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Rheinhessen historisch - Ausstellung zum 200-jährigen Jubiläum 2016

Der folgende Text basiert auf den am IGL erarbeiteten Ausstellungstexten.

0.1.Schon immer attraktiv - Das Gebiet des heutigen Rheinhessen vor 1816

Das Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz im Jahre 1789. Die Karte zeigt die über Jahrhunderte entstandene territoriale Zersplitterung.

Als Ludwig I. Großherzog von Hessen im Jahre 1816 vom nördlichen Teil des Département Donnersberg Besitz ergriff, fand er eine attraktive Region vor, die seit Jahrhunderten von europäischer Geschichte und Kultur geprägt war. Bereits die Römer hatten diesen Raum zum Grenzland ihres Reiches gemacht. Im Mittelalter entwickelte sich die Region zu einer zentralen Landschaft des Heiligen Römischen Reiches und unterteilte sich in eine Vielzahl größerer und kleinerer Herrschaften. Zur politischen Buntheit kam nach der Reformation, als der Landesherr die Konfession seiner Untertanen bestimmte, noch die religiöse Vielfalt hinzu. Alzey, Bingen, Ingelheim, Oppenheim, Mainz und Worms waren Zentren mächtiger geistlicher und weltlicher Fürsten des Reiches, des Pfalzgrafen bei Rhein und des Mainzer Erzbischofs.

Die zentrale Lage der Region führte allerdings auch dazu, dass der Raum im 17. und 18. Jahrhundert regelmäßig in kriegerische Auseinandersetzungen hineingezogen wurde, unter welchen besonders die Zivilbevölkerung zu leiden hatte.

Die Französische Revolution 1789 läutete eine neue Zeit ein. Innerhalb weniger Jahre erlebten die Menschen in der Region den Zusammenbruch zweier Herrschaftssysteme. Die ganz Europa erfassenden militärischen Auseinandersetzungen 1789 entzogen dem Alten Reich den Boden unter den Füßen, neue politische Ordnungen entstanden. Nach dem kurzen Intermezzo der „Mainzer Republik“ 1792/93 wurde die Region ab 1798 als Département du Mont-Tonnerre Teil des französischen Staatsgebietes. Daraus resultierten weitreichende Konsequenzen, die alle Bereiche des öffentlichen Lebens grundlegend veränderten. Das spätere Rheinhessen erhielt durch die französischen Reformen einen nachhaltigen Modernitätsschub. Der Grundbesitz wurde neu geordnet, die Gewerbefreiheit eingeführt, bürgerliche Rechte im Code Civil festgeschrieben.

Nach den Niederlagen in der Völkerschlacht bei Leipzig (1813) und Waterloo (1815) brach die französische Herrschaft in Europa zusammen. Es entstand ein politisches Vakuum, weshalb ab 1814 die Vertreter ca. 200 europäischer Staaten in Wien zusammenkamen, um Europa neu zu ordnen. Besonders im Falle der linksrheinischen Gebiete war aber klar, dass man nicht zur alten Ordnung vor Napoleons Besetzung zurückkehren konnte. Dort hatten die Franzosen moderne Reformen eingeführt, an denen man festhalten wollte. Es waren also keine leichten Voraussetzungen, als der Großherzog Ludwig I. von Hessen 1816 in den Besitz der Region kam.

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0.2.Wenn zwei sich streiten, „freut sich“ der Dritte – Die Region kommt zum Großherzogtum Hessen

Ludwig I. von Hessen-Darmstadt (1753 – 1830), Ölbild von Louis Ammy Blanc, 1846. Ludwig war ab 1790 als Ludwig X. Landgraf von Hessen-Darmstadt, mit dem Beitritt seines Landes zum Rheinbund ab 1806 als Ludwig I. Großherzog von Hessen und seit 1816 Großherzog von Hessen und bei Rhein.

