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Zank im Dorf: Die Ingelheimer Haderbücher als Quelle des späten Mittelalters

von Leonie Kallmann (geb. Münzer)

Der folgende Artikel basiert auf einem Vortrag der Autorin, den sie nach Abschluss ihrer Magisterarbeit mit dem Thema "Die Ingelheimer Haderbücher – Eine quellenkritische Modellanalyse am Beispiel des Ober-Ingelheimer Haderbuches von 1476-1484" (2001) in Ingelheim gehalten hat.

Überall, wo Menschen miteinander auskommen müssen, wird gestritten. Die Tatsache, dass sie sich auch in früheren Jahrhunderten gezankt haben, ist für den Historiker von heute von unschätzbarem Wert. Gerade Konflikte und Auseinandersetzungen können das Verhalten im Alltag, Regeln und Sichtweisen der Menschen aus vergangenen Zeiten besonders lebendig machen.

Die Ingelheimer Haderbücher vermitteln uns heute einen Eindruck vom Zank im späten Mittelalter. Der Ausdruck hadern ist mittelalterlich. Er bedeutet "streiten" oder "zanken" und steht vor allem für die Auseinandersetzung im Wort, beschreibt aber auch das Streiten vor Gericht oder das Führen eines Prozesses. Man könnte die Ingelheimer Haderbücher also als "Streitbücher" bezeichnen. Es sind mittelalterliche Gerichtsprotokollbücher, in denen Rechtsstreitigkeiten festgehalten wurden.

Der folgende Artikel soll einen kleinen Einblick in den Zank in Ingelheim im späten Mittelalter geben. Dazu wird zunächst das mittelalterliche Ingelheimer Gericht vorgestellt, das kein einfaches kleines Dorfgericht war, sondern über die Grenzen des Ingelheimer Gebietes hinaus eine große Bedeutung hatte. Dann werden die Gerichtsprotokollbücher im Hinblick auf ihren Aufbau, ihren Inhalt und ihre Funktion im Mittelalter hin beschrieben. Ingelheim verfügt über eine außergewöhnlich gut erhaltene Überlieferung dieser Bücher, die im Durchschnitt schon 600 Jahre alt sind. Allein die Geschichte, wie es dazu kommt, dass diese Bücher noch heute in Ingelheim liegen, ist spannend. Am Ende des Artikels wird schließlich ein Streitfall aus dem Ober-Ingelheimer Haderbuch von 1476-1484 vorgestellt.

Ingelheim war im späten Mittelalter nicht das Gebiet, das heute als Ingelheim bekannt ist. Die Ingelheimer selbst sprachen zu dieser Zeit stolz von ihrem "Ingelheimer Reich". Zu der Zeit, als die Haderbücher entstanden sind, also grob vom späten 14. bis ins 16. Jahrhundert hinein, bestand dieses Gebiet aus acht Ortschaften und ihrer Umgebung: Ober- und Nieder-Ingelheim, Groß-Winternheim, Frei-Weinheim, Bubenheim, Elsheim, Wackernheim und Sauerschwabenheim. Diese Orte sind heute noch bekannt. Die Wurzeln Ingelheims reichen weit zurück. Schon zu römischer Zeit waren Ober- und Nieder-Ingelheim besiedelt. Im frühen Mittelalter wurde das Gebiet zu fränkischem, später zu karolingischem Königsgut. Ingelheim wurde dann mit Karl dem Großen ein Schauplatz wichtiger politischer Ereignisse. Die Kaiserpfalz von Ingelheim ist bekannt. Bis ins 13. Jahrhundert war Ingelheim ein Zentrum des Reiches und ein beliebter Ort für königliche Aufenthalte. Die Bedeutung Ingelheims als Kaiserpfalz nahm jedoch mit den Jahrhunderten ab. Im Spätmittelalter – also in der Zeit, aus der die Haderbücher stammen – wurde die ehemalige Kaiserpfalz sogar zur Besiedlung freigegeben. Damit war das Ende der Anlage eingeläutet.

Der Reichsbesitz, der zur Kaiserpfalz gehörte, ist durch Schenkungen einzelner Herrscher im Mittelalter mehr und mehr verkleinert worden bis schließlich die acht genannten Ortschaften übrig geblieben sind. Das Ingelheimer Reich selbst oder der Ingelheimer Grund, wie das Gebiet auch bezeichnet wurde, blieb jedoch nicht unberührt. Das Gebiet wurde immer wieder von Herrschern, die sich in Geldnot befanden, verpfändet und ausgelöst, bis es dann im Jahr 1375 an die Pfalzgrafen bei Rhein endgültig verpfändet wurde.

Das Ingelheimer Gebiet war im Spätmittelalter ein geschlossener Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzbezirk. Die Geschlossenheit basierte vor allem auf dem Gerichtswesen des Ingelheimer Grundes. Trotz der politischen Veränderungen waren die Einwohner weitgehend frei und wurden auch nach den Verpfändungen als „Reichsleute“ bezeichnet. Auch die Bezeichnung des Gebietes als "Ingelheimer Reich" drückte für die Einwohner die besondere Nähe zwischen ihnen und dem König aus.

Das Gericht des Ingelheimer Grundes wurde ebenfalls als "Reichsgericht" bezeichnet. Denn trotz der pfälzischen Pfandschaft unterstand es nach wie vor dem König.

