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Touristische Entdeckungsfahrt oder Zwangsverschickung? Die Rekrutierung von "Ostarbeitern" und "Ostarbeiterinnen" im Überblick

von Norbert Kunz

Im Juli 1942 erschien in einer russischen Regionalzeitung ein Artikel über Frankfurt am Main, der mit den folgenden Sätzen endete:
"Das Stadtbild von Frankfurt am Main erscheint in sich als gelungene, harmonische Verbindung historischer Denkmäler und zur Gänze zeitgenössischer Gebäude. Das Viertel "Sachsenhausen", das am Mainufer gelegen ist, leitet seine Berühmtheit aus seinem ausgezeichneten Apfelwein ab. (…) Es geht das Gerücht, gerade in diesem Vorort könne man besonders viele gesunde und lebensfrohe Menschen antreffen."[Anm. 1]
Was auf den ersten Blick nach einem Lockversuch der hessischen Tourismusbranche klingt, war in Wahrheit 1941 bis 1944 propagandistisch-journalistischer Alltag in den von deutschen Besatzern kontrollierten Sowjetgebieten. Der Zweck dieser Art von Kulturvermittlung war ein überaus kriegswichtiger, nämlich die Förderung von freiwilligen Meldungen Einheimischer zur Arbeitsaufnahme im Deutschen Reich. Nicht zufällig findet sich in dem besagten Artikel zwischen einer Abbildung vom Frankfurter Römer und allerlei "Äppler"-Romantik der Hinweis, dass in der Metropole bereits viele Landsleute lebten und arbeiteten.[Anm. 2] Stadtansichten und Detailaufnahmen waren in dieser Sparte der deutschen Kriegspropaganda austauschbar, solange sie an die Sowjetbevölkerung nur die verborgene inhärente Botschaft vermittelten: Wer nicht nach Deutschland zum Arbeiten geht, der verpasst etwas.[Anm. 3]
Der wirtschaftspolitische Hintergrund solcher Lenkungsversuche ist gut erforscht. Mit dem Ausbleiben des "Blitzsieges" im Russlandfeldzug wuchsen sich die Anforderungen, die der Krieg in erster Linie an Rüstungswirtschaft und Gesellschaft im Reich stellte, ab Herbst 1941 allmählich zu einem Wasserkopf aus. Nicht nur der Bedarf an Kriegsgütern jeglicher Art stieg dramatisch an, sondern auch der an deutschen Soldaten. Eine Art Kreislauf war die Folge: Während mehr und mehr deutsche Arbeiter irgendwo etwa zwischen Nordrussland und dem Kaukasus an der Ostfront Militärdienst leisteten, verfiel man darauf, die im Reich vakant gewordenen Stellen mit Menschen vor allem aus eben jenen "Ostgebieten" aufzufüllen.[Anm. 4] Noch Anfang November verfügte der Wirtschaftsapparat unter Hermann Göring aber offenbar weder über Bedarfszahlen noch über ein letztlich wirkungsvolles Konzept zur Vorgehensweise.[Anm. 5] Die Reichsführung war von der neuen Kriegsrealität und ihren wirtschaftlichen Erfordernissen kurzerhand überrollt worden. So war auch das an sich riesige Potential an kriegsgefangenen Rotarmisten bis dahin fast gänzlich ungenutzt geblieben. Inwieweit die wirtschaftspolitische Raison im Ringen mit ideologischen Prämissen und militärischer Selbstüberschätzung dabei unterlegen war, verdeutlicht, dass allein bis Jahresende 1941 rund 2 Millionen sowjetische Gefangene in deutschen Lagern an Hunger und Krankheiten verstarben.[Anm. 6] Erst ab dem Frühjahr 1942 kam es mit der Inthronisierung des Gauleiters von Thüringen, Fritz Sauckel, als "Generalbevollmächtigtem für den Arbeitseinsatz" zur Systematisierung der deutschen Anstrengungen. Zu Hunderttausenden sollten nun sowjetische Zivilisten – Frauen wie Männer – ins Reich geholt werden. Zu ihrer Unterscheidung von anderen fremdländischen Arbeitskräften wurde für sie der gleich in mehrfacher Hinsicht stigmatisierende neue Terminus des so genannten "Ostarbeiters" künstlich geschaffen.[Anm. 7]
