Armsheim in Rheinhessen

Jugend unter dem Hakenkreuz - Das Dritte Reich in Rheinhessen

3.2 Die Jahre 1930 bis 1937

Bemerkung

In Kapitel 3.2. verarbeitete Eichberger im Rückblick frühe Kindheits- und Jugenderinnerungen. Dabei schildert er sowohl familiäre, als auch gesellschaftliche Ereignisse und Verhaltensweisen.

1930

Abbildung 4: Historische Postkarte der Gemeinde Lonsheim[Bild: Marc Amstad]
Abbildung 5: Das Gutshaus Jacobs (erbaut 1875) in Lonsheim[Bild: Marc Amstad]

Am 17. Februar 1930 wurde Rudi (Bruder Karl Rudolf) in Lonsheim geboren.

Ich war oft in Lonsheim bei den Großeltern [Anm. 1] Onkel Karl Jacobs und Tante Lenchen und es gefiel mir recht gut, meine Ferien-Zeit unter den Hühnern, Schweinen, Kühen, Pferden und dem treuen Schäferhund Senta zuzubringen. (siehe Abbildungen 4 und 5)

Abbildung 6: Theodor Eichberger in seinem Tretauto und Bruder Heinrich, 1930[Bild: Marc Amstad]

An Weihnachten brachte mir das Christkind ein tretbares Kinderauto, das nun meine Hauptbeschäftigung war. (siehe Abbildung 6)

1931

Mit Papa besuchte ich einmal die Seligenstädter Verwandten. Mit Papa besuchte ich selten, aber gerne die Verwandten in Seligenstadt, woher mein Vater stammte. Wir freuten uns schon auf die Bahnfahrt durch mehrere Tunnel bei Mainz. Wir gingen am Main und im Wald spazieren und kamen alsdann hungrig nachhause.

Um diese Zeit durchzogen viele Zigeuner bettelnd und mit ihren Wohnwagen unsere Dörfer. Auch durchwanderten Bärenfänger sowie Zigeuner mit ihren Affen, Kamelen und anderen Tieren unsere Umgegend.

In unserer Jugendzeit zogen noch Landstreicher mit ihren armseligen Wagen oder mit Fahrrädern durch die Lande. Sie wurden hier „Hare“ (wohl von Heiden abgeleitet) genannt. Auch eine Familie aus einem Nachbarort lagerte öfters bei uns in Armsheim am Ablagerungsplatz oder in Schimsheim unter der Eisenbahnbrücke bei Wind und Wetter. Ihre gebettelten Gewürze waren in der Jacke. Sie benötigten diese u. a. auch zum Schmackhaftmachen von getöteten Igeln, die sie in Lehm wickelten und buken. Wenn diese gar waren, entfernten sie den harten Lehm durch Abklopfen. Übrig blieb das gegarte Fleisch, das ihnen gut mundete und ihren Hunger stillte. Wenn es kalt wurde im Freien, wurde den „Haren“ so manches Brikett geschenkt, das das gesammelte Brennholz länger anhalten ließ. Als einmal so ein Fahrender krank wurde, half ihm unsere Familie mit einem warmen Deckbett, wodurch er leichter gesund werden konnte. Später wurde eine Familie im Dorf eingebürgert und verlangte bald für die Behausung eine Badeeinrichtung, die sie vorher nur vom Hörensagen gekannt hatten. [Anm. 2]

1932

Abbildung 7: Lehrer Robert Eichberger mit Schulkindern in Armsheim, 1920[Bild: Marc Amstad]

Bald kamen die ersten Schuljahre näher. 1932 kam ich in die Schule in Armsheim. Wir lernten noch die Sütterlinschrift. In den Pausen spielten wir „Geilches“. [Anm. 3] Ich war der Knecht meines Freundes Rolf Zimmermann, der allgemein „Chef“ genannt wurde. Ein Kinderfahrrad bekam ich an Weihnachten. Aber erst musste ich fahren lernen, was manchen Sturz verursachte.