Nach den Napoleonischen Kriegen wurden die linksrheinischen Gebiete, die heute Rheinhessen bilden, zunächst einer bayerisch-österreichischen Verwaltung unterstellt. Sowohl für Preußen als auch für Bayern sollte dieser Raum vor allem wegen seiner Festungsstadt Mainz eine wichtige Ergänzung ihrer Territorien werden. Diese Pläne stießen allerdings auf den Widerstand der Großmächte Russland, Österreich und Frankreich. Am Ende des Wiener Kongresses bekamen weder Preußen noch Bayern den Zuschlag. Stattdessen regelte der auf den 30. Juni 1816 datierte Staatsvertrag, dass der nördliche Teil des ehemaligen Département du Mont-Tonnerre dem Großherzogtum Hessen als Ersatz für das an Preußen abgetretene Herzogtum Westfalen zufallen sollte. Im neuen Landesteil wohnten rund 160.000 Menschen in 179 Gemeinden.

Mainz wurde zur Bundesfestung, in welcher preußische und österreichische Truppen stationiert wurden.

Unverhofft kam so der Großherzog von Hessen, der lieber sein westfälisches Herzogtum behalten hätte, zu einem Territorium, das aufgrund der 16-jährigen Zugehörigkeit zu Frankreich völlig anders aufgestellt war als die hessischen Stammlande. In der Besitzergreifungsurkunde Großherzogs Ludwig I. vom 18. Juni 1816 wird das politische Spannungsfeld zwischen feudalem Herrschaftsanspruch und bürgerlichen Freiheiten bereits deutlich:

Wir Ludewig von Gottes Gnaden, Großherzog von Hessen und bei Rhein etc. etc. thun kund, und fügen hiermit zu wissen: Nachdem Wir mit Seiner Majestät dem Kaiser von Oesterreich und mit Seiner Majestät dem Könige von Preußen, am 30. des vergangenen Monats Juni, zu Frankfurt am Main einen Staatsvertrag abgeschlossen haben […] so nehmen Wir nunmehro […] von vorbenannten Gebieten und Orten, sammt allen ihren Zuständigkeiten und Zubehörungen, feierlichen Besitz […]. Indem Wir solches thun, verlangen Wir von allen Einwohnern dieser Lande […], daß sie Uns von nun an als ihren rechtmässigen Regenten und Landesherrn erkennen und ansehen […].
Wir ertheilen ihnen dagegen die Versicherung, daß sie in Unserer landesväterlichen Huld und Gnade ruhen, und daß Wir der Beförderung ihrer Wohlfahrt Unsere unermüdete Sorgfalt widmen werden. […] [D]ie Reste des Feudalsystems, die Zehnten und Frohnden, sind und bleiben in diesen Landen unterdrückt; das wahrhaft Gute, was Aufklärung und Zeitverhältnisse herbeigeführt, wird ferner bestehen; […] eine sichere Justizverwaltung, die Unverletzlichkeit jedes erworbenen Eigenthums, die Wohltaten eines gut eingerichteten öffentlichen Unterrichts, die Freiheit des Glaubens, und die Preßfreiheit, haben sich Unseres besonderen Schutzes, Unserer vorzüglichen Pflege zu erfreuen. (Großherzoglich Hessische Zeitung vom 11. Juli 1816)

Ludwig I. nannte sich nun in Anlehnung an die alte Kurpfalz "Großherzog von Hessen und bei Rhein", und das neue Gebiet erhielt daher ab 1817 den Namen „Rhein-Hessen“.

