den Wohlhabenden mussten auch die Nutznießer Mitglieder, d. h. Genossen sein. Nur so konnten sie Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Diese Erkenntnis setzte Raiffeisen bei der Gründung des Darlehnskassenvereins Anhausen am 27. März 1862 um. Als 1864 die Auflösung des Wohltätigkeitsvereins bevorstand, gründete er im gleichen Sinne den Heddesdorfer Darlehnskassenverein. Die Genossen hafteten nun solidarisch. Die Idee der tätigen Nächstenliebe und damit die Rolle der wohlhabenden Bürger beschränkte sich auf die Verwaltung als Vereinsvorsteher oder „Rechner“. Raiffeisen betrachtete den Anhauser Verein als vorbildlich für ländliche, den Heddesdorfer für gemischte Gebiete. Sie gelten als erste Raiffeisen‘sche Genossenschaften.

Nach seiner Pensionierung gab Raiffeisen im Buch „Die Darlehnskassen-Vereine …“ seine praktischen Erfahrungen weiter (1866, 5. Auflage 1887; ab 1883 auch in Kurzfassung). Die Neuauflagen informierten auch über „Consum-, Verkaufs-, Winzer-, Molkerei-, Viehversicherungs- etc. Genossenschaften“. Im Kontakt mit staatlichen Einrichtungen und Privatpersonen warb der Genossenschaftsdenker für seine Ideen.

Eine Zusammenarbeit mit dem Initiator städtischer „Vorschußvereine“, Hermann Schulze-Delitzsch (1808 –1883), kam nicht zustande. Deshalb schuf Raiffeisen eine eigene zentrale Genossenschaftsbank (1876) sowie den Anwaltschaftsverband ländlicher Genossenschaften (1877). Als dessen Generalanwalt vertrat und beriet er die Genossenschaften und ließ ihre Geschäftsführung prüfen. Ende 1888 umfasste der Verband bereits 423 Vereine.

Raiffeisens Vorstellungen von Genossenschaft wurden durch die Fürsten zu Wied beeinflusst und moralisch, politisch wie finanziell gefördert. Erstmals 1863 bat Raiffeisen den Fürsten Hermann um politische Unterstützung seiner Darlehenskassen. Mit dessen Sohn Wilhelm Fürst zu Wied tauschte er sich ab den 1870er-Jahren häufig aus. Auch sein Sohn Rudolf pflegte diesen Kontakt.

Raiffeisens Tod bedeutete einen Einschnitt für die Organisation. Seine Nachfolge als Anwalt und Leiter der Zentralkasse übernahm Theodor Cremer; 1889 wurde Rudolf Raiffeisen Generalanwalt. Amalie Raiffeisen blieb Mitgesellschafterin von Raiffeisen & Cons., die bis nach ihrem Tod bestand. Martin Faßbender, in den 1880er-Jahren im Streit mit Raiffeisen fortgegangen, reorganisierte um die Jahrhundertwende die Raiffeisen-Einrichtungen. Er wurde Raiffeisens erster Biograf.