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Kommerzienrat - was bedeutet das?

von Werner Krapp, November 2017

Nicht gerade besonders selten findet der Genealoge in einer Familie einen Kommerzienrat. - Was bedeutet dieser Titel und wie kam er zu Stande?

In Meyers Konversations-Lexikon von 1868 steht kurz und knapp:

Kommerzienrath, Titel für angesehene Kaufleute. Kommerzienräte waren in Deutschland einmal Schlüsselfiguren des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Sie besaßen Brauereien, Fleischfabriken oder Verlage, wirkten als Direktoren, Bankiers oder Großkaufleute. Und sie waren Spender und Mäzene, die für Waisenhäuser, Armenstiftungen und Schulen, für Denkmäler und Kunstsammlungen, für Kirchenglocken, patriotische Zeitungen und vieles andere Geld gaben; viel Geld. Denn das war eine Voraussetzung, um den Titel zu bekommen.“ [Anm. 1]

Bereits seit 1690 ist der Titel nachweisbar.[Anm. 2]  In Bayern erst 1880 offiziell eingeführt[Anm. 3] und bis 1929 verliehen (in Deutschland bis 1919). Er war ein Bestandteil des Namens, er hob den Einzelnen aus der Masse der titellosen und unstudierten Mitbürger hervor. [Anm. 4]

Es war ein Ehrentitel, mit keinerlei öffentlicher Funktion verbunden. Zudem war er letztlich käuflich (nach „erheblichen Stiftungen für das Gemeinwohl“) etwa dem Gegenwert eines ansehnlichen Hauses entsprechend! – Darüber hinaus wurde erwartet, dass sich der Antragsteller Verdienste für die Allgemeinheit erworben hatte, was etwa durch den Ortsbürgermeister gegenüber der vorschlagenden Institution, etwa dem Handelsministerium, zu begründen war. Der Vorteil für den so Ausgezeichneten lag gewiss in dem damit verbundenen Renommee, dem Reputationsbedürfnis der damaligen bürgerlichen Gesellschaft entsprechend. Sicherlich galt auch ein Geschäftsmann, der sich den Titel leisten konnte als solide, was seine geschäftlichen Unternehmungen begünstigt haben dürfte. „Kommerzienrat“ wurde als Seriositäts-Garantie empfunden.

Mit dem Ende des 1. Weltkriegs wurden alle Titel, insbesondere Adelstitel, abgeschafft. Dennoch hat Bayern die für den Staat ja durchaus lukrative Titelvergabe weitergeführt (von 1920-1925 in 318 Fällen, wobei das bislang vorangestellte „kgl. bayer.“ dann durch „bayer.“ ersetzt worden war), bis diese Praxis, unter Bezug auf die Weimarer Verfassung (Artikel 109 Absatz 4, „Titel dürfen nur verliehen werden, wenn sie ein Amt oder einen Beruf bezeichnen; akademische Grade sind hierdurch nicht betroffen.“) in einem Prozess vor dem Reichsgericht 1929 endgültig unterbunden wurde, da sich Bayern mit seiner Auffassung, dass der Titel berufsbezogen sei, nicht durchsetzen konnte. Heute wird nur in Österreich der Titel des Kommerzialrates nach wie vor verliehen. 

1962 wurde im bayerischen Landtag versucht, alte bayerische Titel wie den Kommerzienrat im Sinne der „Intensivierung eines lebendigen Verhältnisses zwischen Staat und Bürgern“ wiedereinzuführen. Ein Gutachter war der Auffassung, dass sich die Verfassungsgeber hinsichtlich des, für ein solches Vorhaben hinderlichen Verfassungssatzes: „Titel sollen außerhalb von Amt oder Beruf nicht geführt werden“, über den „platonischen Charakter dieses Wunschsatzes weitgehend im Klaren waren.“ [Anm. 5]

Heute ist nach § 2 des Ordensgesetzes der Bundesrepublik Deutschland der Bundespräsident berechtigt nach Maßgabe eines Gesetzes Titel zu vergeben. Da aber kein entsprechendes Gesetz erlassen wurde, werden Titel nur auf Landesebene vergeben, etwa Kammersänger, Justizrat, Sanitätsrat oder Ökonomierat. [Anm. 6]