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0.3.Ein schwieriges Erbe - Die aufmüpfigen Rheinhessen

Der in Koblenz geborene Klemens Wenzel Lothar von Metternich (1773 – 1859) war als österreichischer Außenminister einer der wichtigsten Strippenzieher beim Wiener Kongress. Portrait eines unbekannten Meisters, ca. 1835 – 1840.[Bild: gemeinfrei]

Der nördliche Teil des ehemaligen Département du Mont-Tonnerre unterschied sich grundlegend von den rechtsrheinischen Gebieten des hessischen Großherzogtums. Hier hatten die Franzosen bereits die Rechtsgleichheit und Gewerbefreiheit eingeführt und damit die Lebensbedingungen vereinheitlicht. Nicht zuletzt waren die Vorrechte des Adels abgeschafft worden. Diese Errungenschaften wollten die Rheinhessen als „rheinische Institutionen“ auch unter den neuen Machthabern behalten.

Doch in den Jahren nach dem Wiener Kongress verfolgten die Mächte des Deutschen Bundes – angeführt vom österreichischen Außenminister Klemens von Metternich – eine restaurative Politik, mit der man das Rad der Geschichte zurückdrehen und jegliche liberalen und nationalen Bestrebungen unterdrücken wollte. Zugleich hatten die Staaten des Deutschen Bundes Angst vor einer Revolution nach französischem Vorbild. Deshalb wurden in den "Karlsbader Beschlüssen" von 1819 vor allem Maßnahmen gegen freiheitliche, demokratische Tendenzen in der Bevölkerung verankert. Gerade im Großherzogtum Hessen wurden die in Karlsbad beschlossenen Kontroll- und Unterdrückungsmaßnahmen besonders rigoros umgesetzt. Von 1819 bis 1828 bestand in der Bundesfestung Mainz – gleichsam in der Höhle des Löwen – die so genannte Zentraluntersuchungskommission zur Untersuchung hochverräterischer Umtriebe im Deutschen Bund. 1833-1848 wurde sie von einem Geheimdienstbüro abgelöst.

Angesichts der Vorgeschichte und der französischen Einflüsse auch auf die politische Kultur ist es kaum verwunderlich, dass gerade in Rheinhessen die Wogen der Empörung besonders hoch schlugen. Als 1832 im bayerisch-pfälzischen Hambach mehr als 20.000 Menschen für Freiheit, Volkssouveränität und nationale Einheit protestierten, waren auch zahlreiche Rheinhessen dabei. Als der Siegeszug des rheinischen Karneval, ausgehend von Köln, 1833 in Bingen und wenige Jahre später in Mainz ankam, wurde das zunächst unpolitische Fest politisch aufgeladen und die Bütt wurde zum Podium für Kritik an den bestehenden Verhältnissen.

Als ganz Europa in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts von Unruhen geprägt war, kam es auch in Mainz, angeführt vom Advokaten Franz Zitz, zu Revolten. Und als im Zuge der demokratischen Revolution von 1848 in der Frankfurter Paulskirche erstmals ein gesamtdeutsches Parlament tagte, spielten die Abgeordneten aus Rheinhessen eine wichtige Rolle im Lager der republikanisch gesinnten Demokraten. Zum Bezirksrat fanden erstmals freie Wahlen statt, an denen sich alle männlichen Bürger über 21 Jahren beteiligen konnten. Preußische Truppen schlugen die Revolution ein Jahr später nieder. Viele Demokraten mussten emigrieren. Wer blieb oder später zurückkam musste sich mit den Verhältnissen arrangieren.

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0.4.Aufbruch in die Moderne – Rheinhessen im 19. Jahrhundert

1906/07 wurde das Wasserwerk Guntersblum zur besseren Versorgung der Bevölkerung errichtet. Es ist ein Dokument des technischen Fortschritts und wurde in neobarocken Formen mit deutlichen Einflüssen des Jugendstils erbaut. (Quelle: Bildarchiv Institut für Geschichtliche Landeskunde).
Eine Karikatur zu der Erwartungshaltung deutscher Auswanderer in der Satirezeitung „Fliegende Blätter“ von 1845. (Quelle: Bildarchiv Institut für Geschichtliche Landeskunde)