Das Ingelheimer Gericht war ein sehr bedeutendes Gericht, denn Ingelheim war der Sitz eines Oberhofes. Ein spätmittelalterlichen Oberhof war ein Gericht, das eine besondere Autorität im Reich besaß und somit über die Grenzen eines Dorf- oder Stadtgerichtes hinaus Recht sprechen konnte. Es ist jedoch nicht mit einem heutigen Obergerichtshof vergleichbar, an den man sich wendet, wenn man auf einer niedrigeren Stufe kein Recht bekommt. Ein Oberhof war vielmehr eine Rechtsbelehrungs- oder Rechtsauskunftstelle, an die sich fremde Gerichte, aber auch Einzelpersonen mit Fragen wenden konnten. Bis ins 16. Jahrhundert hinein gab es überall im deutschen Reich Oberhöfe. Beinahe jedes Dorfgericht hatte seinen Oberhof, an das es sich im Zweifelsfall richten konnte, sollte und musste – je nach dem wie stark die Bindung zu dem zugehörigen Oberhof war.

Der Ingelheimer Oberhof war einer der bedeutendsten überterritorialen Oberhöfe des mittel- und niederrheinischen Raumes. Im 15. Jahrhundert, als der Oberhof in Ingelheim auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung stand, gingen hier zwischen sechzig und siebzig Gerichte zu Haupte, d.h. sie baten um Rechtsauskunft.

Es ist aber nicht bekannt, dass die Ingelheimer Schöffen im akademischen Sinne "rechtsgelehrt" waren. Es waren keine studierten Juristen. Die Fähigkeit, ein Urteil zu fällen, basierte vielmehr auf einem natürlichen Rechtsgefühl und der Kenntnis des sogenannten "Gewohnheitsrechtes", also dessen, was üblich und richtig war.

Aber das Ingelheimer Reichsgericht war nicht nur als Oberhof tätig. Es sprach in erster Linie Recht für die drei Hauptorte des Ingelheimer Grundes: Ober- und Nieder- Ingelheim sowie Groß-Winternheim. Hier hatte es die Funktion eines normales Dorfgerichts. Außerdem waren die Ingelheimer Schöffen in bestimmten Angelegenheiten für das gesamte Gebiet des Ingelheimer Reiches zuständig.

Das Gerichtswesen war also ein vielschichtiges und deshalb nicht leicht durchschaubares Gebilde. Es handelte sich in Ingelheim um ein Gericht, das verschiedene Funktionen innehatte: erstens für die drei genannten Orte, zweitens für das Ingelheimer Reich und drittens für ein Gebiet, das über die Grenzen des Ingelheimer Reiches hinausging.

Dieses eine Gericht bestand aus vierzehn Schöffen, die aus den Orten Ober- und Nieder-Ingelheim sowie Groß-Winternheim kamen und abwechselnd in den drei Orten Gericht hielten. Diese drei Orte sind deshalb als eine Einheit zu sehen. In ihnen tagten keine einzelnen normalen Dorfgerichte. Es gab nur ein großes Gericht. Und die drei Orte hatten natürlich auch keinen Oberhof, an den sie sich wenden konnten. Sie waren der Oberhof selber. Wer also sollte besser Recht sprechen als die Ingelheimer Schöffen?

Ort und Zeit der Gerichtssitzungen waren genau festgelegt. Das Ingelheimer Reichsgericht tagte montags, mittwochs und freitags in Nieder-Ingelheim bei der Linde vor der Kirche, ebenfalls mittwochs in Groß-Winternheim vor dem Kirchhof der Pfarrkirche und dienstags, donnerstags und samstags in Ober-Ingelheim in einem eigenen Gerichtshaus. Die Sitzungen begannen im Sommer um sieben Uhr und im Winter um neun Uhr.

Das Gericht konnte mittwochs in Nieder-Ingelheim und Groß-Winternheim um dieselbe Zeit tagen, da die Schöffen grundsätzlich keine Anwesenheitspflicht hatten. Nur, um ein Urteil fällen zu können, mussten mehr als die Hälfte des vollständig besetzten Gerichts anwesend sein. Es mussten also acht Mitglieder des Gerichtes auf der Bank sitzen. Waren zu wenig Schöffen anwesend, wurde der Fall vertagt und das Urteil wurde an einem anderen Tag verkündet.

Für jeden der drei Orte, in dem die Schöffen Gericht hielten, gab es einen sogenannten "Schultheißen", der den Vorsitz der Verhandlungen führte. Die Urteile fällten die Schöffen jedoch gemeinsam. Ein Schultheißen war also in dem Sinne kein Richter, der bei einem Urteil den Ausschlag gab.

Die Fälle des Oberhofes wurden meist in Ober-Ingelheim verhandelt. Damit war der Schultheiß von Ober-Ingelheim, der dem Oberhof also regelmäßig vorsaß, der Oberhofschultheiß. Die besondere Stellung Ober-Ingelheims kann man auch daran ablesen, dass es dort ein eigenes Gerichtshaus gab, während die anderen Verhandlungen unter freiem Himmel abgehalten wurden.

Diese Verhandlungen wurden in Anwesenheit eines großen Publikums abgehalten. Die Gerichtssitzungen waren öffentlich und die Personen trugen ihre Streitigkeiten mündlich vor. Der Gerichtsschreiber schrieb die vorgetragenen Konfliktfälle sofort ins Gerichtsbuch. Nicht immer waren die Auseinandersetzungen besonders spannend, oft ging es um alltägliche kleine Meinungsverschiedenheiten oder auch nur um Ermahnungen. Die Gerichtsbücher sind in der Regel sehr ordentlich geführt worden, aber manchmal entdeckt man in den Haderbüchern auch kleine Zeichnungen des Gerichtsschreibers. An diesem Tag scheint er sich gelangweilt zu haben.

