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Wozu Landesgeschichte?

Oder: Warum regionale Perspektiven in der Geschichte unverzichtbar sind

Von Enno Bünz

Filmbeitrag über die IGL-Jubiläumsfeier mit Ausschnitten des Vortrags.


Fragt man nach der historischen Prägung der deutschen Bundesländer, lassen sie sich grob in zwei Kategorien einteilen: Auf der einen Seite haben wir relativ kompakte Länder wie Bayern, Brandenburg oder Sachsen, die ganz wesentlich durch ein Territorium und eine Dynastie geprägt worden sind, in diesem Fall also durch die Wittelsbacher, Hohenzollern und Wettiner. Auf der anderen Seite stehen die sogenannten Bindestrich-Länder, die schon am Namen als zusammengesetzte neuere Kunstgebilde zu erkennen sind, also Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg oder eben - ich spreche es aus - Rheinland-Pfalz.
                       
Aber was heißt schon Kunstgebilde? Die Beispiele spiegeln - jedes für sich - langfristig gewachsene historische Strukturen wieder. Wenn ein Reisender beispielsweise vor 500 Jahren mit dem Schiff die mittlere Elbe von Dresden bis nach Wittenberg hinab fuhr und sich für die Herrschaftsverhältnisse interessierte, nahm er nichts als das Einerlei der wettinischen Territorialherrschaft wahr. Beiderseits des Flusses lagen das Kurfürstentum und Herzogtum Sachsen. Machte ein Reisender damals aber eine Fahrt auf dem Rhein, sagen wir von Mainz bis Koblenz, was um 1500 nicht nur wegen der Loreley noch wesentlich riskanter war als heute, so wird er sich während der Fahrt gar nicht alle Herrschaften gemerkt haben können, so vielgestaltig war die territoriale Welt beiderseits des Mittelrheins im ausgehenden Mittelalter. Nicht, dass es in diesem Raum an bedeutenden Herrschaftsträgen gefehlt hätte, mit Kurmainz, Kurtrier und Kurpfalz hatten allein drei führende Reichsfürsten Anteil am Mittelrheingebiet (und nicht zufällig bilden ihre Wappen des Landeswappen von Rheinland-Pfalz), aber zwischen diese selbst nicht ganz geschlossenen Territorien schoben sich manche andere fürstliche und geistliche, adlige und am Rande auch reichsstädtische Herrschaftsgebilde.

Aber keine Bange, meine Damen und Herren, ich werde mich jetzt nicht in den Verästelungen der mittelrheinischen Territorialgeschichte und ihren nicht minder komplizierten Veränderungen im Laufe der Jahrhunderte verlieren, zumal die Vorstellung, Landesgeschichte sei vor allem Territorial- und Dynastengeschichte schon seit langem obsolet ist.

Wozu also Landesgeschichte? Diese Fragen muß man hinsichtlich der skizzierten Verhältnisse von Rheinland-Pfalz mit besonderem Nachdruck stellen, denn gibt es hier überhaupt ein „Land", das sinnvoller Ausgangspunkt von Landesgeschichte sein kann? Dem Verdacht, dass es ein solches Land tatsächlich nicht gäbe, könnte die Beobachtung Vorschub leisten, dass auch die Einrichtung, deren fünfzigjähriges Bestehen uns heute zusammengeführt hat, einen solchen Raumbezug nicht im Namen führt: Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz. Das ist eher ungewöhnlich, wenn man unter den landesgeschichtlichen Instituten in Deutschland Umschau hält; hier sei nur verwiesen auf das einstige Bonner Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande, auf das Hessische Landesamt für geschichtliche Landeskunde in Marburg oder auf das Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden. Man könnte die Verdächtigungen jetzt auf die Spitze treiben mit dem irritierten Hinweis, dass es wohl eine Rheinische Geschichte in mehreren Bänden gibt, also eine Gesamtdarstellung der nieder- und teils auch mittelrheinischen Landesgeschichte, nicht aber eine handbuchartige Gesamtdarstellung der Geschichte von Rheinland-Pfalz. Hat dieses Land vielleicht gar keine Geschichte?