Als neuer Machthaber über die Provinz Rheinhessen ließ Ludwig I. eine Verfassung ausarbeiten, die im Jahre 1820 in Kraft trat. Der Großherzog war kein Verfechter der Beteiligung seiner Untertanen an der Regierung. Doch er hatte keine Wahl, da die Einführung von Verfassungen in § 13 der Bundesakte des Deutschen Bundes festgelegt war. Die rheinhessischen Neubürger beriefen sich auf ihre Rechte aus französischer Zeit. Dabei darf das Gesetzeswerk nicht mit heutigen Maßstäben gemessen werden. Der Großherzog hatte als Landesvater alle „Rechte der Staatsgewalt“ inne. Seine Person war „heilig und unverletzlich“. Aktives Wahlrecht hatten nur Männer mit einem bestimmten Einkommen (Zensuswahlrecht). In die Volkskammer konnten nur Vertreter einer Liste von Höchstbesteuerten gewählt werden – im gesamten Großherzogtum waren das lediglich 985 Personen, von denen über 50 % aus Rheinhessen kamen. So stärkte die Verfassung im Wesentlichen den Adel und das Großbürgertum.

Rheinhessen war bäuerlich geprägt. Dem Weinbau kam dabei eine wichtige Rolle zu. Die Regierung in Darmstadt förderte die Agrarwirtschaft, und viele Neuerungen ließen die Erträge im 19. Jahrhundert erheblich steigen. 1831 wurde dazu ein landwirtschaftlicher Verein gegründet, 1895 folgte die Obst- und Weinbauschule in Oppenheim. Die
von England ausgehende Industrialisierung kam in der zweiten Jahrhunderthälfte auch in der Provinz Rheinhessen an. Ab 1885 baute Albert Boehringer in Nieder-Ingelheim eine chemische Fabrik auf, Worms wurde zum Zentrum der Lederindustrie. Auch in Rheinhessen wurde die Eisenbahn zu einem wichtigen Motor der wirtschaftlichen Entwicklung.

Doch die Kluft zwischen Arm und Reich blieb immens. Fortschritte in der Ernährung, der Hygiene und der Medizin führten zu einem starken Bevölkerungswachstum. Da die bäuerlichen Betriebe immer weiter aufgeteilt wurden (Realerbteilung), boten viele keine ausreichende Grundlage mehr zur Versorgung der Familien. Viele Rheinhessen wanderten aus und suchten ihr Glück in der Neuen Welt.

Das Streben nach politischer Mitbestimmung und die Durchsetzung gemeinsamer Interessen äußerten sich in der Gründung von Parteien und Vereinen. Nationalliberale, Zentrum und Sozialdemokraten bestimmten die politische Landschaft. Unter Großherzog Ernst Ludwig konnte sich neben dem Historismus der Jugendstil als Teil der Lebensreformbewegung ausbreiten.

Anfang des 20. Jahrhunderts ging es den Menschen vergleichsweise gut. Es hatte schon lange keine kriegerischen Konflikte auf deutschem Boden mehr gegeben. Doch es war eine trügerische Ruhe, denn im Untergrund brodelte es in ganz Europa.

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0.5.Von einer Katastrophe in die andere – Rheinhessen 1914-1933

Als die Provinz Rheinhessen im Jahre 1916 ihr 100-jähriges Bestehen feierte, tobte bereits der Erste Weltkrieg. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo zwei Jahre zuvor war der Funke, der das „Pulverfass“ Europa zur Explosion gebracht hatte. Man befürchtete bereits vor Kriegsausbruch, dass Rheinhessen zum Kriegsschauplatz werden könnte. Deshalb wurde in einem weiten Umkreis um Mainz die sogenannte Selzstellung gebaut - eine der modernsten militärischen Anlagen der damaligen Zeit.

