Bibliothek

0.Überlegungen zu einer Regionalgeschichte des unteren Lahngebietes

Autor: Hans-Jürgen Sarholz

Erstellt am: 22.11.2023

Nassau mit den Burgen Nassau und Stein. Gouachierte Aquatinta von J. J. Tanner, um 1850. Die Kettenbrücke steht bereits für die moderne Zeit.

Ein neues Buch widmet sich der Geschichte einer Region in Rheinland-Pfalz. Sein Titel lautet: „Geschichte des unteren Lahntals und seiner Region“. [Anm. 1] Herausgeber ist der Verein für Geschichte, Denkmal- und Landschaftspflege e.V. Bad Ems, der sich mit seinen Vortragsveranstaltungen wie auch mit seiner Reihe „Bad Emser Hefte“ längst für die Geschichte der Region geöffnet hat. An dieser Stelle möchte der Verfasser das neue Buch vorstellen und dabei seine Absichten darlegen. Es bietet sich an, in diesem Zusammenhang über Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Projektes nachzudenken. Von daher mögen folgende Überlegungen auch über die Region hinaus von Interesse sein, insbesondere auch für Historikerinnen und Historiker, die sich im Spannungsfeld von allgemeiner, Landes-, Regional- und Ortsgeschichte und ihrer Vermittlung bewegen.

Wenn wir hier von Regionalgeschichte sprechen, sind wir uns bewusst, dass der Begriff in der Geschichtswissenschaft nicht klar definiert ist, dass man darüber streiten kann, was denn eigentlich Regionalgeschichte ist und welche Aufgaben sie hat. Ihre Bedeutung an sich ist unbestritten. [Anm. 2] Wir können uns hier nicht auf diese Diskussion einlassen. Die Region selbst wurde sehr subjektiv ausgewählt: Es ist die Heimat des Verfassers. Für ihre Abgrenzung wurde eine eher pragmatische Vorgehensweise gewählt. Dabei sollte eine überschaubare Region in den Blick genommen werden, das untere Lahngebiet, das in der Einleitung unter verschiedenen Aspekten, jedoch ohne feste Grenzen definiert wurde.


0.1.Ein Buch im digitalen Zeitalter?

Bau der Lahntalstraße von Obernhof nach Laurenburg um 1910. [Bild: Sammlung Gerhard Gemmer]

Publikationen zur regionalen Geschichte gibt es viele. Gerade die letzten Jahrzehnte haben eine Fülle von Ortschroniken und Artikeln in Zeitungen und vor allem auch in Heimatjahrbüchern hervorgebracht, oft gut recherchiert und unter Auswertung von Archivquellen. Inzwischen sind neue, digitale Formen der Vermittlung hinzugekommen. Genannt sei aus historischer Sicht „regionalgeschichte.net“, das unter dem Dach des Instituts für Geschichtliche Landeskunde Rheinland-Pfalz vielfältige orts- und regionalgeschichtliche Informationen für viele Gemeinden in Rheinland-Pfalz bietet. Der historischen Kulturlandschaft und den noch sichtbaren Spuren der Geschichte widmet sich das Informationssystem „KuLaDig“, das viele historische Objekte auch in unserer Region präsentiert. Ein weiteres Beispiel ist neuerdings das regionale Digitalprojekt „Vielfalt Rhein-Lahn-Limes“, das Geschichte in Form von Geschichten erzählt, die über das Smartphone abrufbar sind und es „für mindestens 10 Jahre“ bleiben sollen.

Insofern stellt sich die Frage, ob ein Buch, eine Ortschronik oder ein Heimatjahrbuch im digitalen Zeitalter überhaupt noch zeitgemäß ist. Die Macher der Internetportale selbst werden diese Frage sicher mit „ja“ beantworten. Denn ihre Portale wollen Geschichte vermitteln, sie wollen Ergebnisse von Forschungen präsentieren, sind dazu aber auf vielfältige regionalgeschichtliche Forschungen angewiesen. Das eine wie das andere hat also seinen Sinn. Und schließlich gibt es immer mehr auch die Möglichkeit, gedruckte Publikationen digital bereitzustellen. Reichhaltige Angebote finden sich zum Beispiel im Digitalisierungsportal „dilibri“ des Landesbibliothekszentrums Rheinland-Pfalz oder auch in der digitalen Bibliothek von „regionalgeschichte.net“ des Instituts für Geschichtliche Landeskunde Rheinland-Pfalz.