In den Ferien war ich meistens in Lonsheim. Einmal, als Mama die Wallfahrt nach Trier zum heiligen Rock mitmachte, holten der Knecht, Rudi und ich die Pilger nachts um 1 Uhr in Alzey mit dem Fuhrwerk [Anm. 4] ab. Es war wunderschön, als die am Wagen hängende Stalllaterne die Wagenräder anstrahlte und deren Schatten an die Häuser warf.

In Lonsheim feierten wir auch immer das Margarethenfest mit. Das war immer ein hohes Fest. Eine Prozession ging durchs Dorf und zurück zur Kirche, wo dann die Andacht gehalten und die Predigt gehört wurde. Die teilnehmenden Geistlichen waren anschließend zum Festessen bei uns. In späteren Jahren sollte ich beim Tragen des Himmels [Anm. 5] aushelfen.

Auch die Lonsheimer Kerb wurde nicht minder gefeiert.

In diesem Sommer fuhren wir mit der Lehrerfamilie Bredel aus Schimsheim im Auto nach Niederheimbach und besichtigten den Märchenhain. Dabei erschreckte uns Rudi, als er sich auf einem Felsvorsprung sehr weit zum Abgrund wagte.

Um diese Zeit:

Während der Hitlerzeit hielt die SA abends ihren Unterricht im Schulsaal in Armsheim ab. Danach klauten die SA-Männer die süßen Birnen, deren Baum mein Vater Lehrer Robert Eichberger mitten auf den „Mädchenplatz“ gepflanzt hatte. Der Baum stand nicht weit von seinem Schlafzimmerfenster entfernt. Im ersten Schlaf aufgewacht, bemerkte der Lehrer den Mundraub, stand auf und verjagte die Diebe. Aber bald kamen sie wieder zurück. Da war guter Rat teuer. So hing mein Vater sein Nachthemd an das Fenster, sodaß die SA glaubte, er stünde da. Und siehe da, die Männer ließen den Birnbaum in Ruhe und den Herrn Lehrer auch.

Die Schulkinder durften während des Unterrichts die Kirschen vom Baum des Lehrers pflücken.

Die Hühner der Lehrerfamilie Eichberger ernährten sich gern von Frühstücksbroten der Schüler, die im Hühnerpferch gelandet waren. Dafür holte sich ein hungriger Schulbub öfters die dort gelegten rohen Eier.

Lehrer Balß war ein guter Lehrer. Er hat uns vieles regelrecht eingetrichtert. Aber wehe, wenn er gereizt wurde. Da bekam er Schaum vor den Mund. Einmal waren die Schüler ohne Erlaubnis schon in den dritten Schulsaal gestürmt und hatten ihre Schulranzen abgelegt. Das erfuhr der Herr Lehrer. Er raste die Treppe hinauf und warf die Ranzen aus dem Fenster hinunter in den Schulhof. Dabei wurde ein Bub von einem Ranzen unglücklich getroffen und schwer verletzt.

Als es noch keine Zentralheizung gab, mußten die Schulöfen mit Holz eingeräumt und lange vor dem Unterrichtsbeginn angezündet werden.

Der Herr Bischof hatte sich zur Firmung angemeldet und prüfte dabei im Religionsunterricht auch Lehrer Eichberger mit seiner Klasse. Vorher wurde schon tüchtig gebüffelt. Als es dann soweit war, mußte der Lehrer die Fragen stellen, und die Schüler schnickten wie besessen ihre Finger. Und tatsächlich, jedes Mal waren alle Arme der Schüler hoch in der Luft. Der Lehrer befragte dann die Kinder kreuz und quer, und der Bischof verabschiedete sich voll des Lobes und hocherfreut über das gute Zusammenarbeiten zwischen Lehrer und den Schülern. Er hatte ja auch nicht bemerkt, daß die Kinder, die die Antwort wussten, den rechten Arm oben hatten und die, die es nicht wussten, den linken Arm.

