0.Die „Stadt Kreuznach jedweder Seite“
Neue Aspekte zur Genese des Kreuznacher Stadtbildes unter besonderer Berücksichtigung der spätmittelalterlichen Stadtplanung.
von Jörg Julius Reisek
(Erweiterte Fassung eines Beitrages aus den Bad Kreuznacher Heimatblättern, 2014.1)
Immerwiederkehrende „Altstadt-Neustadt-Diskussionen“ waren Anreiz, althergebrachte Überlieferungen zur Entstehung des Kreuznacher Stadtbildes im späten Mittelalter zu überprüfen und gegebenenfalls zu präzisieren. Die Einbeziehung neuerer interdisziplinärer Forschungsergebnisse führte zu Resultaten, die verschiedene Stadien der Besiedlung und des Ausbaus der Stadt verständlicher erklären können als der bisherige Erkenntnisstand.
In der Vergangenheit bemühten sich Regionalforscher vorrangig darum, die verwirrend anmutenden Herrschafts- und Besitzverhältnisse in Einklang zu bringen und diese auf die topographischen Verhältnisse zu übertragen. Ihre Ergebnisse waren allerdings bislang nicht schlüssig. Dies betraf u. a. die Frage einer möglichen Siedlungsverschiebung naheaufwärts oder den ufernahen „Feuchtbesitz“ des Bistums Speyer. Auch wurde die Bedeutung der Rheingrafen unterschätzt. Vielfach standen der Forschung nur Regesten zur Verfügung; Fälschungen und zweifelhafte Überlieferungen verwirrten, wichtige Urkunden waren unbekannt. J. H. Andreaes verdienstvolle Chronik „Crucenacum Palatinum“ (1780-1784) war lange Zeit der stadtgeschichtliche Leitfaden. Die gegenwärtige Bearbeitung der regesta imperii und anderer Urkundensammlungen, sowie deren Verfügbarkeit im Internet, bieten bessere Arbeitsmöglichkeiten als in der Vergangenheit. Als ebenso wertvoll erwies sich die Edition der Sponheimer Regesten durch Johannes Mötsch.
0.1.Namensauffälligkeiten
Zahlreiche vor- und frühgeschichtliche Funde im gesamten Stadtgebiet zeugen von der weit zurückreichenden Bedeutung des Standortes. Der Knotenpunkt wichtiger Altstraßen an einem Flußübergang begünstigte eine Siedlungsverdichtung an beiden Ufern der Nahe. Die ursprüngliche Bedeutung des Namens Kreuznach hängt vielleicht mit diesem Umstand zusammen und bezeichnet das Gebiet. Ortsnamen leben bekanntlich im Bewusstsein der Einwohner weiter. Die Kernbedeutung blieb auf phonetischer Ebene erhalten, die Schreibweisen dokumentieren dann eher unterschiedliche Auffassungen der Kanzleischreiber. So haben wir es wohl mit einem Raum um die Straßenkreuzung an der Nahe bzw. Kreuz(punkt) am Bach / Fluss zu tun, wie es schon Werner Vogt vermutete. Der Flurname „Brückes“ lokalisiert den Ort eines alten Überganges. Ein „Heim des Crucinius“ dürfte demnach wohl kaum als Namensgeber Pate gestanden haben. Diese These erscheint aus heutiger Sicht als zu konstruiert. Der Name des römischen vicus ist nicht überliefert. In ähnlicher Weise bezieht sich das auf der Peutingerschen Tafel eingezeichnete „Buconica“ vermutlich auf keinen Ort, sondern auf eine vom Umland sich abgrenzende Siedlungsverdichtung im Raum Nierstein.