0.2.Nicht die „ganze Geschichte“ – Möglichkeiten und Grenzen des Projektes

Kloster Arnstein und Obernhof um 1900. Früher prägten Weinberge entlang des gesamten Unterlaufs der Lahn das Landschaftsbild. Das Kloster hatte als Grundherr zahlreiche Weingärten und Höfe.[Bild: Stadtarchiv Bad Ems]

Was kann, was sollte ein Buch zur Regionalgeschichte des unteren Lahngebietes heute leisten? Kurz gesagt: es soll eine übersichtliche und strukturierte Gesamtdarstellung der regionalen Geschichte bieten, aus der Sicht und der Feder eines Historikers und möglichst „aus einem Guss“. Es soll erzählen, wie Menschen in unserer Heimat gelebt und wie sie Geschichte erlebt haben, wie sich ihre Lebensumstände im Laufe der Zeit verändert und auch verbessert haben. Dazu wird immer wieder nach Faktoren und Merkmalen gefragt, die helfen können, die Lebensbedingungen der Menschen zu ermessen. Es geht um Arbeit, Gesundheit, Lebensstandard, Bildung, um die Erfahrung von Krieg und Frieden, von Unfreiheit und Freiheit. Das kann nicht erschöpfend erfolgen, aber es kann doch versucht werden, einen Überblick über wesentliche Entwicklungen zu geben. Die „ganze Geschichte“ zu erzählen, vom Leben der Menschen früherer Zeiten, von ihren Mühen ums tägliche Brot, ihren Sorgen und Freuden, das wäre ein gutes Vorhaben gewesen. Dazu hätte man jedoch an vielen Stellen viel tiefer eindringen müssen. Die Quellen hätten das hergegeben, längst nicht überall, aber doch eben an vielen Beispielen. Eingehender als es geschehen ist, hätte man z.B. Bauern des 18. Jahrhunderts bei ihrer Arbeit und in ihrem Feierabend begleiten können, ebenso die Bergleute bei ihrer Arbeit in den engen Stollen unter Tage. Genauer hätte man sich in den Wohnstuben der Menschen umschauen können oder dem Verhör einer als Hexe angeklagten Frau beiwohnen müssen. Lohnend wäre es gewesen. Aber dann wäre aus dem Band ein mehrbändiges voluminöses Werk geworden und nicht die beabsichtigte übersichtliche Gesamtdarstellung.

Das Buch soll zeigen, dass das untere Lahngebiet eine Geschichte hat, dass es Teil der Geschichte ist und dass es sich lohnt, ihr nachzuspüren. Es soll darstellen, wie sich geschichtliche Entwicklungen und Ereignisse in der Region ausgewirkt haben und welche Beiträge die Region zu diesen Entwicklungen geleistet hat. Wenn es auch nicht annähernd die ganze Geschichte erzählen kann, so soll es doch Einblicke geben und helfen, historische Zusammenhänge zu verstehen. Es will mehr bieten als die chronologische Aneinanderreihung von Ereignissen und die Abhandlung von Spezialthemen, mehr auch als ein Ortslexikon und einzelne Ortsgeschichten oder die Sammlung von Aufsätzen. All diese Publikationen bilden eine unentbehrliche Grundlage, sie bieten inzwischen einen wahren Schatz an Informationen. Das vorliegende Buch beruht auf solchen Veröffentlichungen und auf Forschungen anderer wie auch des Verfassers selbst. Es bringt insofern keine bislang unveröffentlichten Fakten. Vieles wird aber klarer und besser verständlich, wenn man eine ganze Region in den Blick nimmt, mit all ihrer Vielfalt an Dörfern und Landschaften, an Lebensverhältnissen und Arbeitswelten, und wenn man wesentliche Entwicklungslinien verfolgt. Wer bei seiner Spurensuche Antworten auf spezielle Fragen zu seinem eigenen Ort vermisst, wer zu einzelnen Aspekten mehr erfahren möchte, kann über Anmerkungen und ein umfangreiches (wenn auch natürlich nicht vollständiges) Literaturverzeichnis tiefer eindringen in die Vergangenheit.