Schon bei der Ausarbeitung von Richtlinien für die Rekrutierung trafen Vorstellungen, deutschfreundliche Strömungen etwa in der Ukraine durch eine angemessene Politik zu honorieren, auf die dem diametral gegenüberstehende Forderung nach Zwangsaushebungen.[Anm. 8] Die Erlasslage jedoch orientierte sich hier mehr an der Zielsetzung – also dem Ertrag der Rekrutierung – denn an dem eigentlichen Weg dorthin. Die Verfügung, mit der das Oberkommando des Heeres (OKH) Mitte Mai die unterstellten militärischen Instanzen zur Zusammenarbeit mit den "Werbekommissionen" verpflichtete, kann dafür als beispielhaft gelten. Die künftigen Ostarbeiterinnen und Ostarbeiter sollten demnach gleichermaßen in den urbanen Zentren und auf dem Lande erfasst werden – sofern nur die landwirtschaftliche Produktion dadurch keine Einbuße erlitt. Der besondere Charakter der als "Anwerbung" verharmlosten Rekrutierung war dabei schon der Doppelzüngigkeit zu entnehmen, mit der das OKH einen angeblichen "Grundsatz der Freiwilligkeit" aufstellte: "Die Meldung zum Arbeitseinsatz im Reich soll grundsätzlich freiwillig sein. Wo die Zahl der Bewerber jedoch hinter den Erwartungen zurückbleibt, werden die betreffenden Gemeinden Mindestauflagen zu erfüllen haben. Daher muß der Bevölkerung durch überzeugende Werbemaßnahmen der Bürgermeister in geeigneter Form zum Bewußtsein gebracht werden, was ihre Pflicht ist."[Anm. 9] Das Grundsätzliche ging also noch mit der Formulierung des angeblichen Grundsatzes der Freiwilligkeit über Bord. Weitere Einschränkungen ökonomischer, sicherheitspolitischer, rassistischer oder völkischer Art gaben dem Unternehmen von Anfang an einen eigenen Anstrich. So durften zunächst Menschen unter 14 oder über 50 in der Regel ebenso wenig rekrutiert werden wie "politisch und kriminell Unzuverlässige, Asiaten und Juden" oder aber "Volksdeutsche". Die Gewähr hierfür hatten ärztliche und "abwehrmäßige" Untersuchungen zu übernehmen.[Anm. 10]
Die Umsetzung der gültigen Richtlinien in praktische Politik konnte durchaus variieren. Dies hing mit lokalen Faktoren zusammen, in erster Linie aber mit der Verschiedenheit der Verwaltungsstrukturen in den Ostgebieten. Grob vereinfacht gab es zwei grundlegend unterschiedliche Typen von Okkupationssystemen in den besetzten Sowjetgebieten. In den weiter zurückliegenden Gebieten herrschte in den so genannten "Reichskommissariaten" Ukraine und Ostland bereits eine "Zivilverwaltung" als langer Arm des "Reichsministers für die besetzten Ostgebiete" Alfred Rosenberg. In den näher zur Front gelegenen Regionen oblag die eigentliche Herrschaftsausübung hingegen dem Verantwortungsbereich der Wehrmacht.[Anm. 11] Sauckel war mit seinen Mannen trotz seiner "Sonderbeauftragung" durch Hitler formal in die mächtige Vierjahresplanbehörde Görings inkorporiert. Seine Beauftragten waren daher grundsätzlich gegenüber allen im Osten eingesetzten territorialen Behörden weisungsbefugt.[Anm. 12] Weil in den weitgehend als "befriedet" geltenden zivil verwalteten Gebieten bereits dem Landesaufbau ein stärkeres Gewicht zukam, trafen Maßnahmen zur Arbeitskräftebeschaffung hier eher selten auf nennenswerten Widerstand. Problematischer sah es teils in dem Territorium aus, welches das Militär kontrollierte. Je nach dem Gefährdungscharakter dieser Landstriche konnte die Machtstellung der bereits hierher entsandten Vertreter des GBA kraft der "vollziehenden Gewalt" der Militärbefehlshaber durch die militärischen Erfordernisse eingeschränkt werden. Deutlichstes Kennzeichen hierfür ist, dass Arbeitskräfteanforderungen der Truppe unter Zugrundelegung des "schärfsten Maßstabes" Vorrang genossen etwa vor "Werbemaßnahmen" für das Reich.[Anm. 13] Auf das Schicksal jener Millionen an "Zwangsarbeitern" in deutschen Diensten, die in ihrer Heimat verblieben oder aber innerhalb der "besetzten Ostgebiete" verschleppt wurden, kann hier nicht weiter eingegangen werden.[Anm. 14]