Diese Frage ist natürlich abwegig. Was vielmehr deutlich werden sollte, ist ein doppeltes Problem der Landesgeschichte, denn die Frage „Wozu Landesgeschichte" läßt sich nur beantworten, wenn zunächst eine Antwort darauf gegeben wird, womit sich Landesgeschichte in räumlicher und thematischer Hinsicht beschäftigt. Der aufgezeigte Gegensatz zwischen der territorialen Vielfalt des Mittelrheingebietes und der homogenen Landesherrschaft im mittleren Elberaum kann uns helfen, die unterschiedlichen Ansätze landesgeschichtlicher Forschung besser zu verstehen. Man könnte dies auf die Formel bringen: Landesgeschichte versus Geschichtliche Landeskunde, denn in den Räumen starker territorialer Differenzierung wie Südwestdeutschland, Hessen, Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz ist eher von Geschichtlicher Landeskunde die Rede, während etwa in Bayern, Brandenburg oder Sachsen der Begriff Landesgeschichte favorisiert wird. Beiden Konzepten, die sich heute nicht mehr wirklich unterscheiden, ist seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts zudem durch die Regionalgeschichte eine gewisse Konkurrenz erwachsen. Eine zeitlang wollte es sogar scheinen, eine moderne, auf Neuzeit und Sozialgeschichte ausgerichtete Regionalgeschichte stünde einer eher traditionellen, auf das Mittelalter bzw. die Vormoderne ausgerichteten Landesgeschichte und Geschichtliche Landeskunde gegenüber, aber faktisch haben sich diese ursprünglich gegensätzlichen Forschungsansätze weitgehend angeglichen.

Ziel meines Vortrags wird es gewiß nicht sein, sie mit langatmigen Forschungskonzepten und - schlimmer noch - Forschungsgeschichte zu behelligen, aber die Dinge müssen doch kurz gestreift werden, um einer Antwort auf die Frage näherzukommen, wozu denn nun Landesgeschichte respektive Geschichtliche Landeskunde gut sei. Eine Antwort habe ich zu einem Teil schon mit dem Untertitel vorweggenommen, der mit Bestimmtheit behauptet, regionale Perspektiven seien in der Geschichte unverzichtbar. Dies aber wird näher zu begründen sein.

Ich will versuchen, der Frage „Wozu Landesgeschichte?" auf drei Wegen näher zu kommen. Der erste Weg soll die Rolle der Landesgeschichte als wissenschaftlicher Disziplin im Kontext der allgemeinen Geschichtswissenschaft aufzeigen. Der zweite - vom ersten nicht ganz zu trennen - soll die Rolle der Landesgeschichte als Vermittler zwischen Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit und damit auch die Rolle als regionaler Dienstleister und Identitätsstifter aufzeigen. Geschichtsforschung und Geschichtsvermittlung sind zwei Seiten einer Medaille, aber sie gehören in der Landesgeschichte doch besonders eng zusammen. Ich betone das an diesem Ort und aus diesem Anlaß natürlich besonders gerne, weil das Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz seit einem halben Jahrhundert beiden Anforderungen gleichermaßen gerecht wird. Der dritte, recht kurze Weg soll deshalb zum Abschluss Erreichtes und Perspektiven des Instituts für Geschichtliche Landeskunde beleuchten.