Um dem Anspruch einer Gesamtdarstellung oder auch nur eines Überblicks gerecht zu werden, ist es notwendig, eine Auswahl zu treffen (über die sich immer streiten lässt) und den Stoff zu strukturieren. Dazu wurde die „Geschichte des unteren Lahntals und seiner Region“ in große Zeitabschnitte gegliedert, Vor- und Frühgeschichte, Mittelalter und frühe Neuzeit, das lange 19. Jahrhundert und schließlich das 20. und frühe 21. Jahrhundert. Jeder dieser großen Zeitabschnitte wurde jeweils in drei großen Themenfeldern betrachtet, die man vereinfachend unter die Rubriken politische Geschichte, Wirtschaftsgeschichte sowie Gesellschafts- und Kulturgeschichte fassen kann.

Aufbereitungsanlagen und Halde der Grube Holzappel bei Laurenburg. Die Industrieanlagen sind verschwunden, die Halde ist weitgehend rekultiviert.[Bild: Sammlung Emser Bergbauarchiv]

Einige Beispiele mögen verdeutlichen, warum es Sinn macht, über den Tellerrand des eigenen Dorfes hinauszusehen und die Region in den Blick zu nehmen. Das untere Lahntal ist eine Kulturlandschaft, die durch die Menschen und ihre Arbeit immer wieder geprägt und verändert wurde. Um 1500 zum Beispiel prägte, ganz anders als heute, der Weinbau das Landschaftsbild, vom Limburger Becken und vom Aartal bis Lahnstein, wo immer es die Lage zuließ. Während es heute nur noch zwei Weinbaugemeinden gibt, Obernhof und Weinähr, ist früherer Weinbau in vielen Gemeinden belegt und hat in der Landschaft und in Flurnamen Spuren hinterlassen. Mittelalterliche Grundherren, vor allem Kloster Arnstein, aber auch das Stift St. Kastor in Koblenz, Adelsfamilien wie die von Staffel und andere hatten ihre großen Höfe, die im Mittelalter in erster Linie Weingüter mit weit gestreutem Besitz waren. Viele Bauern hatten neben ihren Äckern kleine Wingerte. Damit stellt sich aber auch die Frage, warum sich das später geändert hat. Hier kommt mit der „Kleinen Eiszeit“ und später mit der Reblaus die Umweltgeschichte ins Spiel.

Menschen in Bad Ems Mitte 19. Jh. Kolorierte Zeichnung. Stadtarchiv Bad Ems. Der unbekannte Künstler zeigt Menschen nicht als Staffage, sondern als ganz normale und für damals typische Charaktere: Emser Bote, Emser Junge mit Kränchen-Wasserkrügen, Maurergeselle aus der Gegend von Ems, (der jüdische) Buchhändler Kirchberger im Schlafrock, Emser Schäfer. [Bild: Sammlung der Stadt Bad Ems]

Ein weiteres heute leicht zu übersehendes Merkmal der heimischen Wirtschaftsgeschichte war der Bergbau. Auch er muss für die ganze Region betrachtet werden. Das untere Lahntal nehmen wir heute als reizvolle Erholungslandschaft inmitten des Naturparks Nassau wahr. Im 19. Jahrhundert war es jedoch auch geprägt von Bergbau und Industrie. Da waren die Kalksteinbrüche an der Aar und beiderseits der Lahn bei Heistenbach, Altendiez und Fachingen mit ihren großen Ringöfen. Da gab es die Eisenerzgruben, die nach und nach von Krupp aufgekauft wurden, weiter flussabwärts dann die großen Blei- und Silbergruben von Holzappel, Bad Ems und Friedrichssegen und natürlich die alten Hüttenwerke bei Katzenelnbogen, Nievern, Ahl, Hohenrhein und andere. Wer ahnt heute, dass sie bereits um 1700 Teil einer Rüstungsindustrie waren? Um 1900 prägten überall Fabrikgebäude und rauchende Schornsteine das Lahntal, große Halden türmten sich etwa bei Laurenburg, Weinähr, Bad Ems und Nievern an den Hängen, Lastschiffe und Güterzüge mit Waggons voller Erz transportierten die Bodenschätze ab. Und überall sah man Arbeiter am Werk.

