Rheinhessen

0.Gotik in Rheinhessen

0.1.Die Gotik

Der italienische Kunsttheoretiker Giorgio Vasari prägte um 1550 den Begriff "Gotik". Er bezeichnete damit die Kunst des Germanenstammes der Goten, die er verachtete. Dieser "Kunst des Nordens" gehe jegliche Harmonie verloren, sie sei Durcheinander und Unordnung, sagte er über sie.
Ihren Ausgang nahm die Gotik in der französischen Île-de-France. Sie entstand "aus der Verschmelzung von normannischen und burgundischen Architekturelementen" (LexMa I, S.1645, Sp.2). Das äußere Merkmal gotischer Architektur, der Spitzbogen, ist Bestandteil der grundsätzlich neuen Bautechnik des Skelettbaus. Dieser ermöglichte die Errichtung immer größerer, durch großflächige Maßwerkfenster erhellter Kirchen. Zu den neuen Architekturteilen treten neben Spitzbogen und Maßwerkfenster das Kreuzrippengewölbe und das Strebewerk. Sie ermöglichen eine starke Höhenentfaltung, neue Grundrissformen, die nicht mehr an das Quadrat gebunden sind, sowie eine weitgehende Auflösung der Mauer in Fenster, Tore und steinernes Schmuckwerk.
Grundsätzlich unterscheidet man in der Epoche der Gotik drei Phasen:

- frühgotisch   1235-1250
- hochgotisch  1250-1350
- spätgotisch  1350-1520.

In dieser Artikelserie werden Ihnen einige früh-, hoch- und spätgotische Kirchen Rheinhessens vorgestellt. Die unten stehende Liste erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und kann jederzeit erweitert werden. Wir freuen uns immer über hilfreiche Hinweise. Neugotische Kirchenbauten und auch Kirchen, in denen sich nur noch gotische Überreste befinden, wie z.B. ein gotischer Chor, wurden bewusst nicht in die Artikelserie aufgenommen. 

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1.Gotische Mariendarstellungen

Mainz-Marienborn, Gnadenbild

Die Ausstattung der gotischen Kirchen hat sich im Laufe der Jahrhunderte stark verändert. Es hat sich aber eine erstaunlich große Anzahl teilweise hervorragender Marienskulpturen erhalten. Von ihrer Verehrung zeugen auch die Wallfahrten zu den Gnadenbildern nach Mainz-Marienborn oder Sörgenloch. Einige Skulpturen wurden in spätere Bauten übertragen. Die Marienbilder stehen bzw. standen stets innerhalb eines architektonischen Rahmens und nicht isoliert. Oftmals wurden in der Barockzeit, später dann auch in neugotischer Form, neue Altaraufbauten für diese Skulpturen geschaffen.


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1.1.Stilistische Entwicklung

Muttergottes mit Kind, Ockenheim, um 1430

Die Marienfiguren des frühen 14. Jahrhunderts erscheinen sehr blockhaft und besitzen noch wenig Körperlichkeit. Der Körper zeichnet sich kaum unter dem Gewand ab. Gewand und Körper bilden eine Einheit. Das Jesuskind ist nicht als nackter Knabe dargestellt, sondern trägt ein langes Gewand. Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts gewinnen die Mariendarstellungen eine größere Lebensnähe, indem die Beziehung von Mutter und Kind inniglicher gezeigt ist. Bisweilen scheinen sie fast miteinander ins Spiel vertieft zu sein. Der Jesusknabe wird als Kind und nicht mehr als kleiner Erwachsener dargestellt. Einen besonderen künstlerischen Höhepunkt innerhalb der Spätgotik bilden um 1400 die sogenannten „schönen Madonnen“ des weichen Stils (auch „internationale Gotik“). Hier gewinnt die Gewandung ein starkes Eigenleben, so dass die Darstellung der Körper der feingliedrigen Figuren dahinter zurücktritt. Die Stofflichkeit der Gewänder, die durch weiche, teigige Falten gegliedert sind, wird in reicher Abwechslung und Bewegtheit gezeigt und bildet regelrechte Faltenkaskaden aus. Im weiteren Verlauf der Spätgotik werden die fließenden Falten der Gewänder gebrochen. Die Gewandbehandlung zeichnet sich neben den eckigen, scharfbrüchigen Falten auch durch sehr tief angelegte Furchen und Durchschluchtungen aus. Sie kann in der Verselbständigung einzelner Gewandteile gipfeln, wobei eine komplexe Auffassung der Figur jedoch gewahrt bleibt. Es läßt sich ein gewisser „Naturalismus“ beobachten, der wiederum aber überzeichnet sein kann. Er ist mehr in anatomischen Details und der Zuwendung der Personen untereinander festzumachen als an einer manierierten Faltengebung und Verschiebung der Körperproportionen.

