Sprendlingen in Rheinhessen

Der Kirchturm als Beobachtungspunkt - das Ende des 2. Weltkriegs in Sprendlingen - von Wolfgang Genther

Als ehemaliger Teilnehmer des 1. Weltkriegs musste Karl Philipp Schäfer 1940 nochmals als 44-jähriger an der Front in Frankreich kämpfen. 1940 wurde er jedoch aufgrund seines Alters aus der Armee entlassen, bekam aber 1944 nochmals einen Gestellungsbefehl. Er sollte sich in Mainz melden, fuhr auch hin, aber in der Nacht hatte ein Fliegerangriff auf Mainz die dortigen Büros und Papiere vernichtet. Er wurde wieder nach Hause geschickt!
Im Dezember 1944 wurde er zum Volkssturm einberufen. Diese Truppe war zur Heimatverteidigung zusammengestellt worden, und alle nicht eingezogenen Männer mussten hier mitmachen. Mit den übrigen beorderten. Männern musste er Aufstellung auf dem Marktplatz nehmen. Der damalige Bürgermeister Machemer teilte in zwei Gruppen ein und übernahm die erste Gruppe. Der zweiten Gruppe wurde Schäfer vorangestellt.
Gleich Anfang Januar wurden aus den zwei ersten Gruppen neue Gruppen und Züge gebildet und die jeweils dazugehörenden Führer bestimmt. In der alten Turnhalle, neben dem jetzigen Sportplatz und der Sankt Johanner Straße gelegen, wurden diese Führer ausgebildet. Zu dieser Zeit bauten die im Ort einquartierten Pioniere einige Panzersperren auf. Die Sperre in der Schmittstraße war abweichend allen anderen als Falle ausgebaut worden. An der Gau-Bickelheimer Straße wurden die stärksten Baumstämme verbaut. Die Sperre in der Gertrudenstraße war von leichterer Bauart, ebenso die in der Sankt Johanner Straße. Auch in der Nähe des Turmes der evangelischen Kirche wurde eine solche Sperre gebaut. Zu deren Verteidigung waren im Weinkeller des benachbarten Hauses Demmer Panzerfäuste gelagert worden. Sämtliche Baumstämme zum Bau der Sperren mussten die Bauern im Alzeyer Wald holen.
Nachdem die feindlichen Linien nicht mehr fern waren, zogen die Pioniere ab und eine SS-Kompanie rückte, ein. Im Januar und Februar wurde das nahe gelegene Bingen von feindlichen Fliegern mit Bomben heimgesucht. Durch Notruf von dort wurden 20 Mann Volkssturm von hier zu Aufräumungsarbeiten beordert. Die Männer fuhren morgens mit dem Zug nach Bingen und abends wieder zurück.
Im ,,Haus des Friedens" in der Gau-Bickelheimer Straße, Ecke Mühlgasse, fand am 11. März eine Sitzung statt, wobei die Männer für den Ernstfall eingeteilt wurden. Alarm gab es am 15. März während einer Sitzung im alten Rathaus. Viele Leute kamen gelaufen und wollten wissen, was los sei. Man beruhigte sie und schickte sie nach Hause. Am 16. März gegen 11 Uhr kamen vereinzelt verirrte Soldaten in den Rathauskeller, um sich einen guten Rat zu holen.
Die Stimmung wurde immer unheimlicher. Es war fast nicht mehr zu ertragen. Karl Philipp Schäfer hielt es als ehemaliger Artillerist nicht mehr aus, und er stieg als Beobachter auf den Turm der evangelischen Kirche. Was er dort sah, ließ ihm den Atem stocken! Aus der Richtung des "Guldenbachtales, gegen Langenlonsheim zu, wälzte sich eine mächtige Staubwolke, wie er sie noch nie gesehen hatte, vorwärts zur Nahe! Ein noch nie gehörtes Motorensingen erfüllte die Luft und ließ sie erzittern.
Draußen in der Bahnhofstraße, in der Nähe des Bahnhofes, rangierte ein Güterzug und gab einem Flieger ein gutes Ziel ab. Dabei wurde das Haus Hemmersbach das Opfer einer Bombe. Der Obersturmführer gab seinen Männern Anweisung zur Verteidigung des Ortes. Auf den Einwand Schäfers, dass doch die Bevölkerung dadurch mehr gefährdet sei, als wenn man sich kampflos ergeben würde, wurde ihm geantwortet, dass alle Orte zusammen die Summe des Widerstandes ergäben!
Nicht lange nach diesem Gespräch fielen auch schon die ersten Schüsse im Ort. Alle Männer gingen nach Hause. Die vom Volkssturm Bestimmten räumten schnell noch Sperren hinweg. Schäfer steigt wieder auf den Kirchturm, um ein weißes Tuch hinauszuhängen. Danach ging auch er in sein Haus. In der ruhelosen Nacht ging er auf der Rich, einem ans Ortsende anstoßenden, höhergelegenen Gemarkungsteil hin und her. Dabei beobachtete er, dass es in vier umliegenden Orten brannte! Was wird aus Sprendlingen werden?
Am nächsten Morgen, es war ein Sonntag, gingen zwei beherzte Einwohner mit weißen Fahnen zu den amerikanischen Panzern, welche an der Karlsmühle Stellung genommen hatten. Diesen Gang konnten sie ruhig unternehmen, weil alle Sprendlinger Männer einig waren und sich nicht von der SS befehligen ließen. Noch kurz zuvor waren die Volkssturmmänner belehrt worden, dass die Drahtwingerte ein gutes Hindernis für die Panzer seien. Schon am Nachmittag ihrer Ankunft walzten die Ungetüme ungehindert mitten durch die Weinberge zu den ihnen befohlenen Stellungen. Zwischen Gau-Bickelheim und Sprendlingen über den Wißberg direkt auf Nierstein zu zog der Panzertreck weiter, von Fliegern flankiert, um dort über den Rhein zu setzen.
Hätte Sprendlingen nur den geringsten Widerstand geleistet, dann wäre es überrollt worden. Vernichtete Ortsteile, verbrannte Hauser und ungezählte Opfer wären übriggeblieben. So aber konnte das Schlimmste durch Weitblick einer Handvoll Männer, die vom' Kirchturm die weißen Fahnen wehen ließen verhindert werden.

Nachweise

Verfasser: Wolfgang Genther

Entnommen aus: Heimat am Mittelrhein 3 (1982)

Quelle: Diese Aufzeichnungen und Erzählungen wurden nach den Hinterlassenschaften des 1979 verstorbenen 85-jährigen Bäckermeisters Karl Philipp Schäfer zusammengestellt.  

Aktualisiert am: 21.11.2014