In Urkunden bezeichnen sich die Schöffen des Ingelheimer Reichsgerichtes als "wir Schultheißen und Schöffen von Ingelheim". Diese Bezeichnung zeigt die Vielschichtigkeit, mit der wir es bei diesem Gericht zu tun haben. Das Ingelheimer Gericht hatte mehrere Schultheißen und sie nannten sich "von Ingelheim", obwohl sich die Schöffen aus drei Orten zusammenfanden. Die Formel drückt also zugleich aus, dass sich die Schöffen als eine Einheit verstanden.

Aber auch das Siegel des Ingelheimer Gerichtes spiegelt die Einheit des Ingelheimer Reichsgerichtes wider. Die Ingelheimer Schöffen führten ein gemeinschaftliches Gerichtssiegel. Es ist zum ersten Mal an einer Urkunde aus dem Jahr 1393 belegt. In dieser Zeit begann das Ingelheimer Gericht aufzublühen, was man übrigens auch an den Gerichtsbüchern ablesen kann, die in den letzten zwanzig Jahren des 14. Jahrhunderts eine immer stärker geordnete Schriftlichkeit zeigen. Immer mehr Dorfgerichte suchten in Ingelheim Rechtsauskunft. So ist es auch nicht verwunderlich, dass spätestens in dieser Zeit das Ingelheimer Gericht seine Tätigkeit mit dem Gerichtssiegel als Erkennungszeichen festigen wollte.

Das Siegel ist rund und hat einen Durchmesser von etwa sechs Zentimetern. Es zeigt einen nach rechts blickenden einköpfigen Reichsadler, der sich in einem inneren, etwa fünf Zentimeter breiten Kreis befindet. Auf seiner Brust liegt eine aus vier größeren Lilien und vier kleineren Zinken gebildete Krone frei auf. Die vom Rand und dem innen verlaufenden Kreis umschlossene Legende lautet: Sigillum scultetorum et scabinorum imperialis iudicii in Ingelnheim – "Siegel der Schultheißen und Schöffen des Reichsgerichts in Ingelheim". Vermutlich stammt dieses Siegel noch aus der Zeit vor der Verpfändung an die Pfalzgrafen. Auch nach 1375 verwendete das Ingelheimer Gericht weiterhin dieses Siegel und drückte damit seine Bindung mit Kaiser und Reich aus. Die Schöffen fühlten sich nicht in die pfälzische Pfandschaft miteingebunden und bezeichneten sich nach wie vor als des heiligen richs gericht.

Ingelheim verfügt mit den Gerichtsprotokollbüchern über einen außerordentlichen Bestand mittelalterlicher Gerichtsakten. Die Bücher wurden lange Zeit in den steinernen und damit vor Brand geschützten Gewölben der Burgkirche aufbewahrt. Nach der Reformation hat man sie in derselben Kirche in einen Pergamentschrank aus dem 14. Jahrhundert eingeschlossen. Heute liegen die mittelalterlichen Akten im Tresor des Ingelheimer Rathauses.

Für Ingelheim muss man grundsätzlich zwei Arten von überlieferten Gerichtsprotokollbüchern unterscheiden:
Bekannt und oft behandelt sind die Gerichtsakten des Ingelheimer Oberhofes, die heute durch die Rechtshistoriker Hugo Loersch und Adalbert Erler zum Großteil ediert vorliegen.

Bei der zweiten Art der Ingelheimer Gerichtsbücher handelt es sich um die sogenannten"Haderbücher", die bisher in der Forschung nur zur Ergänzung herangezogen wurden, obwohl sie in weit größerer Zahl vorliegen als die Oberhofbücher. Es sind Ortsgerichtsbücher des Ingelheimer Grundes. Die Ingelheimer Haderbücher bilden, teilweise vollständig, teilweise in Fragmenten eine nahezu geschlossene Serie von siebenundzwanzig Gerichtsbüchern für den Zeitraum von 1387 bis 1535. Sie sind bis heute ungedruckt und weitgehend unbearbeitet geblieben. Die Ingelheimer Schöffen waren sich über ihre unterschiedlichen Aufgabenbereiche als Ortsgericht und als Oberhof durchaus bewusst und haben deshalb zwei verschiedene Sorten von Gerichtsbüchern geführt, um die Funktionen auseinander zu halten.

Im Allgemeinen bildet sich im Mittelalter die genaue Beurkundung von Prozessen, so wie es hier in Ingelheim der Fall war, erst sehr langsam und spät heraus. Gerichtsbücher sind außerdem heute fast nur für Städte überliefert. Ingelheim ist dagegen ein sehr früher Fall eines territorialen Gerichts. Die Haderbücher von Ingelheim sind die ältesten bekannten Bücher dieser Art.

Der Ingelheimer Notar Conrad Emmerich Susenbeth war der erste, der von der Existenz der spätmittelalterlichen Gerichtsbücher berichtet hat. In der Mitte des 17. Jahrhunderts (1644) führt er aus, dass sich sodann frembte urtheilbücher, weil dies adelig rittergericht von umligenden stätt und flecken vor ein oberhof erkent und respectiert worden im Besitz des Gerichts befänden.