Lassen sie mich, bevor ich auf Einzelheiten der eigentlichen Rekrutierung zu sprechen komme, noch ein paar Sätze über die allgemeinen Lebensumstände in den von deutschen und verbündeten Truppen eroberten Ostgebieten verlieren. Vor allem in den ersten Wochen des Feldzuges wurden die neuen Herren von der quasi miterbeuteten einheimischen Bevölkerung immer wieder als "Befreier" von dem in mehrfacher Hinsicht als diskreditiert empfundenen kommunistischen System begrüßt. Mit dem Einzug der ersten Sendboten des neuen Regimes hatten die Menschen jedoch hinreichend Gelegenheit, sich ein eigenes Bild vom Grundcharakter der deutschen so genannten "Neuen Ordnung" zu machen. Nur stichpunktartig sollen im Folgenden ein paar markante Einschnitte im Besatzungsalltag angeführt werden, nämlich

  1. Die mehr oder weniger systematische Ermordung von Angehörigen bestimmter Opferkategorien, darunter der Juden, Roma, Kommunisten, allgemein Widerstand Leistenden oder anderswie dem neuen Regime unliebsamen Personen,
  2. die weitgehende Entrechtung der Einheimischen in einem von außen aufgezwungenen Kriegsalltag, der bis in die Privatsphäre hinein durch Kontrollen, Repressalien und nur allzu oft einen als "Sicherheitspolitik" deklarierten Besatzungsterror geprägt wurde, 
  3. die durch Stilllegungen und Zerstörungen hervorgerufene Massenarbeitslosigkeit vor allem in den Industriezentren, und schließlich
  4. als Folge einer unheilvollen deutschen Plünderungspolitik die Verelendung ganzer Landstriche und hauptsächlich im ersten Kriegswinter ein örtliches Massensterben an Hunger und Krankheit.

Dieser Art war das Feld bestellt, auf dem das Deutsche Reich Arbeitskräfte zu ernten gedachte.
Bei Recherchen im Zentralen Staatsarchiv der Republik Krim in der Ukraine stieß ich auf eine Reihe Postkarten von Frauen und Männern, die im Krieg als "Ostarbeiter" in Mainz und Umgebung tätig waren. Ihrer Herkunft zufolge könnten die Schreiber zum Rezipientenkreis des eingangs erwähnten touristischen Lockversuchs gehört haben. Der Inhalt der spärlichen Zeilen verrät unisono nichts über die Umstände ihrer Rekrutierung. Durchgehend bildet vielmehr die Sehnsucht nach der Heimat das zentrale Thema. Der Reiz des versprochenen touristischen Erlebnisses war – wenn es ihn überhaupt jemals gegeben hat – also allenfalls ein eher kurzlebiger.[Anm. 15] Die Gründe, die dazu führten, dass sich Sowjetbürger hinter deutschen Werkbänken und auf deutschen Feldern wiederfanden, waren insgesamt sehr vielfältig. Ulrich Herbert spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von einem "Kombinations-System aus Versprechungen, sozialem Druck und brutalem Terror".[Anm. 16]
Eine wesentliche Grundvoraussetzung stellte die in allen eroberten Sowjetgebieten gleichermaßen gültige Arbeitspflicht für die einheimische Bevölkerung dar.[Anm. 17] Für den ein oder anderen wohl eher jüngeren Menschen mag es da in der Tat keinen Unterschied gemacht haben, ob er in der Heimat oder in der Fremde arbeitete, wenn ihm dabei noch die Verlockungen der Ferne zuteil wurden. Zumal den Deutschlandfahrern das Gehen durch die Zusicherung von Unterhaltshilfen für die unmittelbaren Angehörigen noch versüßt wurde. Faktisch zog dies in der Regel jedoch zunächst einmal nicht mehr und nicht weniger nach sich, als dass den Angehörigen von den deutschen Behörden ein Arbeitsplatz zugewiesen wurde. Dieses aus deutscher Sicht keinesfalls uneigennützige Vorgehen konnte für Einheimische in versorgungsmäßigen Notstandsgebieten aber dennoch die Mehrung der Überlebenschancen mit sich bringen. Denn eine Regelung, die in den deutsch okkupierten Gebieten gewiss jedes kleine Kind kannte, lautete etwa: Nur wer nützliche Arbeit tut, hat Aussicht auf ausreichende Versorgung.[Anm. 18]