Auf den Kriegsausbruch 1914 reagierte die Bevölkerung mit gemischten Gefühlen. Die Rheinhessen waren erleichtert, dass ihre Region nicht unmittelbar von kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen war. Dennoch wirkte sich der Konflikt auch an der „Heimatfront“ aus. Zahlreiche Söhne und Familienväter verloren ihr Leben im Krieg, der erstmals mit Massenvernichtungswaffen geführt wurde. So kamen Verwundete und Kriegsgefangene in die frontnahen Gebiete. Die Wirtschaft wurde auf Kriegs- und Ersatzstoffproduktion umgestellt. Nicht zuletzt infolge der britischen Handelsblockade kam es 1916 auch in Mainz und Worms zu ersten Hungerdemonstrationen.

Vor dem Hintergrund der drohenden Niederlage wurde Kaiser Wilhelm II. 1918 gezwungen abzudanken. In Hessen setzte der Darmstädter Arbeiter- und Soldatenrat am 9. November 1918 den letzten Großherzog Ernst Ludwig ab. Aus dem ehemaligen Großherzogtum wurde ein nach demokratischen Richtlinien organisierter „Volksstaat“, der erstmals nach 1848 wieder freie Wahlen garantierte. Der Versailler Vertrag regelte 1919, dass die linksrheinischen Gebiete 15 Jahre lang von französischen Soldaten besetzt werden sollten. Diesmal ging es den Franzosen nicht um die Eingliederung der Region in den französischen Staat, wie unter Napoleon gut 100 Jahre zuvor, sondern um ein Pfand für die Zahlung der Kriegsreparationen und einen Sicherheitspuffer zwischen Frankreich und Deutschland. Dank der Friedenspolitik der Nobelpreisträger Aristide Briand und Gustav Stresemann wurde die Besetzung bereits zum 30. Juni 1930 vorzeitig beendet. In Rheinhessen wurde diese Befreiung überall gefeiert.

Architektur und Literatur waren ein Spiegel ihrer Zeit. So standen sich die Weimarer Bauhaus-Bewegung als Vorreiter der Moderne und ein am Historismus orientierter Heimatstil gegenüber. Beim Theater gab es auf der einen Seite die traditionellen Volksstücke des 18. Jahrhunderts und auf der anderen Seite gesellschaftskritische „Anti-Volksstücke“, beispielsweise von Carl Zuckmayer. Sein 1925 uraufgeführtes Lustspiel „Der fröhliche Weinberg“ hatte in Berlin großen Erfolg, in seiner rheinhessischen Heimat schuf er sich damit aber viele Feinde. Bei der ersten Vorstellung in Mainz musste das Stadttheater sogar gegen protestierende Weinbauern abgeriegelt werden.

Die Wirtschaftskrisen führten auch zur Radikalisierung der Politik. Rechte Gruppierungen rekrutierten ihr Personal aus der Opposition gegen die französische Besatzung, linksradikale Verbünde aus der Opposition gegen die Besitzverhältnisse. Nach bescheidenen Anfängen stieg der Stimmenanteil der NSDAP bei den Reichstagswahlen Anfang der 30er Jahre rapide an. Erhielten die Nationalsozialisten in Rheinhessen bei den Wahlen am 14. September 1930 noch 17,7 % der Stimmen, waren es am 5. März 1933 bereits 43 %. In katholisch geprägten Regionen lag der Anteil unter dem Durchschnitt, während in protestantischen Gemeinden die Zustimmung erheblich größer war. Die KPD erreichte in den Städten über 10 Prozent, bei den Landtagswahlen 1931 in Rheinhessen 12,69%. Bis 1930 hatten die Parteien der Weimarer Koalition (SPD, Zentrum und die linksliberale DDP) die absolute Mehrheit bei Wahlen in der Region. Erst 1932 mussten sie im südlichen Rheinhessen Verluste hinnehmen. Dort wanderten viele rechtsliberale Wähler ins nationalistische Lager ab.

