Nastätten im Rhein-Lahn-Kreis

Jüdische Gemeinde Nastätten

Der älteste erhaltene Schutzbrief für einen in Nastätten wohnhaften Juden stammt aus dem Jahr 1654. Ab diesem Zeitpunkt stieg die Zahl der jüdischen Bewohner zunächst kontinuierlich an. 1664 sind drei jüdische Haushalte nachweisbar, 1695 bereits neun und im Jahr 1720 lebten 13 jüdische Familien mit insgesamt 57 Angehörigen in Nastätten. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts schwankte die Zahl der jüdischen Familien zwischen 14 und 16. 1819 können 13 und 1829 18 Haushalte nachgewiesen werden.[Anm. 1]

Zu dieser Zeit hatte die jüdische Gemeinde von Nastätten eine besondere Bedeutung für die jüdischen Gemeinden der Umgebung, da sich hier der Sitz des Bezirksrabbinates der Grafschaft Katzenelnbogen mit den Amtsbezirken Nastätten, Langenschwalbach und St. Goarshausen befand. 1830 verlegte der damalige Rabbiner Samuel Wormser seine Wohnung und Amtssitz nach Langenschwalbach und so verlor die Gemeinde die Funktion als Bezirksrabbinatssitz.[Anm. 2]

Die Gemeinde beschäftigte allerdings weiterhin einen Lehrer, der zugleich die Aufgaben eines Vorbeters und Schächters ausführte. Ab etwa 1875 hatte diese Stelle für über 60 Jahre Gustav Mannheimer inne und prägte damit die Gemeinde.[Anm. 3]

Im Oktober des Jahres 1865 erlebte die Jüdische Gemeinde Nastätten einen Höhepunkt des Gemeindelebens. Eine neue Thorarolle wurde eingeweiht und mit einer feierlichen Prozession vom Hause der Stifterfamilie Oppenheimer zur Synagoge gebracht. Euphorisch berichtete die Zeitschrift "Der Israelit" am 25. Oktober 1865 von den Feierlichkeiten. „[…] Schon Tags zuvor waren viele Hände beschäftigt, um Vorbereitung zur würdigen Feier des Tages zu treffen. Fahnen wurden ausgehängt, Girlanden gewunden, passende Transparente angefertigt, Illuminationen etc. vorbereitet. Wahrlich, ein erhebender Moment war es für uns, die herrliche von Herrn J. Lissauer aus Ungedanken angefertigte Sefer Tora in ihrem Heichal, umgeben von Lichterglanz und Blumenduft, zu sehen. Wenn es überhaupt möglich ist, die Tora, diesen unseren schönsten Schmuck, durch äußeren Reiz noch zu verschönern, so hat Herr G. Oppenheimer diese Aufgabe erfüllt. Haufenweise strömten Beschauer herbei, um die herrliche, in völligem Blütenschmuck stehende Tora zu sehen. […]“[Anm. 4]

Ab Mitte der 1860er Jahre sank die Zahl der jüdischen Einwohner Nastättens. Wurden in diesem Jahr noch 18 Familien mit insgesamt 91 Angehörigen registriert, so waren es 1871 nur noch 78, 1895 72 und 1900 67.

Doch trotz der abnehmenden Zahl der Gemeindemitglieder, entschlossen sich die Nastättener Jüdinnen und Juden zum Neubau einer Synagoge, die im Jahr 1904 eingeweiht werden konnte.

Einer kurzen Steigerung der jüdischen Einwohnerschaft auf 77 im Jahr 1905, folgte eine weiteres Sinken auf 70 im Jahr 1910 und 54 im Jahr 1925.[Anm. 5]