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1.2.Die Künstler

sog. "Schöne Mainzerin" im Marienaltar des Mainzer Domes, um 1510

In den wenigsten Fällen sind die Namen der teilweise herausragenden Bildhauer und Bildschnitzer überliefert. Die Skulpturen tragen keine Künstlersignaturen. So werden die Bildhauer mit Notnamen belegt oder nach der Werkstatt benannt, wie der sogenannte "Meister mit dem Brustlatz" und die Werkstatt des Hans Backoffen. Auch über die Organisation der Werkstätten ist wenig bekannt. Eine Zuschreibung der Skulpturen an einen gemeinsamen Meister muss über stilistische Kriterien erfolgen. Auch wenn sich immer wieder Verbindungen zu Mainz ergeben, lässt sich keine Schule oder ein regionales Zentrum ausmachen, von dem aus die Bildhauer stilbildend gewirkt haben. Gerade für das späte 15. Jahrhundert zeigt sich aber, dass sehr viele auswärtige, voneinander unabhängige Künstler für Rheinhessen gearbeitet haben. Als eine gemeinsame Quelle der spätgotischen Künstler kann der „Oberrhein“ angesehen werden, wo verschiedene Kulturen und unterschiedlichste künstlerische Strömungen aufeinandertrafen. Die Vielzahl von Madonnen, die gegen Ende des 15. Jahrhunderts entstanden sind, belegen die hohe Produktivität und Qualität der Skulptur am Oberrhein, was das Gebiet Rheinhessens einschließt. Entscheidenden Einfluss auf diese Blütezeit hatte der Bildhauer Nicolaus Gerhaert von Leyden (um 1420/30-1473), dessen Arbeiten sich von Trier über Straßburg bis nach Wien verfolgen lassen – eine enge Verbindung zu Straßburg lässt sich auch für die Wormser Bildhauer dieser Zeit belegen. Ein Nachklang seines Wirkens und des von ihm angestoßenen Stilumbruchs in der oberrheinischen Skulptur spiegelt sich in einigen der erhaltenen Madonnenfiguren Rheinhessens. Die Figuren gewinnen an räumlicher Tiefe und Lebendigkeit, die sich auch in den scharfkantig gebrochenen Faltengraten und Gewandfurchen zeigt. Daneben finden sich auch eher konservative Skulpturen, die sich aber in besonderer Innigkeit der Beziehung von Mutter und Kind auszeichnen können.

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1.3.Die Materiailen

Sörgenloch, Gnadenbild, um 1420

Nur wenige der Skulpturen sind aus Stein gearbeitet. Bei dem überwiegenden Teil handelt es sich um Holzskulpturen, die für den Kircheninnenraum bestimmt waren. Das bevorzugte Material der Bildschnitzer ist das helle Lindenholz. Es ist relativ weich und weist eine gleichmäßige Dichte auf, so dass es sich sehr gut bearbeiten lässt. Eine Sonderstellung nehmen die sehr qualitätvollen, aus Ton gefertigten Plastiken ein. Die Tonplastik erlebte zwischen 1410-1440 eine Blütezeit am Mittelrhein, aber auch in Schwaben, Bayern und Franken. Die Figuren können frei aufmodelliert sein oder mithilfe von Modeln hergestellt werden. Das Material entspricht dem Zeitstil in besonderer Weise, da es erlaubt, weiche Stoffe zu formen und der Oberfläche Details zu geben, die in der Bildschnitzerei erst durch die Fassung erreicht werden können.

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1.4.Ikonographie

Schutzmantelmuttergottes Mainz-Finthen

Die in Rheinhessen vertretenen Marienfiguren zeigen überwiegend Maria mit Kind, sei es sitzend (sedes sapientiae) oder stehend. Daneben sind auch andere ikonographische Themen zu finden.