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0.6.Der Super-GAU – NS-Diktatur und Zweiter Weltkrieg

Nach der „Machtergreifung“ der NSDAP begann die Gleichschaltung von Politik und Gesellschaft. Die Notverordnung vom 28. Februar 1933 hebelte die in der Weimarer Verfassung garantierten Grundrechte auf gesetzlichem Wege aus. Mittels Hausdurchsuchungen und Androhung von „Schutzhaft“ setzte man Parteien und Gewerkschaften massiv unter Druck. Die Inhaftierung politischer Gegner führte bereits Anfang März 1933 zur Einrichtung des KZ Osthofen.

Die in Mainz geborene Schriftstellerin Anna Seghers vermittelt in ihrem Roman „Das siebte Kreuz“ ein beklemmendes Stimmungsbild der politischen Verfolgung in den dreißiger Jahren. Jüdische Bürger wurden infolge des Antisemitismus ausgegrenzt und vertrieben. Zentrales Schlagwort der Nazis war die rassistisch definierte „Volksgemeinschaft“, deren Erhalt als moralischer Auftrag und nationaler Aufbruch verkauft wurde.

Die Nazis boten jungen, dynamischen Zeitgenossen Aufstiegsmöglichkeiten. Ein typisches Beispiel ist der Mainzer Werner Best. 1903 geboren war er zurzeit der „Machtergreifung“ 30 Jahre alt. Der promovierte Jurist stieg als Personalchef der Gestapo zu einer der tragenden Säulen des NS-Terrorregimes auf. Auch der 1901 in Worms geborene NS-Kulturfunktionär Hans Hinkel gehörte zu dieser Generation von Parteikarrieristen.

Die Novemberpogrome 1938, bei denen auch in Rheinhessen zahlreiche Synagogen, jüdische Geschäfte und Friedhöfe zerstört wurden, markierten den Übergang von der Diskriminierung zur systematischen Verfolgung und Vernichtung der Juden. Ab März 1942 wurden in mehreren Transporten tausende rheinhessische Juden in Konzentrationslager deportiert und ermordet, ebenso Sinti und Roma. Ermordet wurden auch körperlich und geistig beeinträchtigte Menschen, u.a. aus der damaligen Heil- und Pflegeanstalt in Alzey. In den Konzentrationslagern starben auch viele politische Gegner des NS-Regimes.

Schon 20 Jahre nach dem Frieden von Versailles entfesselte Hitlers Überfall auf Polen am 1. September 1939 den nächsten Weltkrieg, der erneut massive, unerträgliche Einschnitte in allen Lebensbereichen brachte. Die Zahl der Getöteten und Vermissten wuchs täglich. Nach den Bombardierungen im Frühjahr 1945 war Mainz zu 80% zerstört, Worms verlor zwei Drittel der Innenstadt. Am 13./14. März 1945 überschritten die Amerikaner in Mosel, am 20. März wurden Bingen und Ingelheim befreit, und mit der Einnahme der Stadt Mainz am 22. März war der Krieg für die Rheinhessen endlich vorbei, bevor am 8. Mai 1945 die deutschen Streitkräfte bedingungslos kapitulierten.

Die Deutschen hatten mehrheitlich ein politisches Regime gewählt, das nach den Morden an Minderheiten und politischen Gegnern sowie den Kriegsverbrechen in anderen Staaten auch die Gewalt gegen die ihm folgende Bevölkerung als Teil eines "Endkampfes“ einkalkuliert hatte.

