Mittelrhein

Gedanken zur Arbeitsmarktpolitik um 1880 und heute

Dass fehlende Arbeitsplätze oder ein Überangebot an Arbeitskraft nicht erst ein Problem unserer Zeit ist, belegt ein Artikel in dem Rhein- und Lahn- Anzeiger vom 17. Februar 1883. Unter dem Titel „ Die Nothwendigkeit der Gründung deutscher Kolonien“ schreibt das liberale Blatt aus Nastätten:

„Die Bevölkerung unseres deutschen Vaterlandes vermehrt sich in rapider Weise, viel rascher als seine Subsistenzmittel. Beträgt doch der jährliche Überschuß der Geburten über die Sterbefälle nicht weniger als 560.000. Wenn das sofort ginge, würden wir bis zum Jahre 1900 zu einer Masse von 80 Millionen anwachsen, die das Land bei Weitem nicht zu ernähren vermöchte. Die Auswanderung ist unter diesen Umständen eine wahre Wohlthat, die freilich dem Uebel nur zum kleinen Theile steuert. Schon heute leiden wir auf allen Gebieten des Erwerbslebens an einer Ueberproduktion von Arbeitskraft. - So sind z.B. jetzt in Preußen, wegen Ueberfüllung des Fachs, 800 königl. Baumeister ohne Anstellung. Die Ingenieure und Techniker sind in ebenso übler Lage. Vor dem juris prudenz wurde bereits von Regierungswegen gewarnt usw. - Das handarbeitende Proletariat ist nicht besser daran, und das riesige Anwachsen des Vagabundenthums ist eben auf diesen Mißstand  zurückzuführen. – Die Ueberproduktion an Arbeitskräften ist aber nicht nur ein Uebel fur die Arbeits- und Erwerbslosen selbst, sondern auch für den Staat und die Gesellschaft, indem jene in so misslicher Lage befindlichen Individuen nur zu leicht dem Sozialismus, Kommunismus und sonstigen umstürzlerischen Richtungen in die Arme fallen; und sie ist endlich auch ein Uebel für die Beschäftigten und in Stellung befindlichen, weil das Ueberangebot von Arbeitskräften wohl die Forderungen an die Arbeitsleistung erhöht, das Entgelt und den Lohn aber herabdrückt, und auch insofern den wirthschaftlichen Niedergang: die Massenverarmung und die Unzufriedenheit befördert. – Es sind nur zwei Mittel denkbar, um die Zunahme der Kalamität Einhalt zu thun: 1) Das unnatürliche Mittel der Einschränkung der Geburten, wie es in Frankreich und von den Sachsen in Siebenbürgen einfach praktizirt (Zweikinderwirthschaft) und dessen Anwendung durch die von den Malthusianern vorgeschlagene Erschwerung der Verheirathung erleichtert wird; 2) die Beförderung der Auswanderung von Staatswegen. – Zu ersterer hat man in Deutschland mit Recht gar keine Neigung. In Bezug auf letzteres aber kommt der Umstand in Betracht, dass je größer die Masse der Auswandernden, ein desto größeres Quantum von Kapital und Arbeitskraft dem Vaterlande verloren geht und daß der nach Nordamerika gehende Hauptstrom jeden ihm angehörenden Deutschen zu einem Konkurrenten seines Mutterlandes macht, der letzteres in demselben Grade schädigt, wie er der neuen Heimath nützt. Diese Schattenseite der Auswanderung, solcher Kapital- und Kraftvergeudung kann nur dadurch vorgebeugt werden, daß man deutsche Kolonien gründet und dass man unsere Auswanderung nach diesen hinleitet, welche ein stetig wachsendes Absatzgebiet für unsere Produkte bleiben würde.“

Streicht man die heute unmoralische und unsinnige Forderung nach deutschen Kolonien, so ist der Bericht eine durchaus gute Basis für eine (kritische) Betrachtung unserer modernen  Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Der Unterschied zur heutigen Arbeitsmarktpolitik ist gravierend und für uns sehr ungewöhnlich. <u>Damals gelten zu viele Arbeitskräfte als Problem und nicht zu wenig Arbeitsplätze. </u>Aber was ist richtig?

Deutschland hat heute – zwar etwas später als vorausgesagt – die rund 80 Millionen Einwohner und kann sie mit hohem Standard auch (noch) "ernähren“. Es hat aber nicht genügend Arbeitsplätze und optimistisch gesehen, werden langfristig mindestens 4,5 Millionen Menschen, die arbeiten müssen oder möchten, keine bezahlte Arbeit mehr finden. Gibt es zu viele arbeitsfähige Menschen in Deutschland? Sind wir überbevölkert?

Laut der 1798 veröffentlichten Bevölkerungstheorie des englischen Theologen und Nationalökonomen Robert Malthus, der die Ursachen der sozialen Not seiner Zeit untersuchte,  müssten beide Fragen bejaht  werden. Demnach hätte Deutschland die Obergrenze für das Bevölkerungs-wachstum schon länger erreicht. Eigentlich schon vor rund 40 Jahren mit Ende des sogenannten Wirtschaftswunders  bzw. mit dem daraus resultierenden Verlust der Vollbeschäftigung. Eine Vollbeschäftigung dürfte wegen des globalen Wettbewerbs nie wieder möglich sein. Die solide Finanzierung des sozialen Sicherungsnetzes in Deutschland ist mittlerweile aber nur noch bei Vollbeschäftigung und genügend Arbeitskräften möglich. Was ist zu tun?

Die Auswanderung fördern? Die Einwanderung stoppen? Mehr Kinder zeugen? Weniger Kinder ? Längere Lebensarbeitszeit? Kürzere Lebensarbeitszeit? …?

Der Geschichtskreis der Initiative 55 plus-minus konnte bei seinen Treffen im November 2005 leider keine gezielte Empfehlung für  Politiker erarbeiten; aber eine allgemeine: Wir müssen in Zukunft ein stärker verzichtbereites Leben führen!

Klaus-Dieter Otto, Nastätten