[Bild: Privatarchiv Ursula Baum-Korz/Neustadt]

Exemplarisches nun das Beispiel einer Kommerzienrat-Ernennung aus der „Spätzeit“ dieser Praxis (1924).  - Robert Hendel (1870-1929), ein Neustadter Geschäftsmann, war zunächst Geschäftsführer der Feinkost-Firma Rippert in der Rathhausstraße.[Anm. 7]  Später übernahm er diese (und hat dann den Titel „kgl. bayer. Hoflieferant“ geführt), sowie die Rathaus-Drogerie (Ecke Turmstraße) und Rathausstraße 6, heute oft als „Kuby´scher Hof“ bezeichnet - alten Neustadtern aber als  „Hendel´scher Hof“  geläufig.[Anm. 8]   Bei  Renovierungsarbeiten  in  den Jahren ab 1985 wurde auch eine schön geschnitzte Inschrift am Giebelbalken des Fenstererkers vom Westgebäude frei gelegt: „Robert u. Luise Hendel - u. Tochter Käte. - 1911.“ in Erinnerung an die Geburt der Tochter Käthe 1903 im Erkerzimmer.

Die Fridericus-Drogerie in der Friedrichstraße, heute ein Café-Haus, hat er gebaut; sie wurde von 1927-2001 betrieben. Ferner war er kaufmännischer Direktor und Miteigentümer der Demeta, einem metallverarbeitenden Betrieb mit ca. 100 Arbeitern und Angestellten, in der Amalienstraße. Dies und dass er im Mai 1924 („aus Anlass seiner silbernen Hochzeit“, wie er selbst angibt) zur Finanzierung des, jedem Neustadter vertrauten Kriegerdenkmals in der Hauptstraße[Anm. 9]  mit den Namen von 500 gefallenen Mitbürgern[Anm. 10] 20.000 Goldmark gespendet hat,[Anm. 11] wurde vom damaligen Ersten Bürgermeister von Neustadt, Dr. Richard Forthuber, gegenüber dem Handelsministerium zum Ausdruck gebracht. Für seine Ernennung zum „bayer. Kommerzienrat“ 1924 waren aber insbesondere sein Vorsitz im Handelsgremium und seine Mitgliedschaft in der Handelskammer Ludwigshafen von Bedeutung. 

Interessant sind die zeittypischen Formulierungen in seinem Dankschreiben. Auch spielte die damalige Abriegelung der Pfalz durch die franz. Besatzung vermutlich eine Rolle; München war sicherlich an einer Stärkung „treu-deutsch“ gesinnter Bevölkerungskreise gelegen.

[Bild: Privatarchiv Ursula Baum-Korz/Neustadt]

Fünf Jahre später ist der tätige Mann einem Krebsleiden erlegen, das er mit einer damals propagierten Methode durch ein Radium-Präparat zu behandeln versucht hat; Bestrahlungseinrichtungen in einer Klinik (Gammatron) gab es damals wohl noch nicht. Diese Therapie hat, wie er einmal schrieb, einen wesentlichen Teil seines Vermögens verschlungen.  [Anm. 12]

Seine Frau Luise wurde in Postadressen noch nach dem Zweiten Weltkrieg als „Frau Kommerzienrat“ bezeichnet, da es früher üblich war, die Gattin eines Titelträgers mit dessen Titel anzusprechen.[Anm. 13]  Es ist nicht bekannt, ob jemals eine Frau mit dem Titel „Kommerzienrätin“ ausgezeichnet wurde.  [Anm. 14]

Im Wohnhaus von Robert Hendel, der Villa „Waldpforte“ in der oberen Karolinenstraße, lebt inzwischen die fünfte Generation, doch haben sich nur wenige Unterlagen aus seiner Zeit dort erhalten; Einquartierungen in der Besatzungszeit mögen ein Grund dafür sein. Glücklicherweise waren aber erhellende Schriftstücke aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München als Kopien zu bekommen.

