Selzen in Rheinhessen

Der keltische Römerstein von Selzen

von Volker Schätzel

Die erste urkundliche Erwähnung des Ortes Selzen reicht in das Jahr 782 n. Chr. zurück. Darüber berichtet die informative und übersichtliche Ortschronik, die anlässlich der 1.200 Jahr-Feiern erschienen ist.

Nach verschiedenen Funden erster Siedlungen aus der Jungsteinzeit, aus der sogenannten „Hinkelsteinkultur“, aus der Bronzezeit, der Eisenzeit und der Römerzeit stammt der interessanteste und anschaulichste Kulturzeuge wohl aus dem ersten Jahrhundert nach Christus, aus der sogenannten „Claudischen Zeit“:

Es ist jetzt genau siebzig Jahre her, dass in Selzen im Jahr 1935 bei der Regulierung der Selz der bedeutendste Fund aus seiner Geschichte entdeckt wurde. Ich war damals Schüler der fünften Klasse des Alzeyer Gymnasiums. Auf meinem Weg zum Bahnhof konnte ich täglich die Ausbauarbeiten des neuen Selzbettes beobachten. Auf einmal stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass die Arbeiten eingestellt waren. Das erregte meine Neugier, und ich sah dann, wie ganz in der Nähe der Bahnbrücke eine Gruppe interessierter Leute zwei große Kalksteine mit Reliefbildern auf dem Grund des neu ausgehobenen zukünftigen Selzbachbettes bestaunten und inspizierten.

Von meinen Eltern erfuhr ich dann, dass diese interessierten Leute der Direktor und weitere Fachleute des Landesmuseums in Mainz waren. Diese Experten kamen zu der Aussage, dass es sich bei diesen Sandsteinen um römische Grabsteine aus der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts nach Christus handele, die damals vermutlich in einer Mainzer Steinmetz-Werkstatt hergestellt worden waren.

Auf den Steinen sind drei Figuren dargestellt: rechts und links je eine Frau und in der Mittein Mann. Alle tragen eine keltische Tracht. Daraus lässt sich schließen, dass der Auftraggeber aus einer reichen Keltenfamilie stammte, die schon in einem solchen Maß römische Sitten angenommen hatte, dass sie ihre Toten nach römischem Brauch mit einem Grabstein ehrte.

Am Fundort darf eine Furt im ehemaligen Bachlauf der Selz angenommen werden. Vermutlich wurde diese Furt mit Hilfe dieser großen Steine ausgebaut und befestigt. Wann dieses geschehen ist, lässt sich nicht mehr feststellen; am ehesten wohl in spätrömischer Zeit, etwa im vierten Jahrhundert nach Christus. Leider wurden die Steine so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass sich von möglichen Inschriften nur noch wenige Spuren erhalten haben.

Seit dem Fund im Jahr 1935 stehen diese Gedenksteine nun in der Steinhalle im Landesmuseum in Mainz. Dort bin ich ihnen in den vergangenen Jahren bei dem alljährlichen Weinforum der Landwirtschaftskammer Rheinhessen, bei dem die hundert besten Weine der letzten Weinprämiierung vorgestellt werden, immer wieder begegnet. Dabei ist in mir der Gedanke gereift, eine Kopie des noch am besten erhaltenen Steines anfertigen zu lassen und in Selzen für jeden sichtbar aufstellen zu lassen.

Anlässlich von runden Geburtstagen erbaten Helga, Annemarie und ich Geldspenden anstelle von Geschenken für dieses Projekt; auch bei der goldenen Hochzeit warben wir erneut für dieses Vorhaben. Viele Bürgerinnen und Bürger von Selzen schlossen sich mit großzügigen Spenden dieser Initiative an. Bildhauer Knußmann aus Nackenheim fertigte den Gedenkstein an. Im Rahmen der Selzer Kerb wurde die Nachbildung des keltischen Römersteins von Selzen am 11. September 2005 am Standort Ecke Gaustraße / Kirschgartenstraße derGemeinde übergeben. Ich bin sehr froh darüber, dass ich die gelungene Ausführung dieserIdee gemeinsam mit vielen Menschen in meinem Heimatort erleben konnte.