Mit einem Schüler hatte mein Vater seine Last beim Rechnen. „Also Johann,“ sagte er zu ihm, „wieviel ist fünf minus 3?“ Der Bub hatte es schwer und kam nicht drauf. „Nun, wenn du fünf Äpfel hast und gibst deiner Schwester drei davon, wie viele hast du dann noch?“, fragte der Lehrer nochmals. Da strahlte der Bub und war sich ganz sicher: „Ich geb kaa her, ich ess se all ellaa!“ Das war die Lösung. (siehe Abbildung 7)

Für die Abc-Schützen war es der erste Schultag. Jeder hatte sich in den Bänken einen Platz gesucht, gerade, wo einer frei war. Als auch die Religionsstunde drankam, ging Pfarrer Poth als Religionslehrer rings im Saal umher und wollte den Glaubenszustand der Kinder prüfen. Da stieß er auf Paulchen und fragte ihn: „Na, Kleiner, weshalb bist du hier auf Erden?“ Der Pfarrer wollte dafür die Antwort: „Um Gott zu loben und zu preisen und dafür in den Himmel zu kommen.“ Da stammelte das Paulchen: „Ei, weil in de Bank kaa Platz mee is“, denn alle Plätze waren inzwischen belegt und er saß auf seinem Schulranzen.

Mein Vater betreute die mittlere Klasse mit den schon groß gewachsenen Buben. Als einmal die Kollegin, das Fräulein Becker [Anm. 6], erkrankt war, beauftragte er die zwei größten Schüler, die in der hintersten Bank sitzen durften, es waren Heinrich Schaaf und Karl Becker, die lehrerlose jüngere Klasse zu beaufsichtigen. Nach der Pause fragte mein Vater die Jungen, ob und wie sie die andere Schulklasse überwacht hatten. Darauf gab einer von ihnen sogleich die Antwort: „Och, Herr Lehrer, mer hun e paar freche Bangert iwwers Knie geleet, grad wie Sie in de vorich Woch bei uns. Nor hummer kaa Rohrstäckelche gefunn, do hummer mit de Hand druff geschlaa.“

Während der Pause hatten sich die Schüler in den Schulsaal geschlichen und hielten eine Schwammschlacht ab. Da flogen die nassen Schwämme nur so hin und her. Dabei schlich sich ein Junge heimlich hinaus durch die Türöffnung. Das hatte einer bemerkt und wartete ab, bis der andere wieder zurückkommen sollte. Kaum war ein Kopf zu erkennen, flog auch schon der übernasse Schwamm zum Ziel. Jedoch war es nicht der Schädel des Schülers, sondern das Angesicht des Herrn Lehrers. Der Übeltäter musste dafür nachsitzen und Strafarbeit leisten. Er wurde später unser Kaplan, Pfarrer, Dekan und Geistlicher Rat – Pfarrer Best.

Früher waren der Lehrer und der Pfarrer die Respektspersonen im Dorf. Die Kinder gingen ihnen nach Feierabend aus dem Wege, um nicht getadelt und heimgeschickt zu werden. Doch manchmal drangsalierten sie die Schüler über die Maßen. Dafür wollten sich einmal Schulbuben aus Flonheim an ihrem Lehrer rächen. Als die Abendschule beendet war, gings diesmal nicht gleich auf den Heimweg, sondern die schon großen Konfirmanden lauerten ihrem Peiniger in einer Hoftornische auf und verdroschen ihren Lehrer nach Strich und Faden. Als der Lehrer dies seinem Direktor gemeldet hatte, wurden die schlagkräftigen Burschen auch wieder gezüchtigt. Aber dem Dorfschullehrer nahm kein Doktor die Hiebe ab, die er vorher schon verdientermaßen einstecken musste. Der Lehrer war übrigens mein Onkel.

