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Was bedeuteten die sogenannten Heidenturmkuppeln auf rheinhessischen Kirchtürmen?

Ein Erklärungsvorschlag von Gerhard Roese

Alumodell des Heidenturms der Dominikanerklosterkirche St. Paulus in Worms [1/2][Bild: Gerhard Roese]

„Form follows function.“ So kennen wir das heute. Im Mittelalter dagegen, war sakrale Architektur in allen Details mit Bedeutung aufgeladen. Die Funktion der Architektur beschränkte sich also nicht auf ihre profane Zweckdienlichkeit, sondern ihr Zweck war es auch, Bedeutungen symbolisch zu verkörpern. Deshalb soll hier nach der Bedeutung der Heidenturmkuppeln in der ehemalige Diözese Worms gefragt werden. Es wird sich zeigen, dass darüber die Antwort auf die Frage nach ihrem Vorbild gefunden werden kann.

Die Forschung war sich immer einig, dass die rheinhessischen Turmkuppeln Importe aus dem Orient sind. Lange Zeit wusste man nicht, wann sie ins Abendland gelangten, denn es war nicht klar, von welchem Kreuzzug sie mitgebracht worden waren. Dagegen war man sich immer einig, von wo genau, sie mitgebracht worden waren: Aus Jerusalem. Dort befinden sich im Bereich der Grabeskirche die heiligsten Stätten der Christenheit. Darunter zuvorderst das Heilige Grab und die Kreuzauffindungskapelle.

Alumodell des Heidenturms der Ev. Pfarrkirche in Dittelsheim (ehemals Allerheiligen) [1/2][Bild: Gerhard Roese]

Jerusalem mit der Grabeskirche, war also das Ziel der Kreuzfahrer. Dort galt es ihnen – mit den heiligen Stätten – das Kreuz aus der Hand der sogenannten Ungläubigen zu befreien. Die Forschung legte nahe, seit man sich kunstwissenschaftlich mit der Frage nach dem Vorbild der rheinhessischen Heidenturmkuppeln befasste, dass es die vielleicht schon im 15. Jh. eingestürzte Bekrönung des Turmes der Grabeskirche gewesen war. Warum ausgerechnet diese Turmkuppel den Sinn der Kreuzugsbewegung am besten symbolisiert haben sollte, blieb dahingestellt.

Für die Errichtung des Turmes der Grabeskirche, wird die Zeit seit der Mitte des 12. Jahrhunderts angegeben. Dendrochronologische Datierungen von Rüstholz-Proben aus rheinhessischen Heidentürmen belegen aber, dass diese im ersten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts entstanden sein müssen[Anm. 1], woraus folgt, dass das vermeintliche Vorbild – die Kuppel des Turms der Grabeskirche – bis zu zwei Menschenalter jünger ist, als ihre vermeintlichen rheinhessischen Kopien. So stellt sich zwangsläufig die Frage, welches andere Gebäude im Bereich der Grabeskirche als Vorbild der rheinhessischen Turmkuppeln gedient haben könnte? Der Augenschein ergibt, dass dafür kein Bauwerk im Bereich der Grabeskirche in Betracht kommt.

Alumodell des Heidenturms der Ev. Pfarrkirche in Alsheim (ehemals St. Bonifazius) [1/2][Bild: Gerhard Roese]

Wir suchen in diesem Bereich also ein Bauwerk, welches einen möglichst starken Christusbezug besitzt und dessen Baugestalt so verändert worden ist, dass wir in ihm heute nicht mehr das Vorbild der Heidenturmkuppeln erkennen können. Die Kreuzauffindungs- (Helena-) Kapelle ist der Bau, auf den dieses Profil ideal passt: Sie war – wenn wir von einem konstantinischen Ursprungsbau, der 1099 auch beschädigt vorgefunden worden sein kann, ausgehen wollen – um 1114, im Zuge der Geländeaufschüttungen zum Klosterbau in diesem Bereich abgebrochen und vollkommen neu, als jetzt unterirdisches, dreischiffiges Gebäude erbaut worden. Sie war Aufbewahrungsort eines Teiles des Heiligen Kreuzes.

Als solcher Bau wäre sie ein Reliquiar gewesen, dem vom mittelalterlichen Menschen – Dank der enthaltenen Reliquie – an sich schon Wunderkräfte zuerkannt worden waren. Das Reliquiar des Heiligen Kreuzes – die Kreuzauffindungskapelle – muss für den mittelalterlichen Menschen aber auch als Gegenüber des Heiligen Grabes bedeutend gewesen sein, denn auch dieses galt ihm als Reliquiar. Die darin enthaltene Reliquie war der tote Leib Christi, der am dritten Tage zum ewigen Leben auferstanden ist.

Alumodell des Heidenturms der Ev. Pfarrkirche Guntersblum (ehemals St. Viktor) [1/2][Bild: Gerhard Roese]

Beide Reliquiare – das des Heiligen Kreuzes und das des Heiligen Leibes – sind gleich bedeutsam, steht doch das des Heiligen Kreuzes für den qualvollen Tod des Erlösers als Mensch, während sein leeres Grab seine Auferstehung und somit seinen unsterblichen göttlichen Aspekt repräsentiert. Vom Reliquiar des Heiligen Leibes, dem Heiligen Grab hat sich der mittelalterliche Mensch, nördlich der Alpen, zahlreich erhaltene Nachbauten geschaffen. Warum sollte er sich keine vom Reliquiar des Heiligen Kreuzes geschaffen haben? War doch das Kreuz für den mittelalterlichen Menschen, der oft nicht viel mehr als seine Hoffnung auf ein besseres Leben im Jenseits hatte, so etwas wie das Unterpfand für den Sieg über den Tod und für, auch sein eigenes, ewiges Leben.

Stellen wir uns die konstantinische Kreuzauffindungskapelle als einen Zentralbau byzantinischen Typs vor, den die Kreuzfahrer 1099 vielleicht beschädigt vorfanden und 1114 durch einen Neubau ersetzten, so erklärt sich, warum die kurze Tradition des Jerusalemer Sakralimports in der ehemaligen Diözese Worms, so abrupt und so endgültig endete: Das Jerusalemer Heiligtum, die Konstantinische Kapelle, existierte nicht mehr.

Von diesem sicher an zu nehmenden Bau haben wir keine Bildüberlieferung, aber sehr wahrscheinlich besitzen wir in den rheinhessischen Heidenturmkuppeln seine Nachbauten.

Deren Form entwickelt sich. Die (heute nicht mehr ganz originale) Kuppel von St. Viktor in Guntersblum ist die ausgereifteste. Vielleicht kam sie dem Jerusalemer Vorbild am nächsten?

Verfasser: Gerhard Roese

redaktionelle Bearbeitung: Dominik Kasper

Weiterführenden Literatur:

  • Roese, Gerhard: Rekonstruktion der Baugestalt von St. Paulus zu Worms im Zustand um 1240, Selbstverlag Roese-Design, Darmstadt 2002

Erstellt: 24.09.2012

Geändert: 28.09.2015

Anmerkungen:

  1. Roese 2002 Zurück