Auch die sozialgeschichtlichen Aspekte der Industrialisierung können an Beispielen der regionalen Verhältnisse verdeutlicht werden, etwa durch bewegende zeitgenössische Schilderungen des Lebens und Sterbens der Bergleute, aber auch durch nüchterne Statistiken, die ganz konkret für die Region das frühe Sterben aufzeigen. Sehr deutlich wird, wie sich die Lebensumstände der Menschen und ihre Arbeitswelt verändert haben, wie sie von den Dörfern abgewandert sind, zum Bau der Eisenbahn im Lahntal und zu den immer größer werdenden Steinbrüchen und Industriebetrieben. Schließlich wird aber auch deutlich, welche Verbesserungen es gab, von der Ernährung über die Versorgung mit sauberem Trinkwasser bis hin zu einem längeren Leben und zu ein paar Jahren des Ruhestands im Alter.

Windrad in Singhofen um 1910. Mit teilweise aufwändigen technischen Anlagen wurde seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die Versorgung der Bevölkerung mit ausreichendem und qualitativ gutem Trinkwasser verbessert. Das 1907 errichtete Windrad förderte mit einer Pumpe Wasser aus einer Zisterne in einen neuen Hochbehälter. [Bild: Sammlung Horst Friedrich]

Auch die jüdische Geschichte macht deutlich, warum es Sinn macht, das eigene Heimatdorf im regionalen Zusammenhang zu sehen. Gibt man im digitalen Holocaust-Gedenkbuch des Bundesarchivs, das die Opfer des Völkermords erfasst, den eigenen Ort ein, so wird es für eine Anzahl von Gemeinden im unteren Lahngebiet keinen Treffer geben. Daraus könnte leichtfertig der Schluss gezogen werden, dass der eigene Ort nicht betroffen gewesen sei. Jüdische Geschichte ist aber mehr als der Holocaust. Und die Heimat ist mehr als das Heimatdorf. In vielen Dörfern und in den Städten der Region lebten im ganzen 19. Jahrhundert Juden. Wenn sie auch nicht überall vertreten waren, so waren sie doch Teil der ländlichen Gesellschaft und zum Beispiel als Viehhändler Teil des ländlichen Wirtschaftslebens. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie gleichberechtigte Bürger. In Bad Ems erhielt zum Beispiel der Buchhändler Kirchberger gleich bei den ersten freien Wahlen 1848 viele Stimmen. Um 1900 gab es in vielen Gemeinden jüdische Geschäfte und Handwerksbetriebe, aber auch soziale Einrichtungen. Synagogen zeugen von einem regen kulturellen Leben, Juden in der Kommunalpolitik, im Männergesangverein und in der Freiwilligen Feuerwehr und bereits 1870 als Soldaten im Krieg zeigen, dass sie ein Teil der Gesellschaft auch in unserer Region waren. Umso erschreckender ist es, das Schicksal der jüdischen Bevölkerung ab 1933 zu verfolgen. Auch in unserer Heimat wurden sie diskriminiert und drangsaliert und ihrer Existenzgrundlage beraubt. Viele Menschen mussten das untere Lahngebiet, das oft seit Generationen Heimat ihrer Familien war, verlassen und auswandern. Und vielen weiteren gelang die Auswanderung nicht mehr. So führen auch aus den Städten und Gemeinden an der Lahn viele Wege in die Vernichtungslager und in den gewaltsamen Tod. Das einst blühende jüdische Leben wurde auch hier brutal ausgelöscht. Regionalgeschichte hat den Holocaust zu thematisieren, und sie muss zugleich verständlich machen, dass zuvor über viele Generationen jüdisches Leben Teil der regionalen Geschichte war.