Der erste Rechtshistoriker, der sich für die Bearbeitung der Ingelheimer Oberhofakten interessierte, war der Mainzer Professor Franz Joseph Bodmann, der im Jahr 1818 einige der Ingelheimer Protokolle in den "Rheingauischen Altertümern" veröffentlichte. Bodmann widmete sich aber vor allem der Erforschung des Rheingaus. Die Überlieferung für den Oberhof in Eltville war jedoch schlecht, und so bemächtigte sich Bodmann kurzerhand einiger Protokolle aus Ingelheim und fälschte sie auf Eltville um. Um den wahren Ursprung seiner Erkenntnisse für Eltville zu tarnen, verkaufte er die Oberhofakten vermutlich ins Ausland, was erklären würde, warum sich der letzte Oberhofband, der heute noch wissentlich existiert, in London befindet. Erst 1903 entdeckte der Rechtshistoriker Herbert Meyer, dass es sich bei Bodmanns Aufzeichnungen um Fälschungen handelte.

Bei der Frage nach der Entstehung des Aachener Oberhofes im Zusammenhang mit der dortigen Kaiserpfalz suchte der Rechtshistoriker Hugo Loersch Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund der schlechten Quellenlage für Aachen nach historischen Parallelen. Auch Ingelheim war Sitz einer Kaiserpfalz und im späten Mittelalter Sitz eines Oberhofes gewesen. Sein Kollege Eduard Böcking zeigte ihm 1869 eine Handschrift, die sich in seinem Besitz befand, und Loersch identifizierte sie als Aufzeichnung des Ingelheimer Oberhofes aus dem 15. Jahrhundert. Im Frühjahr 1870 begab er sich dann persönlich nach Ingelheim und entdeckte auf dem Speicher des Ober-Ingelheimer Rathauses die mittelalterlichen Gerichtsbücher. Damals gab es Aufzeichnungen des Oberhofes noch in größerem Umfang. Fünfzehn Jahre lang beschäftigte sich Loersch mit der Auswertung seines Fundes und verfasste das Werk "Der Ingelheimer Oberhof". Er hat aber nur etwa ein Drittel der von ihm gesichteten Protokolle in seinem Buch ediert. Außerdem konnte er nicht alle Ingelheimer Rechtsurkunden bearbeiten. Das betrifft die Quellen zum Oberhof, noch mehr aber die Haderbücher. Hugo Loersch hat in seinem Buch lediglich eine kurze Beschreibung der von ihm gefundenen Haderbücher gegeben, aber auf eine Bearbeitung verzichtet. Seiner eigenen Begründung zufolge enthielten die Ortsgerichtsbücher keine Oberhofentscheidungen und fielen deshalb aus dem Rahmen seiner Arbeit heraus.

Die äußere Geschichte der Ingelheimer Gerichtsakten in den letzten hundert Jahren ist eine Verlustgeschichte. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts lagerten sie in der Burgkirche, so dass Loersch seinen Fund bereits im Jahr 1870 als „eine gewaltige Menge von teils vollständigen, teils verstümmelten Gerichtsbüchern aller Art“ beschrieb. Er wollte sofort die Überführung der gesamten Bestände ins Hessische Staatsarchiv Darmstadt durchsetzen, was ihm aber erst nach Überwindung lokaler Widerstände im Jahr 1879 gelang. Die meisten der Ingelheimer Haderbücher waren zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits verschwunden. Vermutlich hatten einige Lokalpatrioten die Bände versteckt, denn 1905 entdeckte sie der Ingelheimer Heimatforscher Andreas Saalwächter erneut auf dem Speicher des Rathauses in Ober-Ingelheim. Zu einer Überführung dieser Handschriften nach Darmstadt kam es diesmal glücklicherweise nicht. Die gesamten Bestände, die in Darmstadt lagerten, sind nämlich dem Luftangriff vom 11. September 1944 zum Opfer gefallen.

Aber auch die in Ingelheim liegenden Handschriften, fast ausschließlich Haderbücher, haben während des zweiten Weltkrieges starke Einbußen erlitten. Vorsorglich hatte man das Ingelheimer Archiv in die unterirdischen Gewölbe der Burg Ortenberg in Oberhessen ausgelagert. Als das Archiv 1946 zurückgeführt wurde, zeigte sich, dass sämtliche Kisten aufgebrochen und die meisten Haderbücher verschwunden oder durch die Feuchtigkeit stark beschädigt waren.

Trotz dieser Verluste handelt es sich in Ingelheim aber ohne Zweifel noch immer um eine einzigartige Überlieferung.

Hugo Loersch traf für seine Edition der Oberhofakten noch eine Auswahl aus drei Gerichtsbüchern des Oberhofes. Diese drei Protokollbücher sind heute verloren. Der erste und der dritte Band sind in Darmstadt 1944 verbrannt und der zweite Band, den Loersch aus dem Nachlass Eduard Böckings persönlich erworben hatte, ist seit seinem Tod unauffindbar.

Loersch wusste durch die Notiz Susenbeths aus dem 17. Jahrhundert, dass es weitere Oberhofakten gegeben hatte. Außerdem fielen ihm einige Urteile Bodmanns ins Auge, die dieser aus „dem alten Schöpfenbuch des Oberhofes zu Ingelheim“ entnommen hatte. Als Loersch aber schließlich einen Hinweis auf ein "Fremde Urtellbuch von Mainz" fand, das im Britischen Museum in London liegen sollte, vermutete er, dass es sich dabei trotz des Hinweises auf Mainz um ein Protokollbuch Ingelheims handeln könnte. Er schickte sofort einen Assistenten nach London, um dies überprüfen zu lassen.