Das Vesperbild, Maria hält ihren toten Sohn im Schoß, hat seinen Ursprung im 14. Jahrhundert in Deutschland.- Die Geschehnisse der Passion Christi wurden auf die Tageszeiten des Stundengebetes verteilt, Kreuzabnahme und Grablegung dabei der Vesper zwischen 17 und 19 Uhr zugewiesen. – In der Spätgotik war das Vesperbild ein beliebtes Thema, da die Darstellung des Schmerzes einer Dramatisierung von Gestik und Mimik in der Skulptur entgegenkam. Als „Pietà“ hat es Eingang in die italienische Kunst gefunden.

Auch die Schutzmantelmuttergottes ist eine deutsche Bildschöpfung aus gotischer Zeit. Die stehende Maria breitet ihren Mantel aus und gewährt den darunter knienden oder stehenden Menschen ihren Schutz. In Mainz-Finthen ist es vielleicht die Stifterfamilie, nach Männern und Frauen getrennt, die aufgrund ihrer Trachten verschiedenen (geistlichen) Ständen und Altersstufen zuzuordnen sind. Auch in Dienheim ist eine gotische Schutzmantelmuttergottes in einer Wandmalerei aus der Mitte des 15. Jahrhunderts erhalten.

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Kreuzszeptermadonna, Karmeliterkirche Mainz

Die Kreuzszeptermadonnen in der Mainzer Karmeliterkirche, im Landesmuseum (Korbgassenmadonna), in Mainz-Marienborn und Ockenheim schließlich bilden eine eigene ikonographische und auch z.T. stilstisch zusammenhängende Gruppe. Maria hält nicht nur den Jesusknaben auf dem Arm, sondern auch ein von Weinlaub oder Rosen umranktes, von einem Pelikan bekröntes Kreuzszepter, an dem Engelchen das aus den Wunden fließende Blut Christi in Kelchen auffangen. Dahinter steht die von den Kirchenvätern entwickelte Vorstellung der mystischen Kelter. Wie die Traube in der Kelter gepresst wird, so spendet Christus sein Blut, das er in seinem Leiden vergießt und das in der Eucharistie in Wein gewandelt dargeboten wird.


Hausmadonna am "Haus zum Korb", Mainz, Am Brand 6[Bild: Luzie Bratner]

Eine Besonderheit bilden die Hausmadonnen, wie sie noch heute in großer Zahl in Mainz zu finden sind. Diese Tradition, sein Haus unter den besonderen Schutz der Gottesmutter zu stellen, reicht bis ins 14. Jahrhundert zurück. Ein Großteil der noch erhaltenen Mainzer Hausmadonnen aus gotischer Zeit ist im Landesmuseum ausgestellt. An einigen Häusern sind Kopien der originalen Skulpturen angebracht (so z.B. am "Haus zum Korb"). Zumeist sind sie in einer Nische oder auf einer Konsole, überdacht von einem Baldachin, auf Höhe des ersten Obergeschosses plaziert.


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1.5.Übersichtskarte der Gotischen Madonnen in Rheinhessen

Wenn Sie in der Karte auf die orangefarbene Sprechblasen klicken, erhalten Sie eine Kurzinformation, um welche Madonna in welcher Kirche es sich handelt. Über den Link in der Infobox kommen Sie dann auf die Seiten der Kirchen.

Eine Übersichtliste finden Sie unterhalb der Karte.