0.2.Osterburg
„In villa“ Kreuznach (in unterschiedlichen Schreibformen) ortet in früh- und hochmittelalterlichen Urkunden weniger eine exakt definierte Stelle, vielmehr ist der dortige Reichsgutkomplex gemeint. In diesem wurden Kolonisten angesiedelt und mit Landbesitz ausgestattet. Das Verwaltungszentrum befand sich im Bereich des ehemaligen Kastells. Schon frühzeitig setzte eine Besitzzersplitterung ein. Kleine Siedlungen und Hofstätten Freier und Unfreier verteilten sich im Umland. Ein uneinheitliches Gewannbild [Besitzgliederung der landwirtschaftlichen Fläche] zeugt heute noch davon. Erst flußabwärts finden sich zusammenhängende Bereiche fränkischer Langgewanne. Möglicherweise wurde bereits in frühen Urkunden zwischen dem Dorf Kreuznach und dem Dorf Osterburg unterschieden. Eine mangelhafte Textüberlieferung und daraus resultierende Fehlinterpretationen verschleierten den Blick auf diese Epoche. In Zukunft werden wir mit Neubewertungen von Urkunden rechnen können. Die ursprüngliche Bedeutung von Osterburg könnte von „osterstuapha“, dem Osterzins bzw. Königszins abgeleitet werden. Somit wäre die Osterburg ein „Ort der Osterzinsabgabe“ (Verwaltungszentrum), das Dorf Osterburg eine „Siedlung der Königszinser“ (Kolonisten). Ein späterer Bedeutungswandel in „östlich gelegen“ trat ein. Bei Ausgrabungsarbeiten im Kastellbereich wurden Brandhorizonte angetroffen. Ein dafür verantwortlich gemachter Normannensturm im Jahre 882 fand hier nicht statt, vielmehr war die Trierer Gegend davon betroffen. Eine Verwüstung im Jahre 1334 ist wahrscheinlicher. Truppen des Kurfürsten Balduin von Trier drangen plündernd und brandschatzend in das Umfeld der Stadt ein. 1504 lagerte ein hessisches Heer bei Planig und wütete ebenfalls in der Gegend. Es war die Zeit des pfalz-bayerischen Erbfolgekrieges. Als Augenzeuge berichtete Johannes Trithemius: „In der Zeit, da der Hessengraf im Zeltlager bei Kreuznach mit einem großen Heer lagerte, haben seine Soldaten alles ringsum was pfälzisch war, geplündert und weder Menschen noch Ortschaften geschont. [...] Er scheute sich auch nicht, die Gott geweihten Kirchen einzuäschern und hat sogar die heiligen Gefäße des Sakraments nicht verschont.“[Anm. 1] Dies betraf bestimmt auch die Kilianskirche. Durch die Verlegung der Patronatsrechte auf die Wörthkirche 1332 verlor sie an Bedeutung, soll aber bis zum 16. Jh. als Filialkirche Bestand gehabt haben.Die Rolle der Martinskirche auf dem Martinsberg ist bis jetzt noch nicht ausreichend geklärt. Sie soll schon in fränkischer Zeit im Zusammenhang mit einem Friedhof bestanden haben und lag an einer exponierten Stelle. Es wäre zu überlegen, ob die Kilianskirche überhaupt einen Martinskirchenvorgänger hatte und ob die mit dem Bistum Würzburg in Verbindung stehende Martinskirche nicht schon immer auf dem Martinsberg lag. Unterschiedliche Grundherrschaften oder Einflußbereiche kämen als Ursache zweier Standorte in Betracht. Leider ist die Quellenlage unzureichend. Mit den beiden frühen Kirchen St. Martin und St. Kilian liegt in Nierstein vermutlich ein ähnlicher Fall vor.
Die Osterburger Güter gerieten in den Besitz der Rheingrafen, die ein Hofgut mit alten Immunitätsrechten [Befreiung von Diensten und Abgaben] unterhielten. So wurde 1425 Walrab von Koppenstein durch ein Urteil des Ingelheimer Oberhofs belehrt „daz der vorgeschrieben hoff, genant Osterburg, eyn gericht oder dinghoff vor sich selbs ist...“ Rheingräflicher Grundbesitz verteilte sich auf beiden Seiten der Nahe. Im Jahre 1588 nahm die Kreuznacher Kellerei der Rheingrafen u. a. 318 Malter Korn und 18 Fuder Wein ein.Die bis in die heutige Zeit vertretene These einer Siedlungsverlegung basiert auf sagenhaften Überlieferungen. Mauerreste und aufgefundenen Relikte beflügelten die Fantasie.