Frau Dr. Gudula Zeller vom Landesamt für Denkmalpflege in Mainz hielt bei der Einweihung des Gedenksteins am 11. September 2005 einen sehr markanten und interessanten Vortrag, den ich an dieser Stelle wiedergeben möchte:

„Über einer freien Fläche, die sicher einst eine lateinische Inschrift getragen hat, wird eine Personengruppe dargestellt; der obere, wohl muschelförmige Abschluss ist samt dem Kopf der mittleren Figur nicht erhalten.

Der Mann in der Mitte sitzt breitbeinig in dominierender Haltung auf einem Hocker mit fein gedrechselten Beinen. Er trägt ein kurzärmeliges, faltenreiches Gewand, das über die Knie herabfällt, und darüber einen Mantel oder Umhang; das war ein großes rechteckiges Stück Stoff, das er kunstvoll um sich hat drapieren lassen, von der linken Schulter ausgehend unter dem rechten Arm durch und von hinten wieder über die linke Schulter in ganzer Länge bis zur Wade herabfallend. Seine aufrechte Haltung ist die eines stolzen Mannes. Stolz ist er auf den Besitz, den er erarbeitet hat, und den er mit dem Geldbeutel in seiner rechten Hand unter Beweis stellt. Seine linke Hand lässt am kleinen Finger einen Ring erkennen und hält ein Schoßhündchen, das auf seinem Knie hockt: der Hund als treuer Hüter und Begleiter des Menschen. Zwischen den Füssen des Mannes sind noch ganz zart Spuren einer Inschrift zu lesen: …ICTISUS…

Zu seiner Linken steht eine Frau, die sich mit Rock und Spindel in ihrer linken Hand als verheiratete Frau ausweist: sie steht einem Haushalt vor und hat für den Vorrat zu sorgen; ein reicher Wäschevorrat ist bis in unsere Zeit der Stolz jeder wohlhabenden Hausfrau. So dürfen wir sicher sein, dass sie die Ehefrau des sitzenden Mannes war. Sie trägt über einer kurzärmeligen Bluse ein bis auf die Füße herabfallendes Gewand, das in der Taille von einem Gürtel gehalten wird und an den Schultern, sowie auf der Brust mit Fibeln ( = Broschen) festgesteckt ist. Über dieser Art Kleiderrock hüllt sie sich in einen Umhang, der vom Rücken ausgehend einerseits über die linke Schulter herabfällt und andererseits unter dem rechten Arm durch und über den Leib zum linken Unterarm geführt wird Hier hält die Frau beide Stoffkanten fest, die in sorgfältig arrangierten Falten herabfallen. Außerdem trägt sie um den Hals eine Kette mit einem großen runden Anhänger und einen Armreif am rechten Handgelenk.

Auf der rechten Seite des Mannes steht ein Mädchen. Es ist nicht nur kleiner als die Frau, ein Unterschied lässt sich auch in den Frisuren erkennen. Wenn auch von beiden Köpfen kaum etwas erhalten ist, so lässt sich doch feststellen, dass die Frisur der Ehefrau hochgesteckt war, während die Haare der anderen weiblichen Person offen herabfielen. Auch dies ist ein Hinweis darauf dass sie noch ein Mädchen war: also wohl die Tochter. Sie trägt ein weites bis auf die Füße herabfallendes Gewand, das im Gegensatz zum Kleiderrock ihrer Mutter keine Fibeln benötigt. Zudem ist das Mädchen noch in einen Umhang gehüllt. Als Schmuck trägt sie einen Halsreif.

Warum habe ich die Gewänder so genau beschrieben? Sie geben Auskunft Menschen, die sie tragen. Der Kleiderrock der Ehefrau entspricht der keltischen Tracht. Auch die Fibeln, die sich in etwa noch erkennen lassen, gehören zu einem keltischen Typ. Man spricht von den sogenannten „Distelfibeln“. Ebenso weist die Kette mit der Schmuckscheibe auf keltische Formen hin, wie auch der Halsreif der Tochter. Andererseits ist das Gewand der Tochter ohne Fibeln gar nicht mehr keltisch, sondern richtet sich nach der römischen Mode, deren Kleider ganz ohne Fibeln auskamen. Auch der Mann, der zwar nach keltischer Sitte sitzt - ein Römer ließ sich immer stehend darstellen, wie es die beiden Frauen bereits übernommen haben. - hat seine Kleidung der römischen Sitte angepasst: mit seinem als Tunica zu bezeichnenden Gewand und mit einem Umhang, der ähnlich einer römischen Toga drapiert ist.