Bekanntlich hat bei uns fast jeder in Armsheim einen Uznamen [Anm. 7], damit man weiß, wer eigentlich gemeint ist. Notfalls wurde er sogar von den Vorfahren übernommen. Der „Boddermartin“, ein ehemaliger Butterhändler mit Vornamen Martin, hatte einen Garten mit Obstbäumen angelegt, der am anderen Ende des Dorfes lag. Er nannte ihn „die Oolag“ [Anm. 8]. Mit einem umgeschnallten Riemen von der einen Schulter zur anderen Hüfte zog er sein Wägelchen dorthin, damit er seine Hände frei hatte für die beiden Krankenstöcke, die er benutzte. Als wieder einmal das Obst reif war, schlichen sich die beiden Buben „Stiwel“ und Hans, der später „Texas“ genannt wurde, in die Oolag und klauten Obst. Stiwel, weil er schon als Kind Stiefelchen ohne Schuhriemen trug, und Texas, weil er später in amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Texas war und gern von dort erzählte. Also, als sie sich die Früchte so richtig munden ließen, kam mein Vater mit seinem Jagdhund zufällig vorbei. Die Senta schlug sofort an, aber sein Herrchen als Jäger stellte sich taub und ging nichts sagend vorbei, als hätte er Scheuklappen auf den Augen. Anderntags rief er die zwei Buben aus der Schulbank hervor und fragte sie, wo sie gestern gewesen seien.

Einer sagte: „Ei beim Boddermartin im Gade.“

Vater fragte noch einmal: „In wessen Garten wart ihr?“

„Ei beim Boddermartin“, lautete die Antwort.

Der Schulmeister fragte dann ein Mädchen, das nicht weit von ihm wohnte:

„Wie heißt der gute Mann?“

Das Mädchen antwortete: „Göttelmann.“

Die beiden Lausejungen bekamen dafür eine Strafarbeit, die sie hundertmal schreiben mussten: „Ich habe nicht beim Boddermartin geklaut, sondern bei Herrn Göttelmann.“

Nicht so glimpflich ging ein ähnlicher Vorfall bei Lehrer B. ab. Das Obst war gerade so richtig saftig geworden, da schlichen sich der „Stiwel“ und der Otto Deubel ins Obstfeld und kauten an den Birnen nach Herzenslust. Dies hatte ein Pensionär von der Eisenbahn beobachtet und dem zufällig vorbeigehenden Schullehrer B. verraten. Anderntags entließ der Schulmeister seine Schulkinder aus dem Klassenraum und hielt die beiden Missetäter zurück. Zuerst schloss er die Tür des Schulsaals von innen ab und steckte den Schlüssel in seine Jacke. Dann verdrosch er zuerst den Otto nach Strich und Faden, ließ ihn hinaus, schloss zu, ließ aber, wohl versehentlich, den Schlüssel stecken. Dann kam der „Stiwel“ an die Reihe. Aber der rannte zwischen den Bänken fort und der Lehrer hinterher. Auf einmal sprang der „Stiwel“ über die Bänke zur Tür, schloss auf, nahm den Schlüssel mit, schloss auf der anderen Seite der Tür wieder zu und warf den Schlüssel aus dem Fenster in den Garten. Er lief wie ein geölter Blitz sogleich nachhause. Die Lehrersfrau hatte schon das Essen aufgetischt und wartete auf ihren Mann. Sie sah im Schulgebäude nach und hörte ihn schon im Saal toben, während auch die Schulklasse von außen das Spektakel verfolgte. Die Frau rannte zum anderen Lehrer, der dann einen Ersatzschlüssel besorgte und den Eingesperrten befreite. Der „Stiwel“ stellte sich eine Woche krank, die Mutter brachte die Entschuldigung. Als der Reißaus wieder zur Schule kam, war die Sache geritzt, und der Lehrer B. hatte sein Gefängnis vergessen. Der verdroschene Otto kam leider nicht mehr aus dem Krieg zurück.

