Bacharach am Mittelrhein

Ein Denkmal erhebt Anspruch - Weg einer Bürgerinitiative - von Peter Keber

Alte Ansicht der Werner-Kapelle

Voller Tragik die Vorgeschichte: 1287 wurde der Knabe Werner aus Oberwesel in Bacharach ermordet aufgefunden. Die Tat lastete man ohne vernünftigen Grund den Juden an. Sofort setzte eine wilde Judenverfolgung ein. Gleichzeitig pilgerten ganze Volksmassen zum Grabe des als Märtyrer verehrten Werner, sodass man sich gezwungen sah, um die Ursprungskapelle herum einen größeren und prächtigeren Neubau zu errichten. Diese tragische Vorgeschichte wurde über Jahrhunderte genutzt, um Stimmung gegen die Juden zu machen - zuletzt verstand es Propagandarorgan des Nationalsozialismus „Der Stürmer“ noch im Jahr 1939 mit dieser Geschichte Hass gegen jüdische Mitbürger zu säen. Die kunsthistorische Bedeutung der Wernerkapelle als hochgotisches Kunstwerk ist unbestritten. Trotz der über 100-jährigen Bauzeit wurde der ursprüngliche Baugedanke unverfälscht verwirklicht. Man hat sogar den Eindruck, dass 1425 die Vollendung nicht wegen der Verehrung des Knaben Werner, sondern wegen der als besonders kostbar empfundenen hochgotischen Architektur angestrebt wurde. Obwohl diese kostbare Architektur über Jahrhunderte gelobt wurde, begann der wirkliche Ruhm bezeichnenderweise doch erst im dem Augenblick, als der uns heute vertraute Ruinenzustand eingetreten war (vgl. Prof. Dr. A. Wolff in „Lebendiges Rheinland-Pfalz 1984“). Nach der Zerstörung der Kapelle im Jahr 1689 entstanden noch vor 1790 die ersten Zeichnungen reisender Engländer, die als erste die Ruine entdeckten. Die Zeit der Rheinromantik begann. Diese hatte auf der verhältnismäßig kurzen Strecke zwischen Bingen und Koblenz ihren Ursprung. Ein Stück Kulturlandschaft, die es heute zu schützen und zu fördern gilt. Zu dieser Kulturlandschaft gehören sowohl die gewachsene Landschaft als auch das Zusammenspiel von Natur mit den Spuren des menschlichen Einwirkens in unterschiedlichen Epochen. Die Romantiker des 18. und 19. Jahrhunderts entdeckten dieses Zusammenspiel von Natur und Menschenwerk: Hier die Wildheit des noch unregulierten Flusses, die Schroffheit der Felsen und Burgruinen und dort das liebliche Bild der heiteren und malerischen Rheinstädte, mit kunstvollen kirchlichen und profanen Bauwerken.

Bacharach und die Wernerkapelle im Jahr 1689

Am Ende des Jahrtausends berichtet die Landesregierung des Landes Rheinland-Pfalz im Rahmen ihrer Bemühungen um Aufnahme der Kulturlandschaft Mittelrhein in die Liste des Weltkulturerbes der Unesco: „..., daß die Talbewohner sich heute für ihr kulturelles Erbe verantwortlich fühlen. Die Restaurierungs­arbeiten an einem der bedeutendsten Kulturdenkmäler am Mittelrhein konnte 1997 erfolgreich abge­schlossen werden.“ Diese erfolgreiche Rettung des Kulturdenkmals Wernerkapelle - eines der edelsten und reifsten Schöpfungen der Gotik in Deutschland - wurde zu Beginn der Initiative vor nunmehr 20 Jahren von vielen Zweiflern in Frage gestellt. Bereits kurz nach dem Europäischen Denkmalschutzjahr 1975 mahnten die Initiatoren die zuständigen Stellen, die offiziell für den Erhalt so bedeutender Kulturdenkmäler zuständig sind. Erst nach erwiesener Unfruchtbarkeit dieser Mahnungen sahen sich die Initiatoren gezwungen, selbst zu handeln. Als Bewohner der Kulturland­ schaft Mittelrhein sahen sie sich, abgesehen von der Selbstverständlichkeit, möglichst alle Überreste des Kunstschaffens vergangener Epochen zu bewahren, auch noch aus dreibesonderen Gründen veranlasst, die Ruine der Wernerkapelle zu erhalten: Ihre denkwürdige Entstehung im Zusammenhang mit wüsten Ausschreitungen gegen die Juden, ihre überregionale Bedeutung als hochgotisches Kunstwerk und ihre Rezeption im Zeitalter der Romantik. Alle drei Gründe, deren Entwicklung ein halbes Jahrtausend in engem Bezug zur Landschaft und den dort lebenden Menschen durchläuft, prägen eine Kulturlandschaft; der Zerfall eines solchen Kulturdenkmals wäre ein unwiederbringlicher Verlust.