0.3.Stadtkerne
Auf der linken Naheseite fanden sich zwischen Martinsberg und Weinbauschule zahlreiche vor- und frühgeschichtliche Besiedlungsspuren. Durch die Überbauung und Überformung des Geländes ist der archäologische Befund jedoch merklich gestört. Der Kreuzungsbereich der Altstraßen unterhalb des fränkischen Gräberfeldes am Martinsberg wäre ein idealer Ort zur Lokalisierung des fränkischen Dorfes Kruzenachen bzw. für die Keimzelle einer wachsenden Marktsiedlung. Auf der rechten Naheseite entwickelte sich ein mit dem Flußübergang in Verbindung stehendes Pendant, dessen Hofgruppe infrastruktuelle Züge ausbildete. In der heutigen Römerstraße wurde das Teilstück einer römischen Straßenverbindung aufgedeckt. Sie verlief am Rande einer Terrasse, deren Absenkung in den zur Kreuzstraße hinabführenden Gassen noch gut sichtbar ist. Sie kann bis zum Oranienpark verfolgt werden. Das Erscheinen von Vertretern des Sponheimer Grafenhauses um 1100 begünstigte die weitere Entwicklung. Angeregt durch familiäre Impulse aus dem süddeutschen Raum, lehnten sie die Siedlungspolitik dem Vorbild der Zähringer an, welche nach politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten Städte, Dörfer und Klöster ins Leben riefen. Zahlreiche Stadtrechtsurkunden begründen eine zentrale Verwaltung und vielfältige Freiheiten der Kreuznacher Bürger. Gleichfalls zeigt sich das sogenannte Zähringer Kreuz als typischer Grundriss in der Altstadt. Auf Grund des erlangten Besitzes beiderseits der Nahe, sowie der Aneignung und Festigung von Rechtshoheiten konnte die Sponheimer Grafenfamilie an Macht und Einfluß gewinnen. Die Vergabe von Lehnshöfen und Grundstücken war ein wirksames Instrument, um Gefolgschaften an das Stadtgebiet zu binden. Es gelang ihnen, die Rheingrafen als Gefolgsleute zu gewinnen und in den Siedlungsprozeß einzubeziehen. Von einer Verdrängung derselben aus dem Stadtgebiet kann keine Rede sein. Aufschlußreich ist eine Aufzählung rheingräflicher Höriger aus der Zeit um 1200. Danach lebten auf den an beiden Ufern vorhandenen Besitztümern 32 Leibeigene in „Hosterburc“ und 31 Leibeigene in „Crucenachen“. Herwicus und seine Frau weilten „qui est ultra Na“ auf der anderen Seite (rechts). Hierbei muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Bezeichnung Altstadt von altera = andere Seite abgeleitet werden kann. Die ursprüngliche Altstadt ist mit dem Bereich des Burgfriedens gleichzusetzen, in dem die frühen Burghäuser Platz fanden. Auch das erste Rathaus soll hier gestanden haben. Werner Vogt bemerkte über Kirn, daß eine „Alte Wohn-Statt“ mit Burgmannenhäusern auf einer Terrasse unterhalb der Kirburg lag und heute noch als „Altstadt“ geläufig ist. Die Siedlung im Hahnenbachtal wurde Neustadt genannt. Auf alten Karten sind beide Bezeichnungen zu finden. Vor dem Bau der Kauzenburg residierten die Sponheimer an einer anderen Örtlichkeit. In Frage käme eine alte Burgstelle, die Otto Guthmann in den Bad Kreuznacher Heimatblättern[Anm. 2] beschrieb. Ein Sitz im Bereich des Simmerschen Hofes wäre ebenfalls denkbar. Immerhin nahm der Pfalzhof (15. Jh.), der spätere Pfalz-Simmersche Fürstenhof (17. Jh.), den dominantesten Platz der Stadt ein. Der Baubeginn der Kauzenburg (vor / um 1200?) steht sicherlich in Verbindung mit der Stadtgründung. Wichtige Sicherungs- und Kontrollfunktionen kamen ihr zu. Die Ersterwähnung wegen eines Baueinspruches des Bistums Speyer datiert in das Jahr 1205. Hauptziel der Stadtgründung war sicherlich die Schaffung eines von zwei Siedlungsteilen gesicherten Flussüberganges, über den der Handelsverkehr geführt und kontrolliert werden konnte. Als Übergang bot sich die heutige Stelle an der Naheinsel an, wo zunächst eine hölzerne Brücke errichtet wurde. Vermutlich gewann diese oberhalb der alten Furt(en) gelegene Stelle schon frühzeitig an Bedeutung. Hochwasserbedingte Veränderungen des Nahebettes im Bereich der Pfingstwiese waren immer wiederkehrende Szenarien, die den Verkehr beeinträchtigten. Eine Karte von 1779 dokumentiert an der Stelle massive Flußbettveränderungen während zweier Jahrhunderte.[Anm. 3]