Wir haben also eine keltische Familie vor uns, die sich schon von der römischen Mode hat beeinflussen lassen hat. Auch die Tatsache, dass sie überhaupt einen Grabstein in Auftrag gegeben hat, geht auf römisches Vorbild zurück.

Gearbeitet wurde der Grabstein in einer römischen, wohl in Mainz ansässigen Werkstatt, von der wir noch andere Grabsteine aus derselben Zeit - etwa dem mittleren Drittel des ersten Jahrhunderts nach Christus - kennen. Ich denke dabei an einen ganz entsprechend gestalteten Stein aus Mainz-Weisenau, der in der gut erhaltenen Inschrift des unteren Teils das dargestellte Ehepaar mit den namen Blussus und Menimane benennt, zwei keltischen Namen. Dieser Blussus ist im Gegensatz zu dem Herrn aus Selzen in keltischer Tracht dargestellt: mit einem über den Kopf zu ziehnden Cape mit Kapuze und mit einem dicken Schal um den Hals.

Um das Umfeld dieser Familie zu beschreiben, muss ein wenig ausgeholt werden: Die Römer Hatten zur Zeit kurz vor Christi Geburt, von Gallien kommend, den Rhein erreicht. In Mainz errichteten sie ein großes Lager für zwei Legionen: insgesamt 12.000 Mann. Dazu muss man als Tross für die Versorgung der Soldaten etwa noch einmal so viele Personen rechnen. Es waren also plötzlich über 20.000 Menschen am Rhein stationiert Diese Menschen mussten alle ernährt und versorgt werden. Um das dafür erforderliche Umfeld zu schaffen, überzogen die Römer das rheinhessische Hinterland mit einem Netz von villae rusticae ( = Gutshöfen), deren Aufgabe es war, Überschuss zu produzieren für die Ernährung der römischen Legionäre. Die ansässige keltische Bevölkerung hat diese Aufgabe wohl gerne übernommen. Einige Familien sind dabei wohl wirklich reich geworden. Sie traten mit der römischen Kultur und Zivilisation näher in Kontakt, übernahmen allmählich dies und jenes von ihren Auftraggebern, veränderten ihre Kleidung, begannen Grabsteine aufzustellen und erlernten die lateinische Sprache und Schrift. In den insgesamt über vier Jahrhunderten unter römischer Herrschaft sind diese Grenzgänger wohl ganz in der neuen und überlegenen römischen Kultur aufgegangen. Somit stehen wir bewundernd vor diesem Grabstein einer keltischen Familie, deren Lebensumfeld schon seit einem halben Jahrhundert von den Römern und ihrer dominierenden Kultur beeinflusst worden war. Wir bewahren dieser Familie ein ehrendes Angedenken. Dies war genau das Ziel und die Idee, weshalb die Familie damals den Grabstein hatte errichten lassen: das Weiterleben in der Erinnerung der Nachfahren!"

Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass die Kulturrebe von den Römern in dieser Zeit hier am Rhein in unserem günstigen Klima für den Weinanbau eingeführt wurde. Man kann davon ausgehen, dass es den römischen Befehlshabern vor allem darum ging, auf einfache Weise ein erhebliches Transportproblem zu lösen, Wenn ihnen der Weinanbau in der Provinz Germania gelang, dann mussten sie die großen Mengen an Wein nicht erst über weite Wege heranschaffen. Denn es war ja bekanntlich so, dass jeder römische Legionär einen Anspruch auf zwei Liter Wein täglich hatte, Dies verstand man damals als "Maßnahme zur Gesunderhaltung !

Nachweise

Verfasser: Volker Schätzel