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1945 - Kriegsende und Neubeginn in Alzey und Umgebung

Anmerkungen zu einer Sonderausstellung des Museums der Stadt Alzey (28.4. - 11.6.1995)

von Rainer Karneth

Am 20. März 1995 jährte sich zum 50. Mal das Ende des Zweiten Weltkrieges in Alzey. An diesem Tag wurde die Stadt, nachdem sie in der Nacht vom 19. auf den 20. März 1945 noch einmal unter Beschuss genommen worden war, kampflos den Amerikanern übergeben. Die Schreckensbilanz der Kriegsjahre für Alzey lautete: 90 Tote unter der Zivilbevölkerung, wobei noch einmal 14 Personen nach der Besetzung durch die Amerikaner infolge ihrer Verletzungen starben; 430 Alzeyer ließen als Soldaten ihr Leben bzw. gelten als vermisst. Durch Luftangriffe wurden in den Kriegsjahren 1940-1945 34 Wohnhäuser total zerstört, 40 teilweise und 198 nur leicht beschädigt; außerdem wurden 4 öffentliche Gebäude, 15 Handels- und Industrieunternehmen und 7 landwirtschaftliche Anwesen mehr oder weniger stark in Mitleidenschaft gezogen. Der Gesamtzerstörungsgrad der Stadt Alzey betrug - diese Zahlen zugrundegelegt - etwa 16 Prozent.

Wenn sich die Bilanz für Alzey auch keineswegs so apokalyptisch liest wie für die benachbarten Städte Mainz oder Worms, so entlastet dies keineswegs von der Auseinandersetzung mit dem Geschehen und den Ereignissen vor 50 Jahren, den daraus resultierenden Folgen und den Ursachen, die dazu führten.

Mit fachwissenschaftlichem Anspruch und auf einem dementsprechenden Niveau angesiedelt, leistete dies das vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz in Verbindung mit der Stadt Alzey und dem Altertumsverein für Alzey und Umgebung ausgerichtete 7. Alzeyer Kolloquium zum Thema "Kriegsende und Neubeginn. Westdeutschland und Luxemburg zwischen 1944 und 1947".

Einer lokalen Sicht der Dinge hingegen war die vom Museum der Stadt Alzey erarbeitetete und im Rahmen des Kolloquiums eröffnete Sonderausstellung „1945 - Kriegsende und Neubeginn in Alzey und Umgebung“ verpflichtet. Ihrem Anspruch nach bescheiden, bot sie jedoch den Vorzug, sich vor Ort im Fokus der lokalen Perspektive persönliche Erfahrungen und Sichtweisen und die wissenschaftliche Aufarbeitung leichter zu einer befruchtenden Verbindung zusammenfinden können.

Wie schwer dies jedoch sein kann, zeigte auch und gerade die durch die überbordende mediale Dauerpräsenz des Themas "50 Jahre Kriegsende" entfachte, bisweilen allzu aufgeregt geführte Debatte um die Bewertung dieses Jahrestages, die - zumindest hintergründig - auch die Alzeyer Tagung bestimmte. Angelpunkt der Kontroverse war dabei die Frage, ob und inwieweit sich die deutsche Kapitulation als Niederlage oder als Befreiung verstehen lässt bzw. verstanden werden muss. Ein besonderes Gewicht erhielt sie zudem dadurch, dass mit der Antwort auf diese Frage häufig zugleich eine vorschnelle moralisch-politische Etikettierung und Zuordnung verbunden wurde, wie sie etwa Heinrich Böll in einem fiktiven öffentlichen "Brief an meine Söhne" formulierte: Ihr werdet die Deutschen immer daran erkennen können, ob sie den 8. Mai als Tag der Niederlage oder Befreiung bezeichnen.

Betrachtet man sich die Debatte etwas genauer, erweist sich ein Großteil der Kontroverse sehr schnell als Scheingefecht, sofern man nur klar und deutlich die Ebene benennt, auf der die Diskussion jeweils geführt wird.

Da ist zum ersten die Ebene der persönlichen Erfahrung, der Betroffenheit. Die Sicht der Ereignisse und Dinge ist hier im wesentlichen subjektiv und zudem vielfach stark gefühlsgetönt. Die Antworten, die man hier auf die Frage erhält, wie das Kriegsende erfahren und erlebt wurde, reichen von der Einschätzung, daß mit dem Kriegsende eine Welt und damit ein Glaube zusammengebrochen sei, bis zur Erleichterung darüber, daß der Schrecken des Krieges, vor allem die langen und zermürbenden Stunden im Luftschutzkeller nun endlich - bei allem, was die Zukunft bringen mochte - vorbei waren. Daneben gibt es sicherlich auch denjenigen, der den Einmarsch der Alliierten als wirkliche Befreiung von den Bedrängungen eines totalitären Regimes erfuhr und erlebte.