0.6.Alte und neue Fragen an die Geschichte

Jede Epoche stellt ihre eigenen Fragen an die Geschichte. Heute bewegen uns Themen wie Globalisierung, Umwelt, Klimawandel, Migration und Heimat, politische Teilhabe, soziale Ungleichheit und Gleichberechtigung. All das hat die Menschen auch in der Geschichte bewegt, aber man kannte diese Begriffe nicht. Eine zeitgemäße Regionalgeschichte muss diese Themen aufgreifen, wird sie aber nicht nach heutigen Kriterien und mit heutigen Begriffen plakativ präsentieren, sondern in verschiedenen historischen Zusammenhängen einordnen. So sind auch früher schon Menschen zugewandert, die in ihrer Heimat aus religiösen Gründen verfolgt wurden. Wie wurden sie hier aufgenommen? Wie kann man sich ihre Integration vorstellen? Andere sind auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen ausgewandert. Die Kapitel zur Wirtschaftsgeschichte des unteren Lahntals wiederum führen zwangsläufig zur Frage nach der Umwelt und wie sich das Bild der Landschaft verändert hat. Und das Aufkommen der Kolonialwarenläden zeigt, wie sich „Globalisierung“ bis in die dörflichen Haushalte und Küchen auswirken konnte.

Einige Themen sind „Klassiker“ der regionalen Geschichte: Burgen, Herrschaftsverhältnisse, Kriegsnöte oder Hexenprozesse zum Beispiel. Andere Themen aus der neuesten Zeit sollten inzwischen selbstverständlich dazugehören. Für den Nationalsozialismus galt das noch vor wenigen Jahrzehnten keineswegs. Im von der Kreisverwaltung des Rhein-Lahn-Kreises 1987 herausgegebenen Buch „Der Rhein-Lahn-Kreis. Landschaft, Geschichte, Kultur unserer Heimat“ hat Hubertus Seibert erstmals für die gesamte Region den Nationalsozialismus und das Schicksal der Juden thematisiert, was im Vorfeld in einer Redaktionssitzung nicht unumstritten war. Das nun vorliegende Buch braucht keine Pionierarbeit mehr zu leisten, sondern kann inzwischen auf eine recht gute Literatur zurückgreifen. Dennoch ist die NS-Zeit für unsere Region längst nicht erschöpfend erforscht. Und auch auf anderen Themenfeldern bleibt noch jede Menge zu tun und zu entdecken, für Wissenschaftler, Studierende, Heimatforscher oder Schülerinnen und Schüler. Sicher kann eine strukturierte Regionalgeschichte auch dazu Anregungen geben.

0.7.Eine zeitgemäße Heimatkunde?

Ein Buch zur Geschichte einer Region ist auch ein „Heimatbuch“. So ist es sinnvoll, sich mit dem Begriff „Heimat“ etwas näher zu befassen. Wir können das hier nicht auf einer wissenschaftlichen Ebene tun. [Anm. 3] Vielmehr sollen einige Gedanken mitgeteilt werden, die im Verlauf der Arbeit an der „Geschichte des unteren Lahntals und seiner Region“ aufkamen.

Die Geschichte einer Region hat Bedeutung für die Menschen, die in ihr leben, die dort ihre Heimat haben oder eine neue Heimat finden möchten. Wenn wir hier die regionale Geschichte auch als Heimatgeschichte begreifen, führt das zwangsläufig zur Frage, wie wir heute mit dem Begriff Heimat umgehen. Aus unterschiedlichen Gründen empfinden ihn viele Menschen als problematisch. Schließlich tragen auch die gesellschaftlichen Veränderungen, Mobilität und Migration dazu bei, dass wir uns heute mit „Heimat“ schwertun. So ist es verständlich, dass es Überlegungen gibt, das Wort auch in den Plural zu setzen.

Heimat muss also neu gedacht werden. Bereits 1986 plädierte der Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger für ein neues Verständnis von „Heimat in einer offenen Gesellschaft“ und forderte zu einer aktiven Teilnahme, zu einem Mitgestalten der eigenen Umwelt auf. [Anm. 4] Über drei Jahrzehnte später diskutierte er mit Muhterem Aras, der baden-württembergischen Landtagspräsidentin und Schwäbin mit kurdischen Wurzeln. Dabei entstand ein Buch, das allein schon durch seinen Titel zum Nachdenken herausfordert: „Heimat. Kann die weg?“ [Anm. 5] 