Doch der hatte die Handschrift offensichtlich nur überflogen, denn erst zwei Jahrzehnte später, um die Jahrhundertwende, gelang es Herbert Meyer, sie als Oberhofbuch Ingelheims zu identifizieren. Es ist das einzige Oberhofbuch, das heute noch existiert und der Rechtshistoriker Adalbert Erler hat es auf der Grundlage von Mikrofilmen im Laufe von elf Jahren in vier Bänden ediert. Ein nicht edierter, gebundener Band mit den Bildern der Mikrofilme befindet sich heute mit den anderen Quellen im Tresor des Ingelheimer Rathauses.

In einem weitaus größeren Umfang waren von jeher die Protokolle der Orte im Ingelheimer Grund überliefert: die Haderbücher. Loersch fertigte 1870 eine Übersicht der gefundenen Haderbücher an und zählte 33 Bände. Als die Archivalien im Jahr 1879 ins Hessische Staatsarchiv nach Darmstadt überführt werden sollten, fanden sich nur noch acht Haderbücher und einige Fragmente. Diese sind heute verbrannt.

Wie ich bereits erwähnt habe, sind auch die in Ingelheim verbliebenen Haderbücher nicht vom Krieg verschont geblieben. Das ist deshalb ein großer Verlust, weil gerade die Handschriften, die in Ortenberg verschimmelt sind oder gestohlen wurden, im Gegensatz zu den Oberhofquellen nicht ausgewertet oder gar ediert worden waren. Vier von den Büchern, die nach dem Zweiten Weltkrieg verloren gegangen sind, tauchten in den USA wieder auf und konnten im Jahr 1993 nach Ingelheim zurückgebracht werden.

Soweit die Überlieferungsgeschichte. Aber warum haben sich die Rechtshistoriker vor allem den Oberhofakten und nicht den Haderbüchern zugewandt? Das hat einen einfachen Grund. Den Ingelheimer Gerichtsprotokollen liegt kein verbindlicher Text von Rechtssätzen zugrunde. Es gibt heute keine Quelle außer den Gerichtsprotokollen, die uns Auskunft über die Rechtsaufassung der Ingelheimer Schöffen gibt. Eine Annäherung an die Rechtspraxis im spätmittelalterlichen Ingelheimer Reich ist also nur über eine Auswertung der Urteile und Verhöre in den Gerichtsbüchern zu gewinnen. In den Oberhofbüchern findet man vor allem Urteile und auch häufig eine Rechtsbegründung dazu. Für den Rechtshistoriker sind die Gerichtsbücher des Oberhofes also eine dankbare Quelle, um das Recht, das das Ingelheimer Gericht gesprochen hat, aus den Protokollen abzuleiten.

In meiner Magisterarbeit (2001) habe ich mich aber den Ortsgerichtsbüchern zugewandt. Ich wollte wissen, was in den Haderbüchern steht, warum sie von der Forschung kaum genutzt worden sind. Ich konnte aus zeitlichen Gründen natürlich nicht alle Haderbücher bearbeiten. Deshalb hatte ich mir eins der Gerichtsbücher ausgewählt, das ich exemplarisch untersucht habe.

Ein Teil der Haderbücher hat starke Moderschäden. Um ein Gerichtsbuch aber in seiner Vollständigkeit bearbeiten zu können, hatte ich einen besonders gut erhaltenen Band ausgewählt.

Außerdem verfügen die Haderbücher des späten 15. und 16. Jahrhunderts über längere Protokolleinträge. Während in den früheren Büchern hauptsächlich einzeilige Einträge zu finden sind, erstrecken sie sich in den Büchern nach 1450 häufiger über eine halbe Seite und ziehen sich manchmal bis zu drei Seiten hin. Da mit dem Umfang eines einzelnen Protokolls auch die Aussagekraft steigt, habe ich also ein späteres Haderbuch ausgewählt. Es handelt sich um das Ober-Ingelheimer Haderbuch von 1476-1484.

Der Name "Haderbuch" stammt aus dem Mittelalter. Die Bezeichnung findet sich auch auf dem Einband dieses Gerichtsbuches. Es ist aber schwer zu lesen, weil sich das Pergament des Einbandes im Laufe der Jahrhunderte dunkel verfärbt hat. Im Vergleich mit den anderen Haderbüchern kann man aber annehmen, dass die Aufschrift auf dem Einband Haderbuch zu [Ingelnheim] de anno 76 byß uff 84 lautet. Das Haderbuch ist etwa 20x30 cm groß und umfasst 240 Blatt, das sind 480 Seiten. Es liegt damit genau im Durchschnitt, denn die meisten Haderbücher haben zwischen 200 und 300 Blatt. Die Blätter des Haderbuches sind kräftig und von der Farbe her elfenbeinweiß. Sie wurden mit Tinte beschrieben, wobei die bräunliche Grundfarbe mal heller, mal dunkler erscheint. Das Gerichtsbuch ist in einen sogenannten Koperteinband eingebunden. Es handelt sich hierbei um eine mittelalterliche Einbandform, bei dem die einzelnen Papierlagen des Buchblocks in einen weichen und damit beweglichen Pergamenteinband- oder Ledereinband geheftet werden. Sie sehen sehr gut die Heftung, die mit Langstich auf dem Buchrücken vorgenommen worden ist. Andere Bücher, die auf diese Weise gebunden wurden, sind häufig verziert worden. Bei den Ingelheimer Gerichtsbüchern ist aber eine dekorative Absicht nicht zu erkennen.