Die deutsche Hungerpolitik im Osten zielte durch Verzehr und Abtransport sowjetischer Lebensmittel in erster Linie auf die Schonung deutscher Nahrungsressourcen ab. Sie brachte jedoch aus deutscher Sicht zugleich den angenehmen Nebeneffekt mit sich, dass sie den Werbestellen gleich scharenweise die Menschen in die Arme trieb. Die Hintergründe des vermeintlich guten Willens der Geworbenen waren kein Geheimnis. Nur zu gut wusste man im Osten, dass „Hunger und Not die Leute zur Arbeit zwangen.“ Das hatte vor allem für große Ballungszentren wie den Großraum Charkov-Stalino in der Ukraine Geltung, wo Hunderttausende mit Einsetzen des Krieges ihr Auskommen verloren hatten.[Anm. 19] Letztlich stellte die Hoffnung auf Flucht aus dem Elend vermutlich das stärkste Motiv dar für den Entschluss, in der Ferne das eigene Glück zu suchen. Für Jüdinnen und Kommunisten – Menschen also, die in ihrer Heimat des Todes waren – bedeutete der Gang in die Fremde hingegen eine echte Überlebenschance, wenn es gelang, unerkannt im Kollektiv der Ostarbeiter unterzutauchen.[Anm. 20]
Die Pressionen, denen die Einheimischen unterlagen, hatten viele Gesichter. Eine russische Zeitzeugin, die ab 1942 als Ostarbeiterin in München eingesetzt wurde, berichtete mir hinsichtlich ihrer "freiwilligen Meldung" die folgende Geschichte. Im Krieg habe sie zunächst in Simferopol' zusammen mit ihrer älteren Schwester in einer Kantine gearbeitet. Weil der Schwester eines Tages der Arbeitsplatz gekündigt worden war, musste diese sich auf dem deutschen Arbeitsamt melden. Dort wurde beschlossen, sie kurzerhand als Ostarbeiterin nach Deutschland zu verschicken. Der Vater war im Krieg. Und so beschloss die Mutter, um die Familie zusammenzuhalten, dass auch sie sich zusammen mit der anderen Tochter zur Arbeitsaufnahme im Reich melden würde.[Anm. 21] Die Freiwilligkeit eines solchen Schrittes konnte also nicht nur bestimmt sein von nackter Existenzangst, sondern auch von ganz individuell empfundenen Zwängen.
Nach und nach trafen erste Nachrichten über die tatsächlichen Lebensumstände der "Deutschlandfahrer" jenseits der deutschen Schlaraffenland-Propaganda im Osten ein. Die Missstände im Reich führten nun im Verein mit den Verhältnissen vor Ort bei der Bevölkerung eine veränderte Haltung gegenüber dem Ostarbeiter-Einsatz herbei.[Anm. 22] Etwa ab Frühjahr/Sommer 1942 wurde in fast allen besetzten sowjetischen Landesteilen bei "Anwerbungen" nun der Eigenantrieb der Einheimischen zunehmend durch brutale Zwangsmaßnahmen der Besatzer abgelöst. Keine Seltenheit waren von da an Berichte, in denen etwa davon die Rede war, dass "Dörfer umstellt und die aus den Dörfern herausgeholten Männer abtransportiert" wurden.[Anm. 23] Vorrangig ging es um die Erfüllung von Kontingenten. Immer häufiger fanden sich daher Menschen in den "Wartelagern", die ahnungslos in Razzien oder gezielte Aushebungsaktionen geraten waren. Selbst vor Gebrechlichen, Schwangeren, Blinden u.ä. zur Arbeit an sich ungeeigneten Personen machten die wilden Rekrutierungen nicht halt.[Anm. 24] Die Menschen begannen, sich ihrer Zwangsverschickung durch Flucht zu entziehen. Mancherorts sühnte man das Nichterscheinen der „Geworbenen“ durch blanken Terror, beispielsweise durch das Niederbrennen der Heimatdörfer.[Anm. 25] Der Gewaltspirale waren längst kaum mehr Grenzen gesetzt. Übrigens waren es oftmals gerade einheimische Hilfspolizisten, denen die berüchtigten "Menschenjagden" aufgebürdet wurden. Deutsche Instanzen begnügten sich nur allzu oft mit der Rolle, den einheimischen Bürgermeistern Mindestkontingente aufzuerlegen und Einsätze zu koordinieren.[Anm. 26]