Nach wie vor hat Heimat mit Vertrautheit und Identifikation zu tun, aber auch mit sich verändernden Lebenssituationen der eigenen Biographie. „Heimat ist ein Ort, an dem man sich wohlfühlt und mit dem man sich identifiziert, und gleichzeitig auch etwas, zu dem man immer wieder neu unterwegs ist“, sagt die Kulturwissenschaftlerin Marion Nöldeke. [Anm. 6] „Heimat“ bleibt Teil unseres Wortschatzes. In vielen Landkreisen gibt es bis heute Heimatjahrbücher. Das Statistische Landesamt Rheinland-Pfalz bietet umfangreiches statistisches Material zu Landkreisen und Kommunen unter dem Link „Meine Heimat“ an. [Anm. 7] Die regionale Tageszeitung hat „Heimatausgaben“, es gibt Heimatvereine und Heimatmuseen. Es herrscht ein breiter Konsens, dass der Wunsch nach Heimat für Menschen völlig normal ist. Ebenso dürfte inzwischen ein breiter Konsens herrschen, dass Heimat nicht nur der Ort sein kann, an dem man geboren wurde oder in dem man prägende Jahre seiner Kindheit und Jugend verbracht hat. Auch Menschen, die von weither ins Lahntal gekommen sind, können und sollen, sofern sie hier dauerhaft leben, sich hier heimisch fühlen, mögen sie um 1950 als Vertriebene aus dem Sudetenland gekommen sein, um 1970 als Gastarbeiter, um 1990 als Spätaussiedler oder um 2020 als Asylsuchende. Dem steht nicht entgegen, dass sie Bindungen an die „alte Heimat“ behalten und sie vielleicht auch ihren Kindern vermitteln, dass sie sich also ihrer Herkunft bewusst bleiben.

Wenn Heimat so, wie sie hier verstanden wird, für Menschen und die Gesellschaft von Bedeutung ist, dann kann auch die Beschäftigung mit der Geschichte einer Region helfen, Heimat zu verstehen und zu finden.

Nieverner Hütte um 1850. Stich von F. C. Reinermann. Industrieanlagen wie diese Eisenhütte konnten durchaus als romantisches Motiv gelten. Bis zur Umstellung auf Steinkohle verschlangen sie große Mengen Holzkohle.[Bild: Stadtarchiv Bad Ems]

Kalksteinbruch bei Altendiez und Fachingen um 1960. Beiderseits der Lahn erstreckten sich große Tagebaue. Nach ihrer Aufgabe entstand z. B. bei Fachingen (rechts im Bild) ein Naturschutzgebiet, unterhalb von Altendiez liegt heute ein Baggersee inmitten eines Erholungsgebietes. Die meisten Radfahrer auf dem heute unmittelbar am Fluss verlaufenden Lahntal-Radweg werden kaum die Überreste der einstigen Tagebaue bemerken.[Bild: Foto: Sammlung Stephan Klimmek]

1.8.Regionalgeschichte in der Schule

Bis in die 1960er Jahre gab es das Schulfach Heimatkunde. Später wurde sie an den Grundschulen durch den Sachunterricht ersetzt. Dort wie auch an anderen Schulformen bieten die Lehrpläne Möglichkeiten zu regionalen Bezügen. Das zeigt auch ein Blick in den Lehrplan für die gymnasiale Oberstufe in Rheinland-Pfalz. [Anm. 8] Dazu nur einige Beispiele. Nationalsozialismus und Holocaust sind im genannten Lehrplan ein Pflichtmodul. In der „Geschichte des unteren Lahntals und seiner Region“ sollen die entsprechenden Abschnitte deutlich machen, dass der Nationalsozialismus auch in den Städten und Dörfern an der unteren Lahn das Leben der Menschen prägte und dass sich seine Herrschaft bis in die Schulen und Vereine hinein erstreckte. Sie zeigen, dass auch aus dem heimatlichen Raum viele Juden deportiert und ermordet wurden. So kann die eher anonyme Geschichte mit konkreten Schicksalen aus dem eigenen Wohnort oder seiner Umgebung verbunden werden. Die Frage, wie es zur NS-Diktatur kommen konnte, führt zwangsläufig zur Weimarer Republik. Der Blick auf die regionale Geschichte zeigt, wie sich etwa die damaligen Wirtschaftskrisen im Lahntal ausgewirkt haben, mit Betriebsschließungen, Massenentlassungen und Menschen in Not. An regionalen Wahlergebnissen lässt sich schließlich der Aufstieg des Nationalsozialismus in der eigenen Heimat verfolgen. Die Industrialisierung, die Revolution von 1848 oder auch der römische Limes sind weitere Beispiele, wie vielfältige Verbindungen von der allgemeinen zur regionalen Geschichte und umgekehrt führen.