Durch die Umlegung von Straßen wurde der Verkehr zur Stadt geleitet. Der Gassenname „Steige“ in der Nähe des Holzmarktes verweist auf einen kurzen Wegabschnitt, der vom Übergang des Ellerbachs hoch zur Rüdesheimerstraße bzw. zur Altstraßentrasse führte. Die „rote Stange“ markierte die alte Einmündung der Mannheimer Straße über die Bocksgasse auf die höher liegende „Hohe Straß“ (Hochstraße). Vielleicht existierte einst an dieser Stelle auch eine Verbindung zur oberhalb gelegenen Altstraßentrasse. Natürlich entstanden auch Umgehungsmöglichkeiten. Der Bingerschlag und das damit in Verbindung stehende „ rote Kreuz“ (Abzweigung Steinweg zum Holzmarkt) gehörten dazu.[Anm. 4]
Im 13. Jahrhundert vollzog sich die Kreuznacher Stadtwerdung. Beurkundungen von Privilegien, Markt-, Geleits- und Stadtrechten und ein großes Stadtsiegel zeugen davon. Geschickt setzten die Gründer Privilegien ein, um den Zuzug von Handwerkern und Händlern zu begünstigen und somit die Wirtschaft zu beleben. Ein erheblicher Teil von Steuern, Zöllen und anderen Einnahmen wurde für Baumaßnahmen verwendet. Darüber finden sich Angaben in einer sponheimischen Urkunde von/um 1237/1248: „Auch werden wir unsere eigenen Grundstücke nach unserem Belieben für einen Zins verpachten können. Außerdem ein Kaufhaus auf dem öffentlichen Markt, in dem Tücher und andere Waren verkauft werden sollen. Außerdem werden wir eine Halle errichten und nach unserem Belieben vermieten können, in der Fleisch verkauft werden soll. Ferner werden wir Bannbacköfen und Bannmühlen haben. [...] Auch den Zoll und die Einkünfte, die Ungelt genannt werden, übertragen wir der Bürgerschaft zugunsten städtischer Baumaßnahmen, solange dies uns gefällt; wenn die Bauten fertiggestellt sind oder wann wir selbst diese Einkünfte zurückhaben wollen, dann werden wir unter weiser Beratung durch die Geschworenen und Schöffen die Einkünfte und den Zoll festsetzen. [...] Überdies soll eine Unterstützung der städtischen Bauten durch Kauf und Verkauf irgendwelcher Sachen nach unserem Rat festgelegt werden. [...] Wenn die Befestigungen restauriert werden sollen, kann ohne Widerspruch des Grafen eine mäßige Abgabe auf Kauf oder Verkauf gelegt werden.[Anm. 5] 1270 verpflichteten sich die Ortsherren, daß sie „keines Bürgers Haus in Crucenachen nehmen werden um es irgend einem... [ihrer]...Burgleute auszuliefern oder es ihm irgendwie sonst vorzuenthalten.“ Das frühe Stadium der Stadtwerdung verlief sicherlich schleppend und nicht problemlos. Die Stadtmauern entstanden nicht sofort, man behalf sich vermutlich, wie in anderen vergleichbaren Orten erst einmal mit Graben, Wall und Palisaden [muros muß nicht unbedingt Steinummauerung bedeuten = Rechtsbegriff, wie Zaun ]. Als Statussymbol hatten steinerne Tortürme, wie einer auf dem großen Stadtsiegel von 1261 abgebildet ist, einen Vorrang. Zu einer späteren Ausbauphase gehört die Anlage der Rundschanze am Casinogarten. Ein kurpfälzisches Privileg enthält interessante Einzelheiten zur Bebauungssituation im Jahre 1495: „Item wir verordnen, setzen und wollen, daß alle Gebäude zu Creuznach, die nach dem Feld zu in beiden Städten wider die Stadtmauern gebaut sind, in Jahresfrist abgetan und daß einem jeglichen auf sein Begehren nach Rat unserer Amtleute [...] an gelegenen Enden Platz oder Hofstadt gegeben werde um ziemliches Geld, und daß die Stadtmauern frei gestellt werden, so daß man aller Enden – mit Ausnahme bei unseren Höfen, darum reiten kann, und künftig soll dawider zu bauen nicht mehr gestattet werden.“ Auch sollten die Dächern nur noch mit Ziegeln oder Schiefer gedeckt werden.[Anm. 6] Neue Stadtteile oder Vorstädte bildeten sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht.