Hinweise auf einen „gewissen Pomp“ zur Titelverleihung, wie eine attraktive Urkunde oder ein offizieller Empfang vor einem höheren Regierungsvertreter lassen sich der „Acte Hendel, Robert“ des Staatsministeriums nicht entnehmen - vielleicht gab es Schwierigkeiten von München aus in die damals französisch besetzte Pfalz hineinzuregieren(?).[Anm. 15] In seinem Dankschreiben bezieht sich der neu Ernannte lediglich auf ein, in einem nüchternen Kanzlei-Stil abgefasstes Schreiben der Regierung des Freistaates Bayern, in dem er sich aufgelistet findet, neben weiteren 95 neu ernannten Kommerzienräten. Darunter Weingroßhändler Georg Böhm, Fabrikant Philipp Helfferich, Weingroßhändler Wilhelm Lingenfelder, Bankdirektor Heinrich Kohl und Fabrikdirektor Karl Theodor Zwick, alle in Neustadt a. d. Haardt (im Anschluss an 18 „Geheime Kommerzienräte“; diese waren „hoffähig“, hatten mit ihren Familien offiziellen Zugang zum kgl. Hof).

Eine aus demselben Ernennungsjahr (1924) von der gleichen Behörde ausgestellte Urkunde findet sich im Internet.[Anm. 16] Der damit Ausgezeichnete betrieb jedoch seine Firma in Neuburg a. d. Donau! (Das Unternehmen wirbt noch heute mit dem Kommerzienrat-Titel des Firmengründers, „Große Ehre: Die Ernennung zum Kommerzienrat“) Noch weitaus pompöser präsentiert sich freilich eine 1904 vom Bayerischen Hofamt veranlasste Ernennungs-Urkunde.  [Anm. 17]

Des Weiteren fällt auf, dass in der bereits erwähnten kleinen Jubiläumsschrift der Stadt von 1925 das Kriegerdenkmal in der Hauptstraße auf zwei Seiten ausführlich besprochen wird,[Anm. 18] jedoch ohne Hinweis auf dessen Finanzierung. Die offensichtliche Häufung der Ernennungen in den zwanziger Jahren hat wohl schon damals erkennen lassen, dass die Praxis der Titelvergabe vor ihrem Abschluss stand. Zu den nicht gerade wenigen Namen anderer Neustadter Bürger, die in jener Zeit zu Kommerzienräten ermannt wurden, sind keine konkreten Zusammenhänge mit deren Spenden öffentlich bekannt geworden. Auch dies mag als ein Hinweis auf eine betont „geräuschlose“ Behandlung der Ernennungen im besetzten Teil Bayerns gesehen werden. Zur Frage, warum offenbar nie eine Ernennungsurkunde ausgestellt wurde ist zudem zu bedenken, dass im Jahr der Titelverleihung die Separatistenherrschaft recht dramatisch zu Ende ging und erst am 30.8.1924 durch das Londoner Abkommen die deutschen Behörden wieder uneingeschränkt eingesetzt waren. [Anm. 19]

Typisch für die innenpolitische Ausrichtung der Staaten im 19. Jh. war ganz offensichtlich eine fein abgestufte Einbeziehung des Bürgertums in das monarchische System bereits unterhalb des „v. Müller / v. Meyer-Adels“,[Anm. 20] mit dem sich der Hochadel vor seinem Untergang zu retten versuchte. So sollte verhindert werden, dass sich Persönlichkeiten aus der bürgerlichen Schicht bereit fanden an der Spitze revolutionärer Bewegungen zu agieren. Letztlich hatte ja das 1832 und 1848 aufmuckende Bürgertum zumindest vordergründig seinen Frieden mit dem Adel dann auch gefunden.  Waren es nicht z. T. die gleichen, die in ihren jungen Jahren „Fürsten zum Land hinaus.“ und dann später „Heil dir im Siegerkranz“ gesungen haben?

Unser Heute wird bestimmt durch eine allgemeine Gleichmacherei. Das reicht von Unisex-Ehen bis zur Gleichsetzung von Fahrbahn und Gehsteig (wie etwa vor dem Dom in Speyer). 

Früher hat man Unterschiede nicht negiert; es gab Persönlichkeiten, sozusagen mit „Landmarken“-Charakter, die sich von der Masse abgehoben haben - so eben auch die Kommerzienräte.