Größere Kartenansicht

1.5.1.Rundgang: Gotische Madonnen

  • Alsheim, Kath. Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt, Muttergottes, um 1460
  • Appenheim, Kath. Pfarrkirche St. Michael, frühgotisches Vesperbild
  • Biebelnheim, Kath. Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt, Muttergottes, um 1470
  • Bingen, Kath. Basilika St. Martin, Muttergottes, um 1320
  • Bingen-Dietersheim, Kath. Pfarrkirche St. Gordianus und Epimachus, Muttergottes, um 1460
  • Bodenheim, Kath. Pfarrkirche St. Alban, Gnadenbild aus der Wallfahrtskapelle Maria Oberndorf, Anf. 16. Jh.
  • Gau-Bischofsheim, Kath. Pfarrkirche St. Petrus in den Ketten, Muttergottes, um 1320
  • Gundersheim, Kath. Pfarrkirche St. Remigius, Muttergottes, um 1480
  • Hessloch, Kath. Pfarrkirche St. Jakob, spätgotische Muttergottes aus der Gnadenkapelle
  • Mainz, St. Antonius, ehem. Armklarenkirche, Muttergottes, 1. Hälfte 14. Jh.
  • Mainz, Augustinerkirche, Gnadenbild aus Liebfrauen, um 1420
  • Mainz, Dom St. Martin und Stephan, „Schöne Mainzerin", um 1510; "Madonna der Palästinafahrer" 1484 (Kopie am Liebfrauenplatz 10/Ecke Liebfrauenstraße)
  • Mainz, Karmeliterkirche, Kreuzszeptermadonna, um 1400
  • Mainz, St. Quintin, Vesperbild aus St. Christoph, um 1470
  • Mainz, Hausmadonnen: Am Brand 6, „Haus zum Korb“, um 1320/40 (eine weitere Kopie am ehem. Rathaus in Mainz-Finthen); Fuststr. 13, „Madonna mit der Scherbe“, um 1415 (Kopie der Hallgartener Madonna); Gaustr. 1, spätmittelalterliche Beweinung Christi aus der Gautorwache; Holzhofstr. 6; Karmeliterplatz 3, um 1370; Kirschgarten 26-38, 14. Jahrhundert, Kopie nach dem Original in Kloster Allerheiligen/Schwarzwald; Korbgasse 3 (zur Zeit nicht aufgestellt), Kreuzszeptermadonna, um 1405; Rochusstr. 11, um 1470, Hans Eseler zugeschrieben; Weintorstr. 11-13, um 1450.
  • Mainz-Finthen, Kath. Pfarrkirche St. Martin, Schutzmantelmuttergottes, Anf. 16. Jh.
  • Mainz-Marienborn, Kath. Pfarr- und Wallfahrtskirche St. Stephan, Gnadenbild „Trösterin der Betrübten", um 1420; Kreuzszeptermadonna, um 1430
  • Nieder-Olm, Kath. Pfarrkirche St. Georg, Muttergottes, um 1500
  • Ober-Olm, Kath. Pfarrkirche St. Martin, Vesperbild, um 1520
  • Ockenheim, Kath. Pfarrkirche St. Peter und Paul, Kreuzszeptermadonna, um 1430
  • Sörgenloch, Kath. Pfarrkirche Mariä Opferung, Gnadenbild, um 1420
  • Wachenheim, Ev. Pfarrkirche, Marienaltar, 1489
  • Weinheim, Kath. Pfarrkirche St. Gallus, Muttergottes, um 1410
  • Worms, Kath. Pfarrkirche Liebfrauen, Gnadenbild, um 1260; Muttergottes, um 1400; Schutzmantelmuttergottes, um 1460; Muttergottes, um 1360 (am Bau des ehem. Kapuzinerklosters)
  • Worms, Stiftskirche St. Martin, Muttergottes, Ende 13. Jh.
  • Worms-Horchheim, Heiligkreuzkirche, moderne Kopie einer verlorenen Muttergottes, Anf. 15. Jh.
  • Worms-Rheindürkheim, Simultankirche, Muttergottes, Anf. 15. Jh.

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Verfasser "Mariendarstellungen": Luzie Bratner

Verwendete Literatur:

  • Andrea Arens, Skulpturen des 13. bis 15. Jahrhunderts im Landesmuseum Mainz (Museum im Taschenformat, 2), Mainz 1997
  • Gutenberg. Aventur und Kunst, Ausstellungskatalog, hrsg. von der Stadt Mainz, Mainz 2000
  • Dieter Krienke, Kreis Mainz-Bingen (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz, 18.1), Worms 2007
  • Wolfgang Riedel, Der Meister mit dem Brustlatz, Beiträge zum Werkkatalog eines mittelrheinischen Bildhauers der Spätgotik, in: Mainzer Zeitschrift 71/72, 1976/77, S. 140-149
  • Robert Suckale (Hg.), Schöne Madonnen am Rhein, LVR-Landesmuseum Bonn, Leipzig 2009
  • Annette Wöhrlin (Hg.) Mainzer Hausmadonnen, Auf den Spuren von 60 Bildwerken, Ingelheim 2008


Erstellt: 31.03.10