1935

Am Weißen Sonntag am 8. April 1935 durfte ich die hl. Kommunion empfangen. Das war ein Freudentag weltlicher und geistlicher Art. Wir Kommunionkinder wurden am Pfarrhaus in Armsheim mit Fahnen und Kirchenmusik abgeholt und feierlich in die Kirche geleitet, und hier durften wir den lieben Heiland empfangen und in unser Herz aufnehmen. Daß bei diesen Kommunionkindern auch schon meine spätere Frau Lilli Schmitt dabei war, wußte ich damals noch nicht. An diesem Festtage waren viele Verwandte und Bekannte zu Gast, ein richtiges Sippentreffen. Da wurde gebacken und gekocht, gebraten und geschmaust.

Ohne genaues Datum, thematisch passend zu Kirche und Gottesdienst:

Die Beichte war für uns Kinder immer etwas Besonderes. Wenn am Samstag gegen Abend wir Kinder in den Bänken knieten, war der benachbarte Schmied noch lange nicht fertig mit seiner Arbeit in der Werkstatt. Von dort blitzten die Lichtstrahlen vom Schweißen durch die Kirchenfenster herüber und erstrahlten in kurzen Abständen wie ein herrliches Wetterleuchten. Das half uns Kindern, unsere „schweren Sünden“ in den Beichtstuhl hineinzutragen. Und nach der Losbesprechung war die Erleichterung umso schöner, wenn drüben der Hammer auf dem Amboß seine Töne erklingen ließ.“

Eines Sonntags hatte mein älterer Bruder Heini mich verleitet, den Gottesdienst, oder wie man bei uns sagt, die „Kerch“ zu schwänzen. Wir trieben uns stets in der Nähe herum, um ja nicht das Ende zu verpassen. Als es soweit war, reihten wir uns zu den Heimgängern ein, ohne zu ahnen, was die Folge war. Leider hatte uns eine sogenannte „fromme“ Frau verraten, weshalb wir „spürbar“ büßen mußten. Trotzdem und erst recht: Lobet den Herrn! – Und der Verräter ist schlimmer als der Täter.

Mein Vater konnte bei den Predigten gerne zuhören, aber wenn ein Prediger dauernd die Leute anschrie oder gegen die Welt donnerte, das konnte er nicht vertragen. Einmal sagte der Vater: „Wenn de Parre noch emol so tobt, geh ich schnurstracks haam!“ Aber „leider“ war der Pfarrer ab sofort so friedlich in seinen Worten, daß mein Vater keine Gelegenheit fand, sich zu verdrücken.

1935 An einem kalten Wintertag wollte ich mit meinem Freund Otto Martin aufs Eis der „Hartmannsbach“ zum Schlittschuhlaufen [Anm. 9], als ich auch schon einbrach. Ich war durch und durch naß und trocknete mich beim benachbarten Küfer Karl Fichtner am Werkstattöfchen. Anstatt sofort nachhause zu gehen. Das war ein großer Fehler.

An Weihnachten 1935 bekam ich ein „feines Weihnachtsgeschenk“. Am Nachmittag des Bescherabends [Anm. 10] veranstaltete unser Herr Pfarrer Poth ein Theaterstück in Schimsheim. Bei Schnee und Sturm stapften wir Kinder dann erwartungsvoll heimwärts. Doch nach der Bescherung traten bei mir solche Ohrenschmerzen ein, daß ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte und der Vater mich am zweiten Feiertag mit dem Taxi zum Arzt brachte, der Mittelohrentzündung feststellte. In Mainz wurde ich operiert und musste noch Wochen im Bett zubringen. Der Stundenschlag unserer Standuhr musste abgestellt werden.