1. Wozu Landesgeschichte? Ein neues Fach mit neuen Themen und Perspektiven

Als wissenschaftliche Disziplin ist die Landesgeschichte ein verhältnismäßig junges Fach. Die Beschäftigung mit der Geschichte in einem regionalen oder lokalen Kontext reicht natürlich weit zurück. Letztlich können wir die klösterliche Hausgeschichtsschreibung des hohen Mittelalters, die Aufzeichnung von Stifterchroniken adliger Familien und die Landes- und Stadtchronistik des späten Mittelalters als eine Vor- oder Frühform der Landesgeschichte betrachten. Die Landes-, Stadt- und Dynastengeschichtsschreibung hat sich dann im Humanismus und im Barockzeitalter weiter entfaltet und ist durch den geschärften Blick der Aufklärung auch methodisch weiter professionalisiert worden. Die Entwicklung ließe sich nun bis in das 19. Jahrhundert verfolgen, doch soll hier nur ein wichtiges Element hervorgehoben werden, das damals neu war und bis heute eine unverzichtbare Stütze der Landesgeschichte ist: die Gründung zahlreicher landesgeschichtlicher Vereine, deren Entstehungsgeschichte deutlich macht, dass die Initiative vielfach nicht von Geschichtsprofessoren, sondern von Archivaren, Bibliothekaren, Museumsleuten, vor allem aber von geschichtsinteressierten Bürgern selbst ausging. Diese Geschichtsvereine sind „verortete Geschichte" (Georg Kunz). Die zahlreichen landes- und stadtgeschichtlichen Vereine des 19. Jahrhunderts bilden nicht nur bis heute wichtige Schnittstellen von Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit, sondern sie sind allenthalben auch Träger der landesgeschichtlichen Zeitschriften, von denen viele seit langem ein hohes Niveau erreicht haben, wie an der Mainzer Zeitschrift, den Nassauischen Annalen oder dem Kurtrierischen Jahrbuch ablesbar ist. Welche Bedeutung der Pflege des landes-, regional- oder stadtgeschichtlichen Bewußtseins durch Vereine zukommt, wird auch daran deutlich, dass es bis heute von wenigen Ausnahmen wie der Hanse- oder Reformationsgeschichte einmal abgesehen kaum Vereine für allgemeinhistorische Themen gibt.

Für die Anfänge der Landesgeschichte als wissenschaftlicher Disziplin um 1900 seien hier nur drei Merkdaten genannt: 1898 ist an der Universität München mit dem Lehrstuhl für bayerische Landesgeschichte die erste landesgeschichtliche Universitätsprofessur eingerichtet worden. 1906 wird an der Universität Leipzig ein Seminar für Landesgeschichte und Siedelungskunde, das erste landesgeschichtliche Universitätsinstitut, geschaffen. 1920 schließlich entsteht in Bonn - unabhängig von der Universität - das Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande, das erste landesgeschichtliche Forschungsinstitut in Deutschland.

Das Interesse an der Landesgeschichte ist um 1900 nicht neu, es gibt schon zahlreiche Geschichtsvereine und auch gelehrte Kommissionen wie etwa die Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, die seit ihrer Gründung 1881 und übrigens bis heute das Ziel verfolgt, Quellen zur Geschichte der Rheinlande herauszugeben. Dieses Organisationsmodell hat übrigens in vielen Ländern Nachahmung gefunden. Man kann wohl festhalten, dass das Bemühen um Landesgeschichte auf den unterschiedlichsten Ebenen um 1900 einen solchen Verdichtungsgrad erlangt hat, dass es sich geradezu aufdrängte, diese Richtung auch als akademische Disziplin zu etablieren. In diesem Zusammenhang wird gerne die angeblich wegweisende Bedeutung des Historikers Karl Lamprecht hervorgehoben, der gegenüber dem herkömmlichen Primat der Politik- und Ereignisgeschichte das Interesse an „Kulturgeschichte" im weitesten Sinne geweckt habe. Aber damit stand er keineswegs allein. Ein Blick in die zahlreichen landesgeschichtlichen Zeitschriften schon des 19. Jahrhunderts zeigt, dass dort Themen zur Alltagsgeschichte, zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, zur Kulturgeschichte reichlich geboten wurden. Der Katholik Johannes Janssen, der allerdings außerhalb des akademischen Lebens stand, veröffentlichte schon seit 1878 eine mehrbändige „Deutsche Geschichte", die sich vor allem mit den alltäglichen Zuständen und Lebensverhältnissen der Menschen befaßte. So originell war der Kulturhistoriker Lamprecht also nicht!