Die negativen Auswirkungen in den besetzten Gebieten lagen auf der Hand. Alarmieren musste 1942/43 in nahezu allen Gebieten der sprunghafte Anstieg des bewaffneten Widerstands gegen das deutsche Besatzungsregime.[Anm. 27] Viele Bereiche des Alltagslebens lagen brach, weil es inzwischen an Personal und Fachkräften vor Ort mangelte. Schon der Kräftebedarf für dringende Arbeiten im Osten war kaum mehr zu decken. Von den näher zur Front gelegenen Militärverwaltungsgebieten ausgehend, machte sich daher allmählich der Widerstand territorialer Machthaber gegen die Willkür der Rekrutierungen breit. Er konnte nur mühevoll unterdrückt werden.[Anm. 28] Auf die übergeordnete Zielsetzung erforderlichenfalls rücksichtsloser Aufbringung von Arbeitskraft zeitigte dies kaum Folgen. Kurze Zeit vor der markanten Verkündung des "Totalen Krieges" durch Reichspropagandaminister Josef Goebbels forderte Sauckel im Januar 1943 für seinen Arbeitsbereich, "die letzten Schlacken unserer Humanitätsduselei abzulegen". Es hatte da durchaus etwas Zynisches, wenn der GBA sich einfühlsam gab: "Ich weiß, es ist bitter schwer, Menschen aus ihrer Heimat und von ihren Kindern loszureißen. Aber wir haben den Krieg nicht gewollt!" Und weiter: "Wir sind keine perverse, bestialisch veranlagte Nation, deren höchste Freude es ist, Gefangene zu martern.(...) Bei uns geschieht alles ordnungsgemäß, aber es geschieht in deutscher, anständiger Haltung".[Anm. 29]
Die von Sauckel zur "deutschen Haltung" emporstilisierte scheinbare "Anständigkeit" hatte zur Folge, dass allein in den ersten Monaten bis Ende August 1942 insgesamt 1.359.000 sowjetische "Zivilkräfte" der deutschen Kriegswirtschaft "zugeführt" wurden.[Anm. 30] Bis Kriegsende waren es etwa doppelt so viele.[Anm. 31] Zum Ende des dritten Quartals 1944, einem Zeitpunkt, zu dem das Territorium der UdSSR fast vollständig der deutschen Kontrolle wieder verloren gegangen war, stellten die Sowjetbürger unter allen Fremdarbeitern im Reich mit Abstand die größte Gruppierung dar (über 35 %). Der Frauenanteil erwies sich unter den Menschen aus den „besetzten Ostgebieten“ als besonders hoch. Jede zweite dieser Arbeitskräfte war weiblichen Geschlechts.[Anm. 32] Die größte Anzahl Zwangsarbeiter kam offensichtlich aus der Ukraine.[Anm. 33] Das Durchschnittsalter der Deportierten lag bei 20 Jahren, doch befanden sich unter den „Ostarbeitern“ und „Ostarbeiterinnen“ auch viele 15- und 16jährige.[Anm. 34]
Enden möchte ich den Vortrag mit einer Anekdote, die verdeutlichen soll, dass die Rekrutierung von Arbeitskräften auf deutscher Seite auch manche ideologische Innovation für die Zukunft hervorrief. Mit einer Anregung zur "Vorsorgliche[n] Erfassung von zusätzlichen Arbeitskräften" wurde 1942 der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, bei Hitler vorstellig. Die Idee immerhin eines Armeeoberbefehlshabers zielte darauf ab, langfristig Kapital auch aus den biologischen Folgen des Aufenthaltes deutscher Truppen im Osten zu schlagen. Von 6 Millionen im Osten stehenden Soldaten, so rechnete Keitel vor, verkehrten etwa 3 Millionen mit russischen Frauen. Dies würde bei 1,5 Millionen Mädchen wiederum nicht ohne Folgen bleiben: "Der Vorschlag geht nun dahin, die dadurch jährlich anfallenden 750.000 deutsch-russischen Knaben und ebenso viele Mädchen zu erfassen, als wertvollen Ersatz für die kriegsbedingt ausgefallenen Geburten." Hitler soll den Ausführungen angeblich "in vollem Umfang zugestimmt" haben. Auch wenn das Vorhaben letztlich nicht mehr zum Tragen kam, so war es dennoch stimmig mit der Gesellschaftsutopie des "Führers". Die künftigen Kindersklaven, so verabredete man übrigens, sollten in "Anlehnung an die Bezeichnung der Juden mit ,Israel' und ,Sarah"“ künftig neben russischen Vornamen die deutschen Namen ,Friedrich' und ,Luise' erhalten.[Anm. 35]