In Bacharach beschreiben Romantiker wie Heinrich Heine, Victor Hugo oder Sulpiz Boisseree unter Einbeziehung der Wernerkapelle gerade in ihrem ruinösen Zustand diesen Höhepunkt romantischen Erlebens. Ist dies nicht Anlass genug, ein Denkmal, das sowohl das Stadtbild als auch die Kulturlandschaft prägt, mit Engagement und Ausdauer zu erhalten? Nach nahezu 20-jährigem ständigem ehrenamtlichem Einsatz ist es nunmehr gelungen, die beispielhafte Aktion erfolgreich abzuschließen. Beispielhaft deshalb, weil in den vergangenen 18 Jahren gut sechs Millionen Mark in den Erhalt der Ruine investiert wurden. Beispielhaft aber auch, weil die Initialzündung dafür von einer Bürgerinitiative, die sehr schnell einen privaten Verein, den Bauverein Wernerkapelle gründete, ausging. Dank der Beharrlichkeit seiner Mitglieder verstand er es, Bund, Land, Kreis, Stadt, Kirchengemeinde, Diözese Trier, Denkmalbehörden und Vereinsmitglieder an einen Tisch zu bekommen und das bedeutendste gotische Baudenkmal an diesem Rheinabschnitt für die Nachwelt zu erhalten. Mit einem Kooperationsvertrag zwischen Bauverein und Eigentümerin, der katholischen Kirchengemeinde von Bacharach, wurden 1981 die Weichen für die Restaurierung gestellt. Im maßgeblichen Bauausschuss waren zwei Mitglieder des Bauvereins vertreten, zwei aus der Kirchengemeinde, der Kölner Dombaumeister Professor Arnold Wolff, der Diözesan-und der Landeskonservator. Hier wurde Jahr für Jahr über die Verwendung der bereitgestellten Mittel entschieden. Vor allem die Ringanker für die beiden Chöre haben einen Großteil der sechs Millionen Mark verschlungen. 400 000 D-Mark hat übrigens der Bauverein beigesteuert. Beispielhaft aber auch deshalb, weil im Laufe dieser 20 Jahre nicht nur Steine restauriert wurden, sondern auch geschichtliche Zusammenhänge der zurückliegenden Jahrhunderte bis in die jüngste Vergangenheit aufgearbeitet wurden. Den Initiatoren der Restaurierung war es ein besonderes Anliegen, die Wernerkapelle in der heutigen Zeit als Mahnung zum geschwisterlichen Umgang zwischen Christen und Juden zu betrachten. An der Stelle des früheren Eingangsportals informiert ein in Stein gemeißelter Text nicht nur über historische Kurzdaten, sondern fordert vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte auch zum Nachdenken über eine bessere und friedvolle Zukunft auf.

Ostchor der Werner-Kapelle

Nur allzu oft scheitert ein friedvolles Zusammenleben an der Intoleranz der Menschen gegenüber dem Anderssein des Anderen, insbesondere gegenüber Minderheiten, sei es aus religiösen oder ethnischen Gründen. In diesem Sinne ist es auch als Zeichen zu werten, dass die ehemaligen Gegner des in Stein gemeißelten Textes nach 20 Jahren mit großer Zustimmung an dem christlich-jüdischen Gottesdienst, den die Geistlichen von vier Religionsgemeinschaften anlässlich des Abschlusses der Restaurierungsarbeiten gestalteten, tief gerührt teilnahmen. Es ist offensichtlich gelungen, dass nicht nur die Restaurierung der Steine in die Zukunft wirkt, sondern auch die Toleranz in den Köpfen der Menschen im Umgang miteinander gewachsen ist und hoffentlich noch weiter in die Zukunft wirkt. Das Engagement der Bauvereinsmitglieder wurde zwischenzeitlich mit dem Deutschen Preis für Denkmalschutz, dem Verdienstorden des Landes Rheinland-Pfalz sowie einem Europäischen Preis für Umweltschutz belohnt. Künftig wird die Wernerkapelle für kulturelle Veranstaltungen z. B. im Rahmen der Villa musica genutzt werden. Bis zum Erscheinen dieses Heftes kann vielleicht auch schon der erste Wein in dem von einem jungen Bauvereinsmitglied wieder rekultivierten unmittelbar an die Kapelle angrenzenden Steillagenweinberg geerntet werden - auch dies ein Anliegen der Landesregierung im Rahmen des Unesco-Antrags. Die Wernerkapelle Bacharach, ihr Umfeld, ihre Entstehung, ihre Entwicklung, ihre Zerstörung, ihre Rezeption in die Romantik, ihre Restaurierung, ihre Bedeutung und Mahnung für den Umgang der Menschen untereinander heute, auch im Zusammenspiel mit der einzigartigen Landschaft Mittelrhein, darf als wesentlicher Beitrag zum Welterbe Mittelrhein der Unesco betrachtet werden.

Text und Bilder: Peter Keber, Bacharach (aus: Lebendiges Rheinland-Pfalz 36/4 (1999), S.30-33).