Die mit dem Titel Kommerzienrat assoziierte Geruhsamkeit der alten Zeit ist vergangen. Manch einer mag sich noch an den in bürgerlichen Kreisen beliebten, 1877 erschienen Roman von E. Marlitt „Im Hause des Kommerzienrats“ oder an Fontanes, allerdings eher gesellschaftskritischen Roman, „Frau Jenny Treibel“ erinnern. - Heute gibt es nur noch die Erinnerung an Kommerzienräte und sucht man im zeitgemäßen Informationsmedium unter „Kommerzienrat“, so wird man womöglich als erstes auf ein so benanntes Kultlokal aufmerksam gemacht.

An die Stelle des „Kommerzienrats“ ist heute wohl das Bundesverdienstkreuz getreten, das zwar ohne zu spenden, aber doch wohl für Interessierte auch nur gestützt auf eine agile Anhängerschaft (die das Bundespräsidialamt belagert) zu bekommen ist.

Anmerkungen:

  1. http://www.br.de/radio/bayern2/bayern/land-und-leute/bayerische-kommerzienraete-krauss100.htm Zurück
  2. http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~cd2/drw/e/ko/mmer/zrat/kommerzrat.htm Zurück
  3. Schumann, Dirk, Bayerns Unternehmer, S. 271 u. 250f, gef. bei books.google.de Zurück
  4. http://www.br.de/radio/bayern2/bayern/land-und-leute/bayerische-kommerzienraete-krauss100.html Zurück
  5. Neue „Räte“-Republik, ZEIT ONLINE, 16. Februar 1962. Zurück
  6. https://de.wikipedia.org/wiki/Nichtakademischer_Titel#Deutschland Zurück
  7. Dochnahl, Tavernier, Krapp: Chronik von Neustadt, 210, S. 404 (1893). Zurück
  8. K. Tavernier in „Unsere Heimat Neustadt an der Haardt 1275-1925 Jubiläumsausgabe der Stadt“, S. 67. Zurück
  9. Dochnahl wie Anm. 7 S.473 (1925) und Reich wie Anm. 8, S. 82f. Zurück
  10. G. Ziegler in Neustadt an der Weinstraße, Beiträge zur Geschichte einer pfälzischen Stadt, Neustadt 1975, S. 434. Zurück
  11. Zum Vergleich: Die erste der Villen in der Neustadter Hauber-Allee wurde 1939 für 16.000 Reichsmark verkauft. - Ab dem 30. August 1924 endete die Große Inflation mit der Einführung der Reichsmark endgültig. Dabei entsprach 1 Reichsmark wiederum 1 Goldmark.) [http://www.inflation-deutschland.de/w%C3%A4hrungsreform.html] Zurück
  12. 1 g Radium kostete damals etwa 150.000 RM. - (Aus Angst vor der Strahlung weigerten sich die meisten Taxifahrer ihn zwischen Neustadt und einer Klinik in Mannheim zu befördern.)  Zurück
  13. Fast schon grotesk erscheint uns Heutigen die Bezeichnung „Prinzessin Ludwig“ für die Gemahlin des Prinzen Ludwig und späteren Königs Ludwig III. [s. P. Spieß, Neustadt 1908: Prinzessin Ludwig - Königin Marie Therese zu Besuch, „Pfälzer Heimat“ 66, Heft 1, S. 35]. Zurück
  14. Im Titel-verliebten Österreich muss der erworbene Dr.-Titel einer Frau mit dem Zusatz „aus eigenem Recht“ zum Ausdruck gebracht werden, will sie sich von der Gattin eines promovierten Mannes unterscheiden.  Zurück
  15. S. dazu: Helmut Gembries, Bayerische Zentralstelle für pfälzische Angelegenheiten [„Pfalzzentrale“], 1919-1924, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: (3.04.2016). Zurück
  16. https://www.hoffmann-mineral.de/Unternehmen/Geschichte/1924 Zurück
  17. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Urkunde_Kommerzienrat_August_Pschorr.png Zurück
  18. A. Reich in „Unsere Heimat Neustadt an der Haardt 1275-1925 Jubiläumsausgabe der Stadt“, S. 82. Zurück
  19. G. Ziegler in Neustadt an der Weinstraße, Beiträge zur Geschichte einer pfälzischen Stadt, Neustadt 1975, S. 448. Zurück
  20. Hohe Regierungsbeamte oder Militärs bürgerlicher Herkunft konnten einem Adelsprädikat damals wohl kaum entgehen. Zurück