Anmerkungen:

  1. Artikel "Frankfurt na Majne". In: Golos Kryma Nr. 66, 22.7.1942, S. 3, Central'nyj Gosudarstvennyj Archiv Kryma/Simferopol' [im Folgenden: CGA], Bestand "Golos Kryma" [Übersetzung des Autors]. Zurück
  2. Ebd. Zurück
  3. Siehe den von Ulrich Herbert angeführten Bericht aus dem "Donezki Westnik" vom 20.2.1942 über Dortmund sowie die Werbeplakate in dem von Manfred Oldenburg wissenschaftlich bearbeiteten Bereich "Deportationen" der neuen "Wehrmachtsausstellung"; Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des "Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 1999, S. 184; Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944. Ausstellungskatalog, Hamburg 22002, S. 381f. Vgl. auch Norbert Kunz: Germanisierungsutopie und Besatzungsrealität. Die Halbinsel Krim unter deutscher Herrschaft (1941-1944). Inauguraldissertation zur Erlangung des Akademischen Grades eines Dr. phil., vorgelegt dem Fachbereich 16 (Geschichtswissenschaft) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz 2003 [in der Vorbereitung zum Druck befindlich], S. 277f. Zurück
  4. Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Berlin, Bonn 1986, S. 135f; ders.: Fremdarbeiter (wie Anm. 3), Kapitel VI.2. Zurück
  5. Vgl. insbesondere Der Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches/Der Beauftragte für den Vierjahresplan/Staatssekretär, V.P. 19008/2 Anlage geh., 7.11.1941. Abgedruckt in: Norbert Müller (Hrsg.): Deutsche Besatzungspolitik in der UdSSR 1941-1944. Dokumente, Berlin [Ost] 1980, S. 282-285. Zurück
  6. Nach Streit fanden bis Jahresende 1941 etwa 60 % der bis dahin eingebrachten rund 3,35 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand den Tod; Christian Streit: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945, Bonn 1997, S. 136. Insgesamt wurden bis März 1942 gerade einmal 5 % der im Ostfeldzug eingebrachten Gefangenen zur Arbeit herangezogen; Herbert, Fremdarbeiter (wie Anm. 3), S. 173. Ausführlich dokumentiert ist das Los sowjetischer Kriegsgefangener in dem von Karsten Linne wissenschaftlich bearbeiteten Abschnitt "Sowjetische Kriegsgefangene im Osten" in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Verbrechen (wie Anm. 3), S. 218-286. Zurück
  7. Herbert, Geschichte (wie Anm. 4), S. 136f; ders., Fremdarbeiter (wie Anm. 3), S. 177f. Zurück
  8. Ebd. S. 179-181. Zurück
  9. OKH Gen.St.d.H./Gen.Qu. Abt. K.Verw. (Wi) Nr. II/3210/42 geh., Anwerbung russischer Arbeitskräfte für das Reich, 10.5.1942. Abgedruckt in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Verbrechen (wie Anm. 3), S. 370. Zurück
  10. Ebd. S. 371. Zurück
  11. Vgl. ausführlicher Alexander Dallin: Deutsche Herrschaft in Rußland 1941-1945. Eine Studie über Besatzungspolitik, Düsseldorf 1958, S. 106 Abb. 8. Zurück
  12. Erlass des Führers über den Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, 21.3.1942. In: Wirtschafts-Führungsstab Ost (OKW/Wi Amt/Z 1/II Nr. 6250/42 geh.), Richtlinien für die Führung der Wirtschaft in den neubesetzten Ostgebieten (Grüne Mappe), Teil II (3. Auflage), September 1942, Bundesarchiv Berlin [im Folgenden: BAB], R26IV/33b, S. 138f; Anordnung des Beauftragten für den Vierjahresplan zur Durchführung des Erlasses des Führers über einen Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, 27.3.1942. In: Ebd., S. 139. Zurück