Das Buch soll also recht unterschiedlichen Ansprüchen genügen. Es soll Interesse an der regionalen Geschichte wecken und befriedigen, es soll zum Nachschlagen oder auch einfach zum „Schmökern“ dienen, neugierig machen und Fragen beantworten sowie Hilfestellungen zu eigenen Nachforschungen geben. Schulen der Region soll es Informationen und Material bieten, regionale Themen im Unterricht einzubinden und Geschichte mit der Lebenswelt junger Menschen zu verbinden.

1.9.Literaturverzeichnis

  • Bausinger, Hermann: Heimat in einer offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte. In: J. Kelter (Hrsg.): Die Ohnmacht der Gefühle. Heimat zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Weingarten 1986.
  • Bausinger, Hermann und Aras, Muhterem: Heimat. Kann die weg? Ein Gespräch. Tübingen 2019.
  • Bünz, Enno: Wozu Landesgeschichte? Oder: Warum regionale Perspektiven in der Geschichte unverzichtbar sind, 28.06.2010, www.regionalgeschichte.net, URN: urn:nbn:de:0291-rzd-010832-20201212-3 (Aufruf 16.12.2022).
  • Gallion, Nina, Göllnitz, Martin und Schnack, Frederieke Maria: Potentiale des historischen Raumbezugs. Einleitende Überlegungen zu Historiographie und Systematik der Regionalgeschichte. In dies. (Hrsg.): Regionalgeschichte. Potentiale des historischen Raumbezugs. Göttingen 2021, S. 9-26.
  • Hinrichs, Ernst: Landes- und Regionalgeschichte. In: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 539-556.
  • Knoll, Martin und Scharf, Katharina: Europäische Regionalgeschichte. Eine Einführung. Wien 2021.
  • Morlang, Adolf: Merkmale und Chancen der Heimatgeschichte heute. In: Heimatjahrbuch Rhein-Lahn-Kreis 1992, S. 126-133.
  • Nöldeke, Marion: Vielfalt von Heimat - Kulturwissenschaftliche Streiflichter zu einem vielschichtigen Begriff, 13.02.2021, www.regionalgeschichte.net, URN: urn:nbn:de:0291-rzd-020517-20210329-3 (Aufruf 18.8.2023).
  • Sarholz, Hans-Jürgen: Geschichte des unteren Lahntals und seiner Region. Herausgegeben vom Verein für Geschichte, Denkmal- und Landschaftspflege e.V. Bad Ems. Bad Ems 2023.
  • Schaaf, Erwin: Heimat – Wirklichkeit und Ideologie. In: Kreisjahrbuch Bernkastel-Wittlich 2019, S. 76-80.
  • Schmid, Wilhelm: Heimat ist mehr als ein Ort. In: Die Zeit Nr. 18, 29. April 2021.
  • Schüle, Christian: Heimat in Zeiten des Wandels. In: Heimat in Zeiten des Umbruchs. Hrsg.: Bund Heimat und Umwelt in Deutschland e.V., Bonn 2020, S. 15-31.

Anmerkungen:

  1. Sarholz 2023. Zurück
  2. Allgemein zur Diskussion um Regionalgeschichte in der Geschichtswissenschaft siehe z. B. Hinrichs 1998, S. 539-556; Knoll und Scharf 2021, insbes. die Einleitung; Bünz 2010; Gallion, Göllnitz und Schnack 2021, S. 9-26. Zurück
  3. Siehe z.B. Bausinger 1986, S. 15-31; Nöldeke 2021; Schmid 2021. Auch in Heimatjahrbüchern wird das Thema aufgegriffen, siehe Morlang 1992, S. 126-133; Schaaf 2019, S. 76-80. Zurück
  4. Bausinger 1986, 15-31. Zurück
  5. Aras und Bausinger 2019.  Zurück
  6. Nöldeke 2021. Zurück
  7. Statistisches Landesamt Rheinland-Pfalz | Meine Heimat | Willkommen in Rheinland-Pfalz (rlp.de)Zurück
  8. Lehrplan für die Gesellschaftswissenschaftlichen Fächer. Mainzer Studienstufe. Erdkunde, Geschichte, Sozialkunde“ (2022), herausgegeben vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz. Zurück