Ein Gerichtsbuch war ein Gebrauchsgegenstand. In den Haderbüchern wurden alle Geschehnisse am Ingelheimer Gericht festgehalten. Die Protokolle wurden chronologisch, nach Heiligentagen datiert, in das Buch eingetragen. Jede Gerichtsverhandlung ist mit Datum festgehalten worden. Die Jahresangabe wird nur bei Jahresbeginn hinzugefügt; das Jahr begann jedoch damals in Ingelheim an Weihnachten und nicht am 1. Januar. Normalerweise beschränkt sich der Gerichtsschreiber auf die Angaben des Wochentags und des Datums. Das Datum markiert den neuen Gerichtstag und steht wie eine Überschrift zentriert über den Einträgen einer Gerichtsverhandlung.

Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Gerichtsbücher eine zufällig überlieferte Quelle sind, die ihren Zweck in ihrer Zeit erfüllt haben, nämlich das Geschehen am Gericht zu dokumentieren und zwar so, dass man später in dem Gerichtsbuch gegebenenfalls nachschlagen konnte.

Die Haderbücher sind keine Rechtsbücher, die Recht festschreiben. Der Rechtsgang im Mittelalter war grundsätzlich mündlich, nicht schriftlich. Das geschriebene Wort sollte die Klagen, die Fragen, die Antworten, die Reden und die Gegenreden, alle wichtigen Verfügungen für den Prozessverlauf und das Urteil beweiskräftig festhalten. Jede durch eine Prozesshandlung entstandene Rechtslage wurde damit beurkundet. Das Gerichtsprotokollbuch gewann durch diese zuverlässige Dokumentation in der Öffentlichkeit immer mehr an Glaubwürdigkeit. Es hatte schließlich die Aussagekraft eines Beweismittels. Die Haderbücher konnten somit als Beweisurkunden für alle Prozesshandlungen, die sich vor Gericht abgespielt haben, verwendet werden. Natürlich konnten diese Einträge später für die Schöffen auch zur Orientierung dienen. Sie konnten nachschlagen, wie sie sich in dem einen oder anderen Fall entschieden hatten. Der Ingelheimer Prozess an sich bleibt aber ein mündlicher Prozess.

In den Quellen des Oberhofes hat der Gerichtsschreiber verzeichnet, woher die anfragenden Personen kamen, der Fall wurde kurz beschrieben und es folgte das Urteil und die Rechtsbegründung.

Die Protokolle eines Haderbuches sehen anders aus als die der Oberhofakten. Die meisten Einträge in den Haderbüchern sind sehr kurz und umfassen nur wenige Zeilen. In einem Ortsgerichtsbuch wurden alle Angelegenheiten festgeschrieben, die die Menschen damals beschäftigt haben, die sie geklärt wissen wollten – und zwar in aller Öffentlichkeit, vor dem Gericht. Und diese Angelegenheiten sollten aufgezeichnet werden, damit man sich jederzeit wieder auf sie berufen konnte. In den meisten Einträgen werden kurz Klageerhebungen, Zahlungen, Pfanderhebungen, Fristsetzungen des Gerichts u.ä. festgehalten.

Dies soll an zwei Beispielen erläutert werden: It(em) Wynßhenne dut sin 4 h(eischung) off Jeckel Rauben, ut prima. Dieser Eintrag hält fest, dass Henne Wein seine vierte Klage vor Gericht gegen Jeckel Rauben erhoben hat. Um einen Beklagten vor Gericht zu bringen, war es üblich, mehrere Male vor Gericht zu "heischen", d.h. ihn anzuklagen. Erst nach der vierten "Heischung" war der Beklagte verpflichtet vor Gericht zu erscheinen. Der Zusatz ut prima – "wie beim ersten Mal" - bedeutet, dass der Ankläger in derselben Angelegenheit wie bei der ersten Klageerhebung vor Gericht erschienen ist.

Ein zweites Beispiel: It(em) zuschen Hansen von Klee und Ritt(er) Hengin ist gelengt noch hude zu 14 tag(en), sic hodie. In diesem Fall hat das Gericht aufschreiben lassen, dass der Streitfall zwischen Hans von Klee und Hengin Ritter in zwei Wochen vor Gericht verhandelt wird.

Anhand dieser zwei Beispiele wird bereits der größte Unterschied zwischen den Oberhofbüchern und den Haderbüchern deutlich. Zum Oberhof zogen die streitenden Parteien oder ein anfragendes Gericht nur einmal. Eine Reise nach Ingelheim war mit Mühen und Kosten verbunden und das Ingelheimer Gericht musste sofort ein Urteil fällen. In den Ortsgerichtsbüchern ist keine Eile geboten, und es werden vor allem Alltäglichkeiten festgehalten.