0.4.Zur Planung
Die Gründungsphase vor / um 1200 fällt in einen Zeitraum (12.-14. Jh.), in dem etwa 3000 deutsche Städte entstanden. Aus stadtplanerischer Sicht ist die Kreuznacher Doppelstadtgründung ein Sonderfall. Die Suche nach dem dahinter verborgenen System erwies sich als eine besondere Herausforderung. Im Laufe der Jahrhunderte veränderte sich das Stadtbild derart, dass nur noch markante Fixpunkte, wie Kirchen und Stadtmauerverläufe zur Recherche in Frage kamen. Das nun vorliegende Resultat zeigt eindeutig, dass wir es mit einer in einem Guss geplanten und umgesetzten Gründung zu tun haben. Selbst später begonnene Bauprojekte wurden berücksichtigt. Dabei darf man nicht vergessen, dass es über ein Jahrhundert dauerte, bis die Anlage eine ansehnliche Form gewonnen hatte. Zwei Siedlungsformen beherrschen das Stadtgebiet: neustädterseits eine Siedlung mit breiter Marktstraße (Hochstraße), auf der anderen Seite dominiert ein Straßenkreuz (Mannheimer- / Kreuzstraße). Topographische Gegebenheiten bedingten die unterschiedliche Ausprägung. Mit den Vermessungsarbeiten konnte erst nach der Festlegung strukturbildender Elemente begonnen werden. Dazu gehörten der Mauerverlauf, der innere Aufbau (Straßen, Parzellen), der öffentliche Raum (Märkte), Sonderbauten (Rathaus, Kirchen, Kaufhaus) und die Wasserversorgung. In jüngster Zeit experimentierten Städteforscher mit einer historischen Meßseilmethode. Binnen weniger Tage konnten sie mit ihrer Hilfe den Grundriß von Freiburg im freien Gelände markieren. Als Ausgangsbasis für die Einmessung diente ihnen ein Rechtecksystem (Campus initialis), das schon in antiken Zeiten Anwendung fand. In Kreuznach musste jedoch eine alternative Lösung gefunden werden, denn der Nahelauf behinderte die Aufgabe der Feldmesser erheblich. Deshalb fungierten die markanten Türme der „extra muros“ stehenden Martins-, Kilians- und Peterskirche als Fixpunkte zur Erzielung von Visierachsen. Anhand dieser Strecken konnten unter Anwendung einfacher mathematischer Konstruktionen weitere Punkte bestimmt werden. Dabei spielten Streckenhalbierungen, die Einmessung von rechten Winkeln und Kreisbögen eine Schlüsselrolle. Unter Berücksichtigung vorhandener Bebauung entstanden sämtliche Mauern, Straßen, Türme, Kirchen und Plätze an den geplanten Stellen. Ein zahlenmystischer Hintergrund ist nicht erkennbar.
0.5.Zum Konstruktionsprinzip- eine Annäherung
Der wichtigste Bezugspunkt zur Ausrichtung des Grunddreieckes ist der Brückenpunkt am linken Ufer. Er könnte als Gründungspunkt bezeichnet werden. Vier Gründungsachsen bestimmen die Lage der Stadtteile zueinander:
Fluchtlinie A: Rüdesheimertor – Löhrtor – Kilianskirche.
Fluchtlinie B: Rüdesheimertor – Brücke Ellerbach - Brückenlager – Ebernburger Turm („Dicker Turm“ an der Volksbank). Die Mitte der Strecke markiert den Chor (Altarpunkt?) der Wörthkirche, der rechte Winkel weist von da zur Kilianskirche.
Fluchtlinie C: Ebernburger Turm – St. Kilian
Der Schwerpunkt des Dreiecks (A, B, C) befindet sich am Mühlentor.
Fluchtlinie D: Das Neustadtdreieck wird durch eine Strecke, die vom Brückenlager aus in Richtung Martinskirche führt, gebildet. Am Schnittpunkt der Strecken A und D liegt das Löhrtor. Der Schwerpunkt (A, B, D) liegt in einer Ecke des Eiermarktes.