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0.7.Neubeginn und politische Auflösung – Rheinhessen nach 1945

Nach Kriegsende teilten die Siegermächte Deutschland in vier Besatzungszonenauf, wobei Rheinhessen erneut unter französisches Kommando gestellt wurde. Rheinhessen wurde Teil der französischen Zone. Mit der Ordonnance 57 vom 30. August 1946 gründeten die Franzosen im Nordteil ihrer Zone ein neues Land: Rheinland-Pfalz. Sie verfolgten eine „doppelte Deutschlandpolitik“: wirtschaftliche Ausbeutung ihrer Besatzungsgebiete auf der einen und kulturelle Förderung auf der anderen Seite. Nachdem im Oktober 1945 erstmals eine Landesversammlung unter Wilhelm Boden (1890 – 1961), dem ersten Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, zusammengetreten war, wurde die Verfassung am 18. Mai 1947 der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt. Die Rheinhessen stimmten mit 53,2% gegen die Verfassung, zum einen weil sie den Anschluss an Hessen suchten, zum anderen wegen des Schulartikels, der die Bekenntnisschule wieder einführte. Im gesamten Land allerdings wurde die Verfassung mit knapper Mehrheit angenommen.

1949 wurde Rheinhessen Teil der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland und war einer von fünf Regierungsbezirken, in die sich das neue Land Rheinland-Pfalz gliederte. Im Zuge der Verwaltungsreform wurden am 7. Juni 1969 die Regierungsbezirke Pfalz und Rheinhessen zum Regierungsbezirk Rheinhessen-Pfalz zusammengelegt. Seit der Auflösung der Regierungsbezirke am 1. Januar 2000 existiert Rheinhessen nicht mehr als Verwaltungseinheit. Der Name bezeichnet jedoch weiterhin die Wein-, Tourismus-, Kultur- und Planungsregion.

Das heutige Rheinhessen umfasst 1.400,6 km² mit 610.518 Einwohnern (Stand 2013). Es besteht aus den kreisfreien Städten Mainz und Worms sowie den Landkreisen Mainz-Bingen und Alzey-Worms mit insgesamt 14 Verbandsgemeinden sowie 135 Ortsgemeinden. Rheinhessen als sowohl städtisch wie ländlich geprägte Region am Rhein ist ein Motor der rheinland-pfälzischen Wirtschaft.

Die Landwirtschaft und vor allem der Weinbau spielen immer noch eine zentrale Rolle, doch prägen auch zahlreiche mittelständische Unternehmen und Großunternehmen wie Boehringer Ingelheim, Eckes-Granini in Nieder-Olm oder juwi in Wörrstadt die Region. Im Ranking des Jahres 2014 liegt der Kreis Mainz-Bingen unter mehr als 400 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland an erster Stelle, was Kaufkraft, Wirtschaftsstärke und Zukunftsfähigkeit angeht.

Dem demographischen Wandel seit den 70er Jahren folgte ein tiefgreifender ökonomischer und gesellschaftlicher Strukturwandel. Heute (Stand 2014) ist ca. jeder fünfte Rheinhesse über 65 Jahre und nicht mehr berufstätig. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung beträgt ca. 11%, in Mainz 15,7% und in Worms 13,1%. Wegen der zentralen Lage und der regionalen Wirtschaftskraft wird mit einem Bevölkerungswachstum gerechnet.

In Mainz haben die öffentlich-rechtlichen Anstalten ZDF und Südwestrundfunk ihren Sitz. Mit ca. 35.000 Studierenden ist die Johannes Gutenberg-Universität Mainz zusammen mit der Katholischen Hochschule Mainz, der Hochschule Mainz und den Hochschulen in Worms und Bingen das wissenschaftliche Zentrum Rheinhessens.

Nahezu jeder rheinhessische Ort verfügt heute über einen oder mehrere Fastnachtsvereine. Eine Vielzahl von Weinfesten fördert die Geselligkeit und die Präsentation rheinhessischer Weine. Die Volksfeste Mainzer Johannisnacht und Wormser Backfischfest locken jährlich hunderttausende von Besuchern an. Rheinhessen ist die dynamischste touristische Region in Rheinland-Pfalz. In den letzten 10 Jahren stieg die Anzahl der Gäste um 38,7% und die der Übernachtungen um 30,1%.