Die Streitfälle vor dem Ortsgericht sind selten an einem Tag geklärt und abgeschlossen worden, oft ziehen sie sich über mehrere Wochen hin. Es ist aber leicht, sich im Haderbuch zu orientieren. Wenn beispielsweise geschrieben steht, dass ein Fall in zwei Wochen weiterverhandelt werden soll, schlägt man unter dem entsprechenden Datum nach. Man darf die knappen Vermerke in ihrer Aussagekraft nicht unterschätzen. Sie sind die Hinweise, die helfen, dass man sich in den Büchern zurechtfindet – damals wie heute. Neben diesen sehr gewissenhaft versehenen Einträgen haben die Gerichtsschreiber einen Rand von etwa fünf Zentimetern auf den Seiten freigelassen, auf dem sie ebenfalls Hinweise notiert haben, meist Abkürzungen, die die Orientierung im Gerichtsbuch erleichtern. Bei längeren Fällen findet man die Namen der streitenden Parteien oder auch das Thema des Streits am Rand vermerkt.

Man kann also in den Haderbüchern, im Gegensatz zu den Oberhofbüchern, den Verlauf eines Falles sehr genau verfolgen. Es lassen sich Regeln des Prozessverfahrens aus den Protokollen klar herausfiltern.

Die kurzen Einträge, die den Prozessverlauf wiedergeben oder Ergebnischarakter haben, beispielsweise in Form einer Zahlungsaufforderung, geben keinen Hinweis auf die fraglichen Inhalte. Aber in ihrer Dichte zeigen sie den Regelungsbedarf, der unter den Menschen herrschte. Die Menschen im Ingelheimer Grund wussten, wo sie sich ihr Recht holen konnten. Und die Gerichtsbarkeit war Bestandteil des täglichen Lebens.

Die meisten Fälle in den Ingelheimer Haderbücher enden unspektakulär, brechen ab oder die Parteien einigen sich gütlich. Es gibt aber auch längere Einträge, die einen Fall ausführlich schildern und sehr genau die Aussagen der streitenden Parteien vor Gericht wiedergeben. Und diese Protokolle sind es, die uns heute einen Eindruck vom Zank im Mittelalter geben und die Menschen von damals lebendig werden lassen.

Ein Protokoll folgt einem bestimmten Schema und ist einer formelhaften Rechtssprache abgefasst, mit deren Hilfe es möglich war, ein Fall so präzise und so knapp wie möglich wiederzugeben. Aber es kommt auch vor, dass der Gerichtsschreiber die vortragenden Parteien wörtlich zitiert, wenn es ihm für den Fall notwendig erscheint. Der Eintrag eines Falles beginnt mit dem einleitenden Wort item und es wird notiert, wer wen in welcher Angelegenheit anklagt. Der Gerichtsschreiber notiert auch, welche Forderungen der Ankläger an den Beklagten stellt. Dann folgt die Rechtsfertigung des Beklagten. An dieser Stelle werden Beweise, die zur Klärung des Sachverhaltes beitragen, vorgelegt oder zumindest benannt, z.B. Zeugen oder der Beklagte beruft sich auf das Gerichtsbuch. Ist eine gütliche Einigung nicht möglich, ergeht das Urteil des Gerichtes oder ein sogenanntes Zwischenurteil, d.h. die Gerichtsverhandlung wird vertagt. Das ist beispielsweise der Fall, wenn Zeugen vor dem Gericht aussagen sollen oder das Gericht nicht entscheidungsfähig ist, weil zu wenig Schöffen auf der Bank sitzen.

Doch lassen wir die Quelle sprechen: It(em) Hans Snyd(er) hait sich v(er)dingt, Henne Blutworsten von Algeßhey(m) sin worte zu thun und hait sin und(er)tinge verbot, als recht ist, und hait Peder Svinden zu gesproch(e)n, wie daß er yme bose schendige worte gethan habe, nemlich yne eyne(n) bosewycht geheißen. Daß er yme soliche worte gethan hait, das schadt yme alsvijl das gericht erkennet. Obe das den lyp an dreff ader das gut, das stille er zu dem gerichte, und heist yme des eyn antwort. Der scholtes hait die ansprache, von unßers gnedigen her(e)n und auch des gerichts wegen, verbot. Dar off sagt Peder, sie haben syn(er) muder halb(e)n redde myt eyn gehabt(en), daß Henne yne habe heißen liegen, do habe er wydd(er) Henne(n) gesagt, er liege als eyn lecker. Und wes er yne wider anlange, des sij er unschuldig. Die unscholt ist gestalt noch hude zu 14 tag(en). Das haint sie beide verbot.

Was ich Ihnen hier vorgetragen habe, ist ein typischer Fall aus dem Haderbuch. Henne Blutworst von Algeßheym klagt Peder Svinde an, ihn beleidigt und einen bosewycht genannt zu haben. Die Schadenssumme dafür soll das Gericht festsetzen. Auch ob es sich hierbei um eine Klage auf Gut oder eine Klage auf den Leib handelt, was eine Züchtigungsstrafe nach sich ziehen würde, soll das Gericht bestimmen. Die Beleidigung war eine Straftat, die den Rechtsfrieden im Dorf erheblich verletzte, so dass der Schultheiß die Anklage im Namen des Gerichts und des Gerichtsherren, also hier des Pfalzgrafen, öffentlich übernimmt. Peder Svinde antwortet auf die Anklage und sagt aus, dass sie über seine Mutter gesprochen hätten und Henne Blutworst habe behauptet, dass er lüge. Er habe Henne daraufhin gesagt, dass er selbst wie ein lecker, also wie ein Schurke, lüge. Er sei aber unschuldig.