Die Altstadt zeigt eine rhomboide (rautenförmige) Grundform mit einem Schwerpunkt an der Kreuzung Mannheimerstraße / Kreuzstraße. Der urprüngliche Verlauf der Mannheimerstraße setzte sich vermutlich über die hölzerne Brückenkonstruktion in einer Linie fort. Im rechten Winkel zur Stadtmauer an der Nahe erreichte die später errichtete Steinbrücke das andere Ufer. Die Fluchtlinie der Stadtbefestigung an der Salinenstraße zeigt auf die ehemalige St. Peterskirche (Altarpunkt?) im Oranienhof. Über die Größe der verwendeten Maaße und die Art der Parzellierungen liegen noch keine Erkenntnisse vor. Im Bereich der Neustadt mußten umfangreiche Terrassierungsarbeiten durchgeführt werden. Die oberste Terrasse umfaßt einen Bereich zwischen oberer Stadtmauer und Hochstraße, deren Begrenzung zwei Kreisbögen (Linse) bestimmen. Im Zentrum lag der spätere Pfalzhof. Herrschaftliche Vorgängerbauten sind an dieser Stelle zu vermuten. Der Umfang der mittleren Terrasse wurde durch einen Kreisbogen (Radius: Streckenmitte Rüdesheimer Tor – Löhrtor) ermittelt. Die Kante zeichnet sich noch heute im Gelände ab. Im Verlauf des Milchgässchens ist die Absenkung gut zu beobachten. Daran schließt sich eine bis zur Stadtmauer reichende schmale Terrasse im Bereich der Magister-Faust-Gasse an. Der Burgfrieden wurde durch Aufschüttung der Kiesbänke bis zur Mündung des Ellerbaches erweitert. Die Ummauerung schütze das Gebiet vor Abschwemmung.
0.6.Altstadt/Neustadt: die Kreuznacher Doppelstruktur
Die frühen Urkunden überliefern keine unterschiedliche Benennung der Stadtteile. 1332 ist von „den beiden neuen Städten Crucenach“ und der „Stadt Kreuznach jedweder Seite“ die Rede. Der Burgfrieden (urspr. Altstadt), die Neustadt (neue Wohnstätte) und die Altstadt (neue Wohnstätte auf der anderen Seite) bildeten eine Einheit mit unterteilten Verwaltungsstrukturen. Konkurrenzen trübten bald das Miteinander. Mit der Zeit hielten Neid und Mißgunst Einzug in die Quartiere. So postulierte 1493 ein Schiedsspruch: Kreuznach sei „nicht anders denn eine Stadt und Gemeinde, was sie auch wären [...] Denn die Freiheit hätten sie [die Obrigkeit] ihnen gemeiniglich gegeben und keinen Teil darin vor dem anderen gevortheilt.“ Wie werden wir wohl zukünftig mit der Benennung der Stadtteile umgehen? „Historischer Stadtkern altstädterseits - historischer Stadtkern neustädterseits“ wäre eine Möglichkeit, oder es bleibt besser so wie gehabt: Altstadt - Neustadt, „Hiwwe unn driwwe“. Unser Blick sollte nicht so sehr auf das Trennende, sondern mehr auf das Verbindende gerichtet sein. Immerhin bildet die Kreuznacher Doppelnatur ein Alleinstellungsmerkmal.
0.7.Nachweise
Verfasser: Jörg Julius Reisek
redaktionelle Bearbeitung: Nathalie Rau
Auswahl neuerer Literatur:
- Ament, Hermann: Zur nachantiken Siedlungsgeschichte römischer vici im Rheinland. 1995. (in: Geschichtliche Landeskunde, 42) S. 19-34.
- Ehlers, Caspar: Königliche Pfalzen als Aufenthaltsorte im Rheinland bis 1250. 2004. (in: Rheinische Vierteljahrsblätter, 68) S. 36-63.
- Elsenbast, Kurt / Greule, Albrecht: Rheinhessische Ortsnamen. 1980. (in: Geschichtliche Landeskunde, 21) S. 31-59.
- Hein, Thomas O.: Auf dem Weg zur eigenständigen Herrschaft Grumbach: Das Gefälleverzeichnis von 1588. (Westricher Heimatblätter, 2012.3) S. 100-125.
- Heinzelmann, Josef: Die Straßen, die nach und zu MOGONTIACUM führten. 2005. (in: Jahrbuch für westdt. Landesgeschichte, 31) S. 7-48.
- Humpert, Klaus / Schenk, Martin: Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung: Das Ende vom Mythos der „gewachsenen Stadt“. 2001.
- Kneidl, Volker: Rote Kreuze an alten Straßen. Herleitung des Wortes „Rot“ in Toponymen mit besonderer Berücksichtigung der nördlichen Oberpfalz. Pressath 2009. S. 12, 14.