Nastätten wurde im Jahr 1926 Schauplatz einer antisemitisch motivierten Auseinandersetzung. Über den Hergang berichte die Artikel in der "Jüdischen Wochenzeitung für Wiesbaden und Umgebung" am 9. März 1927: „[…] Der jüdische Landwirt Hermann Hennig aus Nastätten im Taunus [hatte] eine Versammlung in das dortige Hotel Guntrum einberufen mit dem Thema 'Das wahre Gesicht der Nationalsozialisten'. Als Redner waren Geistliche verschiedener Konfessionen vorgesehen. Auf die Ankündigung der Versammlung in der Zeitung waren Hakenkreuzlergruppen aus Köln, Neuwied, Koblenz, Wiesbaden und anderen Orten mit Lastautos herbeigeeilt, um gegen die Veranstaltung zu demonstrieren. Die Versammlung wurde aber noch vor ihrem Beginn von den anwesenden Landjägern wegen Überfüllung des Saales verboten, worauf sich die Teilnehmer ins Freie begaben und der nationalsozialistische Gauleiter des Bezirks Rheinland, der bekannte Dr. Ley, von einem Auto herab eine Rede hielt, die mit den Worten schloss: 'Nassauer Bauern, verteidigt euer Eigentum, und wenn es mit der Mistgabel sein müsste'. Die Erregung, die alle Teilnehmer erfasst hatte, führte zu Wortgefechten und schließlich zu Tätlichkeiten, in den Verlauf sowohl der Einberufer der Versammlung, Hennig, einen tritt vor den Bau erhielt, als auch zwei andere Juden aus der Umgebung Nastättens verprügelt wurden. Hennig, der sich in das Hotel Guntrum begeben hatte, sah, wie ein Nationalsozialist auf einen Juden einschlug und versetzte deshalb vom Fenster aus einem Angreifer mit der Faust einen Hieb. Dieser Schlag war das Signal für einen Sturm auf das Hotel, in dessen Verlauf die bedrängten Landjäger von der Waffe Gebrauch machten und dabei einen jungen Nationalsozialisten tödlich trafen. Wegen dieser Vorfälle hatte die Staatsanwaltschaft Wiesbaden Anklage gegen 18 Nationalsozialisten wegen Landfriedensbruch und gegen Hennig wegen gefährlicher Körperverletzung erhoben.“ Das aus dem Prozess hervorgegangene Urteil stellte der Artikel wie folgt dar: „Das Urteil lautete für elf Angeklagte auf je sechs Monate Gefängnis mit Bewährungsfrist nach Verbüßung von 1-3 Monaten der Strafe, für sieben Angeklagte auf Freisprechung und für Hennig auf Einstellung des Verfahrens unter Überbürdung der Kosten auf die Staatskasse. In der Begründung führte der Vorsitzende aus, dass entsprechend dem Vortrag sämtlicher Verteidiger nur auf die Mindeststrafe erkannte worden sei, um die Angeklagten nicht zu Märtyrern zu stempeln und keine neue Verbitterung zu schaffen, sondern das friedliche Zusammenleben zu fördern.“ Der Artikel schließt mit dem Wunsch, „[…] dass durch die Reinigung der Atmosphäre, die der Prozess zweifellos gebracht hat, die politischen Gegensätze in Nastätten und Umgebung in Zukunft nicht mehr Formen annehmen werden, die das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsklassen beeinträchtigen.“[Anm. 6]

Dieser Wunsch sollte sich für die 46 Jüdinnen und Juden, die im Jahr 1933 noch in Nastätten lebten, nicht erfüllen. 1937 wurden die Fenster der Synagoge von Unbekannten eingeschlagen und während der Reichspogromnacht im Jahr 1938 wurde nicht nur das Mobiliar der Synagoge zerstört, sondern auch alle noch in der Nastätten lebenden Jüdinnen und Juden dort zusammengetrieben.[Anm. 7]

Von den 46 Jüdinnen und Juden, die 1933 noch in Nastätten lebten, verstarb eine Person, es handelt sich um den Lehrer Gustav Mannheimer, in Nastätten, 17 flüchteten von Nastätten aus ins Ausland und die übrigen verzogen innerhalb Deutschlands. Die letzte Abmeldung stammt aus dem Jahr 1941.[Anm. 8]

Das "Gedenkbuch - Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945" nennt 26 Menschen, die in Nastätten geboren wurden, beziehungsweise länger hier lebten, und im Holocaust ermordet wurden.[Anm. 9]