  13. OKH Gen.St.d.H./Gen.Qu. Abt. K.Verw. (Wi) Nr. II/3210/42 geh., Anwerbung russischer Arbeitskräfte für das Reich, 10.5.1942. Abgedruckt in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Verbrechen (wie Anm. 3), S. 370. Zurück
  14. Siehe hierzu ebd., S. 362-365. Zurück
  15. Vgl. etwa: Ihor Akolišnev, Mainz am Rhein, Pfleiderer Werke, Gassner Allee 45-47, Deutschland, an Anisja Akolišneva, Simferopol‘, Petrovskaja, No. 134, Krim, gestempelt in Mainz am 26.8.43, CGA, R4602/7, Bl. 3f. Zurück
  16. Herbert, Fremdarbeiter (wie Anm. 3), S. 186. Zurück
  17. Bezeichnenderweise kam in der zentralen Sammlung wirtschaftspolitischer Richtlinien (sogenannte "Grüne Mappe") im Zusammenhang mit Weisungen zur "Heranziehung" einheimischer Arbeitskräfte innerhalb der besetzten Gebiete zunächst noch das deutsche Bedauern zum Ausdruck, dass "deutsche Fachkräfte für die einzelnen Arbeitsgebiete mindestens nicht sofort zur Verfügung stehen" und man deshalb auf die "Mitarbeit der einheimischen leitenden Wirtschaftsschicht angewiesen" sei; Wirtschafts-Führungsstab Ost, Richtlinien für die Führung der Wirtschaft in den besetzten Ostgebieten (Grüne Mappe), Teil I, Juni 1941, Bundesarchiv-Militärarchiv/Freiburg im Breisgau [im Folgenden: BA-MA], RW31/128, S. 18 [Hervorhebung des Originals]. "Arbeitspflicht und Arbeitszwang" für Sowjetbürger zwischen 18 und 45 Jahren wurden in einer Verordnung des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete vom 5.8.1942 eingeführt und hatten im Gebiet der Zivil- wie der Militärverwaltung Geltung. Juden unterlagen – nach gesonderter Regelung vom 16.8.1941 – sogar bis zum 60. Lebensjahr dem Arbeitszwang. Wirtschafts-Führungsstab Ost, OKW/Wi Rü Amt/Stab I/O Nr. 5561 geh., Richtlinien für die Führung der Wirtschaft in den neubesetzten Ostgebieten (Grüne Mappe), Teil II (2. Auflage), November 1941, BAB, R26IV/33b, S. 84f. Zur Umsetzung des Arbeitszwangs unter Androhung der Todesstrafe bei Zuwiderhandlung vgl. etwa Befehl der 20. Infanteriedivision (Abt. Ia) zur Arbeitspflicht der männlichen Einwohner Schlüsselburgs vom 17.9.1941. Abgedruckt in: Norbert Müller (Hrsg.), Besatzungspolitik (wie Anm. 5), S. 281; Geheimer Tätigkeitsbericht der Gruppe Geheime Feldpolizei 647 für den Monat Juli 1942, Tgb. Nr. 254/42 geh., 26.7.42, BA-MA, RH20-11/337, Bl. 8f. Zurück
  18. Nur in besonderen Ausnahmefällen, etwa wenn die Arbeitsfähigkeit nicht gegeben war, konnte eine Unterhaltshilfe in bar und durch "bevorzugte Berücksichtigung bei Verteilung von Lebensmitteln zu amtlichen Preisen" erfolgen. Einen Rechtsanspruch auf die Vergünstigungen erteilten die deutschen Instanzen allerdings nicht, und schon die Klärung, wer überhaupt als unmittelbarer Angehöriger zu gelten hatte, unterlag der gestrengen Überprüfung durch deutsche Stellen. WiStab Ost, Chefgruppe Arbeit Akt. Z. L.8, Unterhalt der Angehörigen der aus den neubesetzten Ostgebieten in das Reich vermittelten Arbeitskräfte, 6.2.1942. In: Wirtschafts-Führungsstab Ost (OKW/Wi Amt/Z 1/II Nr. 6250/42 geh.), Richtlinien für die Führung der Wirtschaft in den neubesetzten Ostgebieten (Grüne Mappe), Teil II (3. Auflage), September 1942, BAB, R26IV/33b S. 146. Zur allgemeinen Versorgungspraxis und dem dahinter stehenden deutschen Kalkül siehe etwa die Dokumentation in Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Verbrechen (wie Anm. 3), S. 287-306. Zurück