- Leisse, Gisela: Geometrie und Stadtgestalt. Praktische Geometrie in der Stadt- und Landschaftsplanung der Frühen Neuzeit. 2010. Diss. Humbold-Univ. Berlin (Internet: edoc.hu-berlin.de).
- Mattheus, Michael [Hrsg.]: Stadt und Wehrbau im Mittelrheingebiet. 2003. (Mainzer Vorträge 7).
- Mötsch, Johannes: Das Hochstift Speyer und der Verlust des Lehens Kreuznach an die Grafen von Sponheim. 1988. (In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz, 86) S. 59-77.
- Mötsch, Johannes: Die Lehnsleute der Grafen von Sponheim und ihre Kreuznacher Burglehen. 1990. (In: Landeskundliche Vierteljahrsblätter, 36) S. 181-186.
- Nierstein: Beiträge zur Geschichte und Gegenwart eines alten Reichsdorfes. Alzey: Rheinhess. Druchwerkstätte,1992.
- Nitz, Hans-Jürgen: Siedlungsgeographische Beiträge zum Problem der fränkischen Staatskolonisation im süddeutschen Raum. 1963. (In: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie, 1963.1)
- Schomburg, Walter: Lexikon der deutschen Steuer- und Zollgeschichte. Abgaben, Dienste, Gebühren, Steuern, Zölle von den Anfängen bis 1806.1992 (Königszinser S. 205 / Osterstufe S. 271 / Reichsgut S. 299).
- Seibrich, Wolfgang: Die Entwicklung der Pfarrorganisation im linksrheinischen Erzbistum Mainz: Gesellschaft f. mittelrh. Kirchengeschichte, 1977. (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, 29)
- Seibrich, Wolfgang: Die katholische Kirchengemeinde Bad Kreuznach von den Anfängen bis zur Gründung der Pfarrei Heilig-Kreuz. 1997. (in: Heilig-Kreuz-Kirche Bad Kreuznach) S. 13-71.
- Staab, Franz: Untersuchungen zur Gesellschaft am Mittelrhein in der Karolingerzeit. 1975. (Geschichtliche Landeskunde, 11)
- Staab, Franz: Zur Organisation des früh- und hochmittelalterliche Reichsgutes an der unteren Nahe. 1980. (in: Geschichtliche Landeskunde, 21) S. 1-29.
- Untermann, Matthias: Planstadt, Gründungsstadt, Parzelle. Archäologische Forschung im Spannungsfeld von Urbanistik und Geschichte. Einführende Bemerkungen. (Homepage der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit e.V. www.dgamn.de)
- Velten, Carl: Entstehung und Inhalt der Verfassung der sponheimischen Stadt Kreuznach. 1964. (Textauszüge)
- Vogt, Werner: Altstadt – Neustadt – Neue (Wohn-)Stätte – Neue Hofstätte. Stadtnamen und ihre Bedeutung am Beispiel Bad Kreuznachs. (Bad Kreuznacher Heimatblätter, 2000.1)
Darüber hinaus stehen alle stadtgeschichtlichen Werke in der HWZB zur Verfügung. (Heimatwissenschaftliche Zentralbibliothek des Landkreises Bad Kreuznach, 55543 Bad Kreuznach, Hospitalgasse 6)
Tel.: 0671/27571 Email: julius.reisek@kreis-bad-kreuznach.de
Öffnungszeit: Di/Do 15-17 Uhr; Mi/Fr. 10-12 Uhr)
Weiterführende Untersuchungen sind in Vorbereitung.
Erstellt: 21.01.2014
Anmerkungen:
- Velten: Sponheimer Chronik, S. 229 Zurück
- 1977.11-12. Zurück
- Reiniger: Landkarten und Ortspläne, S. 46. Zurück
- Geib, Karl: Historische Topographie von Kreuznach. II. Teil. Bad Kreuznach 1929, S. 66. Zurück
- Vogt, Werner: Eine Urkunde zur Stadtgeschichte von Kreuznach aus dem 13. Jahrhundert (Hbl. 1962.10.11), Mötsch: Regesten. Zurück
- Velten, Carl: Entstehung der Verfassung der sponheimischen Stadt Kreuznach. 1964. S. 95 / Originaltext s. Kohl, O.: Eine die Stadt Kreuznach betreffende Urkunde des Pfälzischen Kurfürsten Philipp 1495... 1916. Zurück