Die Weinlese war immer schön. Wenn die Glocken läuten, gehen wir in die Wingert. Wir schneiden die Trauben in die Eimer und von hier kommen sie in die Butten, die die Männer auf dem Rücken tragen. Die Trauben werden nun in den Feldbütten gesammelt, in denen sie heimgefahren werden. Zuhause keltern die Winzer ihre Trauben. Nach dem Glockengeläut darf niemand mehr im Weinberg sein.

Früher wurden die Weinberge/Wingert kurz vor der Reife geschlossen, also gesperrt. Sie durften nur zu den erlaubten Zeiten oder mit Erlaubnis der Gemeindeverwaltung betreten werden. Erst ab dem morgendlichen Läuten vom Turm durften die Fahrzeuge mit Pferden, Kühen oder Schleppern die Wingert betreten. Beim Dunkelwerden läutete es wieder. So wurden die Wingert geschlossen. Zum Frühstück gab es Weck [Anm. 11] oder Kuchen. Zum Mittagstisch lag auf dem Boden auf einem Tischtuch allerlei Hausmacherwurst, Käse, Weichekäs [Anm. 12], Quellgrumbeere [Anm. 13] wurden von zuhause abgeholt oder gleich mitgebracht. Bei gastlichen Winzern gab es auch Schnitzel. Am Ende der Traubenlese wurde auch schon Bremser [Anm. 14] angeboten. Die Trauben wurden per Hand mit dem Scherchen [Anm. 15] abgeschnitten. Bei besonders fallenden Pergeln [Anm. 16] wurde sogar ein Kuchenblech darunter gehalten. Bei geizigen Winzern sollte viel gesungen oder gepfiffen werden, damit möglichst wenige Trauben gegessen wurden.

Beim Essen wurde auch mal Bier gewünscht. Dabei erging es einem Leser schlecht. Als er das Fläschchen halb ausgetrunken hatte, kam nichts mehr heraus. Er schaute und klopfte, bis schließlich ein Mauseskelett mit dem Rest herauskam. Das kam so: Eine Maus war in die leere Flasche geschlüpft, konnte aber nicht mehr heraus und wurde vom Bier beim Füllen konserviert.

Die Zeit im Wingert wurde durch das Vorbeifahren der Züge festgestellt z. B. Vier-Uhr-Zug.

1936

In der Hitlerjugend wurde ich automatisch aufgenommen [Anm. 17] am 1. Mai 1936 in den Bann 118/35.

Ostern 1936 wurde ich ins Jungvolk aufgenommen [Anm. 18] und ich kam in die Oberschule für Jungen in Alzey. Mit der Schule machte ich den Ausflug nach Rüdesheim mit. Von der Jugendherberge unternahmen die Lehrer mit uns Wanderungen nach dem Niederwalddenkmal und anderen Orten. Es war richtig romantisch, wenn die Rheindampfer nachts ihre Signale tuteten.

Als zehnjährige Buben waren wir 1936 begeistert von der Hitlerjugend mit Geländespielen, Zeltlager, Disziplin und dem verherrlichten Führer Adolf Hitler. Die laufenden Erfolge im Sudetenland, Einverleibung Österreichs, des Saarlandes, beim Krieg in Polen, Norden, Balkan, Afrika, auf dem Weltmeer bestärkten das. Erst viel später wurden wir eines Besseren belehrt. Was ist in Osthofen? Die Judenverfolgung, die Bekämpfung der Kirchen. Dann die vielen Quälereien und Opfer in den Konzentrationslagern. Dann erst begriffen viele das himmelschreiende Unrecht durch uns Deutsche, durch den Nationalsozialismus. Aber wir haben auch dafür viel büßen müssen ...