Wein und Tourismus sind regional aufgestellt, ebenso Handwerk, Industrie und Handel, die Kultur vernetzt sich im Zuge des Jubiläums zum 200-jährigen Bestehen. Mit einer Kooperation in einem professionellen Regionalmanagement, wie sie im Jubiläumsjahr gelebt wird, könnte Rheinhessen mit seinem großen Potenzial an Themen und Ideen überregional durchstarten.

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0.8.Die rhoihessisch Sprooch

Der Begriff Rheinhessen als Bezeichnung zunächst für eine Provinz des Großherzogtums Hessen und dann für eine Region des Landes Rheinland-Pfalz könnte suggerieren, dass das Gebiet im Städteviereck Mainz – Worms – Alzey – Bingen nicht nur historisch-politisch, sondern auch kulturell, mentalitätsgeschichtlich und sprachlich eine Einheit bildet.

Zumindest auf die Sprache trifft diese Annahme nicht zu. Es gibt nicht den rheinhessischen Dialekt, sondern eine Vielzahl von Dialekten. Sprachliche Unterschiede lassen sich für alle grammatischen Ebenen konstatieren. Gegensätze bei den Lauten bilden etwa drugge und drogge (‘trocken’), GlaadGloodGleedGlääd (‘Kleid’) sowie Heef und Heeb (‘Hefe’). Im Bereich der Formen stehen sich mit unterschiedlicher Verteilung im Raum z. B. geschwumm und geschwumme (‘geschwommen’) gegenüber.

Auch innerhalb der Wortbildung gibt es Differenzen. Der Handschuh etwa wird in einem Teil der Dialekte Hänsche bezeichnet, in einem anderen Hänsching. Schließlich ist auch der Wortschatz von Variation betroffen. Der Flügel eines Vogels z. B. wird je nach Gegend Fliil, Flitt oder Flitsch genannt. Die Wörter für weinen sind: flennegroinegreische.

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Die beiden Karten zeigen exemplarisch die Verteilung der Varianten für „weinen“ sowie „Flügel“ im rheinhessischen Dialektgebiet.

Dialektwörter für "weinen" in Rheinhessen:

Die drei Wörter sind bereits im Deutsch des Mittelalters nachweisbar. Die Verben greinen und flennen bedeuten ursprünglich ‘den Mund verziehen’, und zwar ganz allgemein, also lachend, weinend, wütend usw. Erst später hat sich in unserem Gebiet die spezielle Bedeutung ‘weinen’ herausgebildet. Bei dem mit greinen verwandten Wort grinsen hingegen hat sich der ursprüngliche Sinn in eine andere Richtung, nämlich ‘breit lächeln’ entwickelt. Das Verb flennen ist mit einem alten Substantiv verwandt, das für ‘Mund, Maul’ steht. Unser heutiges Flunsch (‘schmollend verzogener Mund’) gehört ebenfalls in diesen etymologischen Zusammenhang. Der Ausdruck kreischen ist vom Ursprung her lautmalend. Er bedeutet im mittelalterlichen Deutsch ‘schrill schreien’ (so auch noch heute in verschiedenen Dialekten). Über die semantische Zwischenstufe ‘laut, schrill weinen’ hat sich in Rheinhessen der Sinn ‘weinen’ entwickelt.

Dialektwörter für "Flügel" in Rheinhessen:

Das Wort Flügel wird in Rheinhessen überwiegend zu Fliil, das heißt: das g in der Wortmitte wird ausgestoßen, und ü wird, wie allgemein üblich, zu i. Seltener (zumeist um Mainz und Worms) sind die Formen Fliggel und Flichel vertreten. Flügel ist eine Instrumentalbildung zu dem Verb fliegen, also eigentlich als ‘Mittel zum Fliegen’ zu verstehen. Die Ausdrücke Flitt und Flitsch gehören etymologisch zusammen. Das veraltete hochdeutsche Wort Fittich gehört ebenfalls dazu. Es besteht wohl sprachliche Verwandtschaft mit dem Ausdruck Feder.