In Nastätten erinnert heute eine Gedenktafel am ehemaligen Standort der Synagoge an die jüdische Geschichte der Stadt. Außerdem stellt das Regionalmuseum "Leben und Arbeiten" in Nastätten die im Jahr 1865 festlich eingeweiht, 1938 während der Pogromnacht verschwundene und im Jahr 2013 wieder aufgetauchte Thorarolle aus.[Anm. 10]

Synagoge

Die erste bekannte Synagoge Nastättens befand sich im Haus des jüdischen Rabbiners Gustav Oppenheimer an der Ecke Römer-/Poststraße. Als die dort vorhanden Räumlichkeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr ausreichten, beschloss die jüdische Gemeinden einen repräsentativen Neubau mit Mikwe zu errichten. Der Baugesuch wurde im Jahr 1902 eingereicht und das Eckgrundstück Rheinstraße/Brühlstraße erworben. Zwei Jahre später, am 29. und 30. Juli 1904 wurde die nach Plänen des Nastättener Architekten Christian Schuck errichtete Synagoge feierlich eingeweiht. Anlässlich dieser Einweihung berichtet der Rhein- und Lahnanzeiger: „Die rege Anteilnahme der Einwohner Nastättens, gleichviel welcher Konfession sie angehören, liefert den sprechensten Beweis, daß [sic.] sie alle stets darauf bedacht sind, das Ihre zur Wahrung des religiösen Friedens innerhalb der Stadtmauern und auch darüber hinaus, beizutragen.“[Anm. 11]

Die neue Synagoge, deren Gestaltung an zeitgenössische Kirchen erinnerte, aber dennoch, auch in gestalterischen Details, auf ihre Funktion als jüdischer Ritualbau verwies, war ein Saalbau aus Bruch- und Ziegelmauerwerk. Die Giebelseite war mit einem schlichten Davidstern versehen. Der fast quadratische Betsaal besaß 48 Sitzplätze für Männer und weitere 32 auf der Empore für Frauen. Der vergoldete Thoraschreien wurde von zwei Säulen umrahmt und konnte durch zwei rundbogige Türen verschlossen werden. In einem Giebelfenster wurden die Gesetzestafeln eingelassen. Ein großes Rundfenster, welches auf die Straßenseite hinausging, war mit einem in die Verglasung hineingearbeiteten Davidstern geschmückt.[Anm. 12]

Die Synagoge bildete 34 Jahre lang das Zentrum des Gemeindelebens der jüdischen Gemeinde. Zu ersten Zerstörrungen kam es im Jahr 1937. Unbekannte schlugen die Fenster der Synagoge ein. Die nun leeren Fensteröffnungen wurden mit Tüchern und Papier verhängt, da sich die jüdische Gemeinde vor einer Wiederholung der Tat fürchtete und deshalb keine Erneuerung der Fenster vornahm. Während der Reichspogromnacht am 10. November 1938 zerstörten SA-Männer die Einrichtung der Synagoge vollständig und trieben die jüdischen Einwohner Nastättens in der Synagoge zusammen. Bald nach diesen Ereignissen wurde das Gebäude verkauft und im März 1939 abgerissen. Der ehemalige Standort der Synagoge wurde als Parkplatz genutzt. Seit 1987 erinnert eine Gedenktafel an den Standort der Nastättener Synagoge.[Anm. 13]

Friedhof

Im Oranienwäldchen an der Diethardter Straße liegt der jüdische Friedhof Nastättens. Da er schon im Jahr 1664 eingerichtet wurde, finden sich im alten Teil des Friedhofs noch Grabsteine mit einsprachigen Inschriften auf Hebräisch. Über 200 Jahre wurden hier Jüdinnen und Juden beerdigt. Die jüngsten der insgesamt sind 67 Grabsteine stammen aus der Anfangszeit des 20. Jahrhunderts.[Anm. 14]

Nachweise

Verfasserin: Lisa Groh-Trautmann

Quellen und Literatur:

  • Arnsberg, Paul: Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn. Darmstadt 1971. Bd. II S. 102.
  • Bundesarchiv (Hg.): Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945. Koblenz 2006. Online verfügbar unter: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/intro.html.de. [Aufgerufen am: 19.07.19].
  • Der Israelit. Centralorgan für das orthodoxe Judentum. (25. Juni 1936). Online verfügbar unter: http://www.alemannia-judaica.de/nastaetten_synagoge.htm. [Aufgerufen am: 23.08.2019].
  • Heyeckhaus, Norbert A.: Jüdische Friedhöfe im Rhein-Lahn-Kreis. Eine fotografischen Gesamtdokumentation aller jüdischen Friedhöfe im gesamten Rhein-Lahn-Kreis (= Jewish Cemeteries in Germany, Vol. 3), 2 CD-ROM; Verlag Friedhof und Denkmal, 1. Auflage Altendiez 2004/05.
  • Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz/Staatliches Konservatoramt des Saarlandes/ Synagogue Memorial Jerusalem (Hg.): "...und dies ist die Pforte des Himmels". Synagogen in Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Mainz 2005. S. 281f.

Erstellt am: 18.11.2021

Anmerkungen:

  1. Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz/Staatliches Konservatoramt des Saarlandes/ Synagogue Memorial Jerusalem (Hg.): "...und dies ist die Pforte des Himmels". Synagogen in Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Mainz 2005. S. 280. Zurück
  2. Paul Arnsberg: Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn. Darmstadt 1971. Bd. II S. 101. Zurück
  3. Der Israelit. Centralorgan für das orthodoxe Judentum. (25. Juni 1936). Online verfügbar unter: http://www.alemannia-judaica.de/nastaetten_synagoge.htm. [Aufgerufen am: 23.08.2019]. Zurück
  4. Der Israelit. Centralorgan für das orthodoxe Judentum. (25. Oktober 1865).  Online verfügbar unter: http://www.alemannia-judaica.de/nastaetten_synagoge.htm. [Aufgerufen am: 23.08.2019]. Zurück
  5. Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz/Staatliches Konservatoramt des Saarlandes/ Synagogue Memorial Jerusalem (Hg.): "...und dies ist die Pforte des Himmels". Synagogen in Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Mainz 2005. S. 280f.  Zurück
  6. Jüdischen Wochenzeitung für Wiesbaden und Umgebung. (9. März 1927). Online verfügbar unter: http://www.alemannia-judaica.de/nastaetten_synagoge.htm. [Aufgerufen am: 23.08.2019]. Zurück
  7. Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz/Staatliches Konservatoramt des Saarlandes/ Synagogue Memorial Jerusalem (Hg.): "...und dies ist die Pforte des Himmels". Synagogen in Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Mainz 2005. S. 2801. Zurück
  8. Paul Arnsberg: Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn. Darmstadt 1971. Bd. II S. 102. Zurück
  9. Bundesarchiv (Hg.): Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945. Koblenz 2006. Online verfügbar unter: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/intro.html.de. [Aufgerufen am: 19.07.19]. Zurück
  10. Regionalmuseum Leben und Arbeiten Nastätten - Heimatpflegeverein Blaues Ländchen e.V. (Hg.): Regionalmuseum "Leben und Arbeiten". Online verfügbar unter: http://www.museum-leben-und-arbeiten.de. [Aufgerufen am: 19.07.2019]. Zurück
  11. Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz/Staatliches Konservatoramt des Saarlandes/ Synagogue Memorial Jerusalem (Hg.): "...und dies ist die Pforte des Himmels". Synagogen in Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Mainz 2005. S. 281. Zurück
  12. Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz/Staatliches Konservatoramt des Saarlandes/ Synagogue Memorial Jerusalem (Hg.): "...und dies ist die Pforte des Himmels". Synagogen in Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Mainz 2005. S. 281f. Zurück
  13. Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz/Staatliches Konservatoramt des Saarlandes/ Synagogue Memorial Jerusalem (Hg.): "...und dies ist die Pforte des Himmels". Synagogen in Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Mainz 2005. S. 281. Zurück
  14. Paul Arnsberg: Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn. Darmstadt 1971. Bd. II S. 102 und  Zurück