Da ist zum anderen die Ebene der historisch-fachwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema Kriegsende, die versucht, objektivierend und analytisch das Geschehen zu beschreiben und zu erklären, wobei auch und gerade die subjektiven Sichtweisen der Zeitzeugen selbst zum Gegenstand des wissenschaftlichen Raisonnements werden. Und schließlich ist da zum dritten die Ebene unserer offiziellen bzw. offiziösen Erinnerungspolitik, die bemüht ist bzw. sich bemüht, mittels stetiger „Arbeit am nationalen Gedächtnis“ die kollektive Identität resp. das kollektive Bewusstsein unserer Nation zu bestimmen und festzulegen. Hierbei spielen neben Versatzstücken, die den beiden anderen Ebenen entlehnt werden, insbesondere moralische sowie politische Kategorien eine ganz entscheidende Rolle.

Vieles von der Aufgeregtheit der aktuellen Debatte würde sich sicherlich legen, wenn sich die Diskutanten immer klar wären und sich Rechenschaft darüber ablegen würden, auf welcher der genannten Ebenen sie sich argumentativ bewegen.

Versucht man die Alzeyer Ausstellung in dem skizzierten Ebenenmodell zu platzieren, so wird man sie - mit Abstrichen - auf der zweiten Ebene, d.h. derjenigen einer wissenschaftlichen Sicht der Dinge zu verorten haben. Zwar war der ursprünglichen Konzeption der Ausstellung nach geplant, wesentlich stärker die erste Ebene, die der subjektiven Erfahrungen, herauszustellen, doch auf Grund der zur Verfügung stehenden Exponate ist dies nur in Anklängen gelungen. Sicherlich fanden sich hier und da in den Ausstellungsrahmen Schriftstücke und Bilder bzw. in den Vitrinen Gegenstände, an die sich für diejenigen, die die Zeit miterlebt haben, Erinnerungen und Gefühle knüpfen: so z.B. die noch vorhandenen Reste aus einem CARE-Paket. Was jedoch nicht ausgestellt werden konnte und wohl auch nicht kann, ist die Freude, die Dankbarkeit, die sich damit verbanden, oder aber auch der verletzte Stolz angesichts solcher Gnadengaben. Insofern war die Ausstellung gekennzeichnet von einer Distanz zu den unmittelbaren Erfahrungen und zum Erleben der Zeitgenossen, die auch durch die detailgenaueste oder originellste Rekonstruktion bzw. Inszenierung letztlich nicht überbrückt werden kann. Hinzu kommt, dass es sich bei dem Gros der Ausstellungsstücke um Flachware handelte, hervorgegangen aus dem Verwaltungshandeln verschiedenster Behörden und Ämter - sei es der Militärregierungen, sei es der Stadt- oder Kreisverwaltung.

Das Ziel einer solchen Ausstellung und die damit verbundene Intention konnte mithin nur heißen, mittels der Exponate der älteren Generation der Zeitzeugen eine Brücke zu den eigenen Erinnerungen zu bauen und diese einzuladen, sich im distanzierten, im Licht der wissenschaftlichen Feststellungen gebrochenen Rückblick mit den eigenen Erfahrungen und Erlebnissen jener Jahre auseinanderzusetzen. Auch für die Nachgeborenen, die diese Zeit selbst nicht erlebt haben, sollte durch die Ausstellung ein möglichst anschaulicher Zugang geschaffen werden, wobei insbesondere sie auf die museumsdidaktische und -pädagogische Vermittlung angewiesen sind, da bei allem Nimbus der Geschichte, der die Exponate umgibt, letztlich nur so ein Verständnis für die historischen Zusammenhänge und damit ein "Bild der Zeit" - wie vage dies auch immer bleibt - gewonnen werden kann.

Der zeitliche Rahmen der chronologisch aufgebauten Sonderausstellung erstreckte sich von der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1932/33 über die Besatzung der Amerikaner und Franzosen bis zur Rückkehr des letzten Alzeyer Kriegsgefangenen 1955. Dabei wurde die Chronologie zugleich in Bezug zu Ursache-Wirkungs-Zusam­menhängen gesetzt. Denn weder sollten die Gründe, die beinahe weltweit zu millionenfachem Tod und Zerstörung führten, unthematisiert bleiben, noch sollte das Leid der deutschen Bevölkerung, auch das der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, durch eine allzu einfache Schuldzuweisung negiert werden.

Im einzelnen wurden folgende Themenbereiche aus- und vorgestellt: Der Anfang vom Ende - die nationalsozialistische Machtergreifung; Luftkrieg und Luftverteidigung; das Ende des Krieges in Alzey und Umgebung; Bilanz des Krieges; die amerikanische und französische Besatzung; Requisitionen; die Versorgungslage; Kultur statt Brot; die Entnazifizierung; der politische Neubeginn; das Kriegsgefangenenlager Bretzenheim; ein Alzeyer Spätheimkehrer - das Beispiel Fritz Hess; die Währungsreform; Flucht und Vertreibung; Zeitgeschichte philatelistisch.