Beleidigungen waren im Spätmittelalter nicht unüblich. Auch heute gibt es den Tatbestand der Beleidigung, der üblen Nachrede und der Verleumdung, aber wir können uns nur schwer eine Vorstellung davon machen, welche existenzbedrohende Wirkung Schimpfworte in einer Gesellschaft haben mussten, die dem gesprochenen Wort noch unmittelbaren Realitätscharakter zuerkannte. Schimpfworte wurden im Ingelheimer Grund sehr ernst genommen.

Die Sensibilität der Leute damals für das gesprochene Wort ist uns heute verloren gegangen. In unserer heutigen Gesellschaft, in der man mit der Analyse einer Hautschuppe einen Schuldigen eindeutig überführen kann, wird dem gesprochenen Wort kaum noch Glauben geschenkt. Was kümmern mich meine Worte von gestern? Das war im Mittelalter anders.

Sogenannte Scheltwörter konnten verletzen, beunruhigen und schlimme Reaktionen hervorrufen. Die Deutung der Beleidigungen aus dem 15. Jahrhundert ist heute sehr schwierig. Das semantische Spektrum erstreckt sich von einem im Alltag üblichen Umgangston bis zu einer verletzenden Beleidigung. Beleidigungen wie bosewycht und lecker sind im Ingelheimer Grund als sehr schwerwiegende Beleidigungen verstanden worden, denn wegen ihnen ist man vor Gericht gezogen.

Es finden sich noch zwei weitere Einträge zu dem Fall im Haderbuch. Der erste ist nur einer der kurzen Einträge, die einen neuen Gerichtstermin festsetzen. Der zweite aber enthält das Urteil der Ingelheimer Schöffen. Es ist einer der wenigen Fälle, der im Haderbuch tatsächlich zu einem Abschluss kommt: It(em) als ansprache und antwort zusch(e)n Hen(ne) Blutworßt(en) von Algeßheim und Peder Svinden ergange(n), deshalb(e)n sie dan(n) beide dem scholteß(e)n gelobt(en) abe trag zu thun. Dem nach so hait Ped(er) Svinde Hen(ne) Blutworßt(en) erkant(en) yne der gemelt(en) sachen halb(e)n schadenloißs zu halten. Das hait Hen(ne) verbot, als recht ist.“

Am ersten Verhandlungstag, als  Klage und Antwort vor dem Gericht zur Sprache kamen, ist die Beleidigung zu einer öffentlichen Sache geworden. Die Parteien müssen sich nun vor dem Schultheißen einigen und beide eine Entschädigung zahlen. Die Beleidigung war keine Privatsache mehr. Die beiden Männer mussten vor der Öffentlichkeit zur Verantwortung gezogen werden. Der Vergleich, der das Ergebnis war, stellt die einzige Möglichkeit dar, den Rechtsfrieden wieder herzustellen. Er hat den Vorteil, dass keine der beteiligten Personen in ihrem Ansehen Schaden nahm. Zwischen den beiden Parteien selbst ergeht kein offizielles Urteil, denn sie hatten sich untereinander längst wieder vertragen. Der Streit an sich, in dessen Kontext die Wörter gefallen sind, interessiert kaum, denn selbst wenn der genaue Sachverhalt dem Gericht vorgetragen worden ist, notiert der Schreiber lediglich, dass Peters Mutter Anlass zum Streit gab. Bedeutend ist vielmehr, dass Beleidigungen erheblich den Rechtsfrieden im Dorf störten und vor Gericht zu einer öffentlichen Angelegenheit wurden. Der Schultheiß setzt eine Strafe fest, die im Gerichtsprotokoll aber nicht näher erläutert wird. Man kann davon ausgehen, dass der Bevölkerung bekannt war, welche Strafe auf Beleidigung stand.

Im Allgemeinen haben sich die Ingelheimer im Spätmittelalter über dieselben Dinge gezankt wie wir heute auch. Das Beispiel einer Beleidigung wurde vorgeführt, aber im Haderbuch finden sich genauso typische Streitereien unter Nachbarn. Auch Klagen wegen Schulden, Streit über Häuser, über Arztkosten und ähnliches haben in den Büchern Eintrag gefunden. Es sind die längeren Fälle in den Ingelheimer Haderbüchern, die Aufschluss über die sozialen Beziehungen, aber auch über Regeln im Umgang der Menschen geben.

Ingelheim verfügt mit den Gerichtsprotokollbüchern über einen wahren Schatz, der noch nicht gehoben ist. Man müsste sich zu mehreren an die Haderbücher setzen und sie nach den ausführlichen Fällen durchforsten und hätte dann einen gesättigten Eindruck und ein genaues Bild vom Alltag, vom Leben und Treiben im Ingelheimer Reich des späten Mittelalters gewonnen.

Am Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V. wird z.Zt. unter Leitung von Dr. Werner Marzi die Edition des von Frau Leonie Kallmann (geb. Münzer) (MA) bearbeiteten Haderbuches vorbereitet. Neben einer buchstabengetreuen Transkription des Textes und einer Übertragung ins heutige Deutsch werden kommentierende Artikel verschiedener Autoren die Besonderheiten dieser Quelle, den Zusammenhang mit der historischen Entwicklung der Orte Nieder- und Ober-Ingelheim sowie die Eigenarten der Rechtsprechung am Ingelheimer Oberhof bzw. im Ingelheimer Stadtgericht herausstellen. Ein ausführlicher Personen-, Orts- und Sachindex sowie ein Glossar werden die Orientierung im Text und das Verständnis dieser Rechtsquelle entscheidend erleichtern. Auf der Homepage des Instituts erfahren Sie in Kürze mehr von diesem Projekt.