1937

Abbildung 8: Historische Postkarte, LZ 127 „Graf Zeppelin I“ wird an den Ankermast gebracht[Bild: Marc Amstad]
Abbildung 9: Historische Postkarte, LZ 129 „Hindenburg“, Ausfahrt zum Start nach Übersee[Bild: Marc Amstad]

Ein Jahr später besichtigte die ganze Familie den Zeppelin (siehe Abbildung 8) in Frankfurt (Main) "Graf Zeppelin", nachdem kurz vorher das Luftschiff LZ 129 ("Hindenburg") in Nordamerika abgebrannt war (siehe Abbildung 9). Auch besichtigten wir den zoologischen Garten mit den vielen Affenarten, Löwen, Pelikanen, Adlern und anderen einheimischen und fremden Tieren. Wir besuchten auch das Aquarium mit den vielen Fischen, Aalen usw. Im Garten war eine Rutschbahn, die uns Kindern viel Spaß bereitet hat.

Zum Jungvolk: In Neubamberg kämpften wir ein Geländespiel, das in dem Buch „frohes Wandern“ näher beschrieben ist. Als ich einem Hitlerjugendführer bei der Begrüßung mit Handschlag auch einen „Diener“ machte, also mit dem Kopf nickte, pöbelte der mich an, daß ein deutscher Junge keinen Diener mache, sondern dem Gegenüber klar in die Augen schauen soll.

Nachweise

Verfasser: Theodor Eichberger

Bearbeiter: Marc Theodor Amstad

Redaktionelle Bearbeitung: Ute Engelen, Stefan Bremler

Verwendete Literatur:

  • Landkreis Alzey-Worms (Hg.): Heimatjahrbuch Alzey-Worms 2017. Alzey 2016.
  • Deutsches Historisches Museum, Berlin: Lebendiges Museum Online. www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/besetzung-von-jugoslawien-1941.htm, Abruf: 13.09.2020. Und www.dhm.de/lemo/jahreschronik/1941 (Zeitstrahl), Abruf: 13.09.2020.
  • Eichberger, Theodor: Tagebuchaufzeichnungen.
  • Eichberger, Theodor: Von Aribosheim über Armsheim bis Armsem. Mosaik eines rheinhessischen Dorfes, Wörrstadt 1991.
  • Leiwig, Heinz: Flieger über Rheinhessen. Der Luftkrieg 1939 bis 1945, Alzey 2002.
  • Lottermann, Bruno Paul: damals und danach. Geschichten um Alzey und Alzey herum, Offenbach 2018.
  • Mahlerwein, Gunter: Rheinhessen 1816– 2016. Mainz 2015.
  • Weisel, Ludwig: Wallertheimer Heimatzeitung Nr. 5/1926, Wallertheim 1926.

Aktualisiert: 31.08.2021

Anmerkungen:

  1. Gemeint sind die Stiefgroßeltern Jacobs, die Eltern der Stiefmutter.   Zurück
  2. Entnommen aus den handschriftlichen Aufzeichnungen zu Armsheim, Band 1. Zurück
  3. Pferdegespann: Ein Kind spielt das Pferd, ein anderes den Kutscher/Knecht. Zurück
  4. Pferdefuhrwerk. Zurück
  5. Baldachin. Zurück
  6. Fräulein Becker war Lehrerin zwischen 1932 und 1933. Zurück
  7. Spitznamen. Zurück
  8. Mundartlich: die Anlage. Zurück
  9. Das Wasser kam vom Wiesbach. Kurz vor Armsheim zweigte ein Bachbett ab, das mit Wehr  geregelt wurde, bis zur Obermühle Hess/Zimlich. Das Endstück des Mühlkanals hieß im Volksmund die „Hartmannsbach“, weil dort vor der Mühle die Familie Hartmann wohnte. Zurück
  10. Heiligabend. Zurück
  11. Brötchen. Zurück
  12. Quark. Zurück
  13. Pellkartoffeln. Zurück
  14. Federweißer. Zurück
  15. Traubenernteschere. Zurück
  16. Einzelne Weintrauben. Zurück
  17. Vgl. Mahlerwein, G. (2015), S. 288 (Stichwort: ideologische Mobilisierung). Zurück
  18. Vgl. Mahlerwein, G. (2015), S. 288 (Stichwort: ideologische Mobilisierung). Zurück