  19. Verhandlungs-Berichte auf der Inspektionsreise nach Süd vom 8.6. bis 15.6.1942, undatiert, BA-MA, RW19/555, Bl. 57. Siehe auch: AOK 11, AWiFü, Tätigkeitsbericht 1.-30.4.42, 2.5.42, BA-MA, RH20-11/444, Bl. 48. Zurück
  20. Männliche Angehörige des Judentums dürften dagegen in der Regel bei den ärztlichen Untersuchungen aufgrund ihrer Beschneidung erkannt und festgenommen worden sein. Zurück
  21. Zeitzeugeninterview mit Vera Petrovna D. (*1926) aus Simferopol' am 14.6.1999. Zurück
  22. Rolf-Dieter Müller: Menschenjagd. Die Rekrutierung von Zwangsarbeitern in der besetzten Sowjetunion. In: Hannes Heer/Klaus Naumann (Hrsg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Hamburg 8/1995, S. 95. Zurück
  23. OKW/Abt. WPr./WiPr Nr. 3063/42, Anlage geh., 7.5.1942. Abgedruckt in: Norbert Müller (Hrsg.), Besatzungspolitik (wie Anm. 3), S. 290. Zurück
  24. Vgl. Rolf-Dieter Müller, Menschenjagd (wie Anm. 22), S. 95f. Zurück
  25. Vgl. Übersetzung eines von der Auslandsbriefprüfstelle Berlin abgefangenen Briefes aus der Ukraine vom Oktober 1942. Abgedruckt in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg. Bd. 25, Nürnberg 1947, S. 78. Zurück
  26. Vgl. OKH Gen.St.d.H./Gen.Qu. Abt. K.Verw. (Wi) Nr. II/3210/42 geh., Anwerbung russischer Arbeitskräfte für das Reich, 10.5.1942. In: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Verbrechen (wie Anm. 3), S. 370f; Heeresgruppe Süd Ib, Arbeitskräfte für das Reich (Teilabschrift), 3.5.1942. In: Ebd., S. 371. Zurück
  27. So waren beispielsweise im Bereich der Heeresgruppe Süd bei einem geplanten Transport von 800 Mann trotz militärischer Bewachung beim "Einwaggonieren" 600 geflüchtet und zu den Partisanen übergelaufen. General Nagel an General Thomas, Bericht über die Reise des Gen Wi Ost vom 8.-16.6.1942, 19.6.1942, BA-MA, RW19/555, Bl. 46f. Zurück
  28. Zum Widerstand örtlicher Militärverwaltungsstellen gegen eine rücksichtslose Zwangsrekrutierungspraxis kam es im Januar 1943 auf der Krim – offenbar eine Entwicklung, die kurze Zeit darauf in der Südukraine und dem Kaukasus Schule machte; vgl. Kunz, Germanisierungsutopie (wie Anm. 3), S. 289-292. Siehe Timothy Patrick Mulligan: The Politics of Illusion and Empire. German Occupation Policy in the Soviet Union, 1942-1943, New York [u.a.] 1988, S. 130. Zurück
  29. Aus der Rede Sauckels auf der ersten Tagung der Arbeitseinsatzstäbe in Weimar, 6.1.1943, zitiert nach: Reinhard Rürup (Hrsg.): Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1945. Eine Dokumentation, Berlin 1991, S. 210-212. Zurück
  30. Die Anzahl der Kriegsgefangenen, die zur Arbeit geschickt worden waren, betrug für denselben Zeitraum gerade ein Drittel (451.000); Anlage 1 zu Schreiben WiStab Ost B. Nr. 92802/42 geh. vom 20.9.1942, Amtsgr. Wi Ausl/Ia H, 17.9.1942, BA-MA, MFB4, Film 42744, Bl. 845. Zurück
  31. Rolf-Dieter Müller, Menschenjagd (wie Anm. 22), S. 101. Zurück
  32. Tabelle zur Staatsangehörigkeit der männlichen und weiblichen zivilen Arbeitskräfte, 30.9.1944. In: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Verbrechen (wie Anm. 3), S. 368. Zurück
  33. Tabelle „Gesamt- und Einzelergebnisse der Arbeitseinsatzwerbung des Wirtschaftsstabes Ost für den Einsatz im Reich, Januar 1942-Juni 1944“. In: Ebd., S. 369. Zurück
  34. Herbert, Geschichte (wie Anm. 4), S. 140. Zurück
  35. Keitel leitete demgemäß den Vorschlag mit dem Verweis auf ein "neues Arbeitsgebiet" an den Wehrmachtführungsstab weiter; Unbezeichnete Notiz "Betr.: Vorsorgliche Erfassung von zusätzlichen Arbeitskräften" aus den Akten des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes im OKW, 18.9.1942, BA-MA, RW19/473, Bl. 44. Zurück