Gleichwohl müssen wir auf Karl Lamprecht hier etwas ausführlicher eingehen, denn seine Hauptleistung ist das mehrbändige Werk „Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter" über die Entwicklung der materiellen Kultur des Mosellandes, das er in seinen Bonner Jahren erarbeitet und 1885/86 veröffentlicht hat. Die Beschäftigung mit den „heimischen Zuständen", wie er es nannte, zielte vor allem auf Kulturgeschichte im regionalen Rahmen. Lamprecht erforschte die ländlichen Lebensbedingungen, Wirtschaftsverhältnisse und Sozialstrukturen des Mittelalters anhand von Abgabenregistern, Klosterrechnungen, Urkunden und anderen Quellen, für die sich die herkömmliche Geschichtswissenschaft bis dahin kaum interessiert hatte. Man könnte aus heutiger Sicht auch manches Kritische über Lamprechts „Deutsches Wirtschaftsleben" sagen, aber entscheidend ist doch die methodische Erkenntnis: Es lohnt sich, die Verhältnisse des mittelalterlichen Moselgebiets zu erforschen als eine Art regionaler Fallstudie von exemplarischer Bedeutung. Lamprecht freilich, und das ist charakteristisch für seine Arbeitsweise, genügte dieses eine gründlich erforschte Exemplum, um schnell zum Allgemeinen fortzuschreiten. Die Frage, wie repräsentativ die Verhältnisse des Mosellandes waren, stellte er sich nicht. Dazu hätte es weiterer Regionalstudien bedurft, wie sie beispielswiese erst vor wenigen Jahren Otto Volk über „Wirtschaft und Gesellschaft am Mittelrhein vom 12. bis zum 16. Jahrhundert" vorgelegt hat (1998), und auf solchen Grundlagen weiter bauend hätte dann ein landesgeschichtlich vergleichender Ansatz zu einem tragfähigen Gesamtbild führen können.

1891 ist Lamprecht einem Ruf an die Universität Leipzig gefolgt und dort gelang es ihm dann bis 1906, die Gründung eines landesgeschichtlichen Instituts durchzusetzen. Karl Lamprecht selbst hat auf dem Feld der sächsischen Landesgeschichte nie gearbeitet, sondern er fand in dem jungen Historiker Rudolf Kötzschke jemanden, der in der Lage war, sich der Landesgeschichte mit neuen Fragestellungen und Methoden zuzuwenden. Diese galten vor allem der Siedlungsgeschichte und den agrarischen Wirtschaftsverhältnisse. Das muß hier nicht weiter vertieft werden, doch sei zumindest hervorgehoben, dass damit neue Wege beschritten wurden. Kulturgeschichte, Siedlungskunde, die Frage nach dem Zuständlichen, das alles war weit entfernt von der herkömmlichen Politik- und Ereignisgeschichte, mit der sich die Mehrheit der Historiker um 1900 noch beschäftigt hat. Heute würde man sagen, dass das, was Lamprecht, Kötzschke und andere damals im landesgeschichtlichen Rahmen taten, innovativ war.

Dass die Landesgeschichte bald zu einer Art Leitdisziplin wurde, war allerdings, das muß ich einräumen, nicht nur eine Leistung Leipziger Historiker. In Bonn war, wie schon erwähnt, 1920 ein Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande eingerichtet worden. Dort war es vor allem der Historiker Hermann Aubin, der ähnlich wie Kötzschke in Leipzig neue Wege beschritt. Wer sich z.B. mit bayerischer Landesgeschichte beschäftigt, kann - auch wenn er sich an modernen Landesgrenzen orientiert - von dem Herrschaftsgebilde der Wittelsbacher als Kernterritorium ausgehen. Der geographische Rahmen, die Grenzen des Arbeitsbereiches sind damit einigermaßen klar. Wie aber steht es z.B. mit den Rheinlanden, die ja erst als preußische Rheinprovinz seit dem 19. Jahrhundert in staatlicher Hinsicht vereinheitlicht worden waren? Da sich die Rheinlande nicht von einem Kernterritorium her definieren lassen, entwickelte Aubin in Bonn das Konzept der interdisziplinären Kulturraumforschung. Ähnlich wie die Leipziger Landesgeschichte zielte dieser Zugriff auf das Zuständliche, also die Strukturen und kulturellen Phänomene. Aubin ging davon aus, dass sich durch interdisziplinäre Methoden Geschichtslandschaften erfassen ließen, indem man etwa siedlungsgeschichtliche, sprachliche, volkskundliche, kunstgeschichtliche, archäologische und andere Phänomene dokumentierte und vor allem auch kartierte. Dieser Forschungsansatz wurde deshalb von ihm - um den programmatischen Neuansatz zu verdeutlichen - geschichtliche Landeskunde genannt. An dieser Stelle muß natürlich darauf hingewiesen werden, dass Ludwig Petry, der Gründer des Mainzer Instituts, ein Schüler von Hermann Aubin war.

Interdisziplinarität, kartographische Methode, das Interesse am Zuständlichen (Kötzschke wie Aubin sprachen diesbezüglich von „Kultur"), diese drei Faktoren trugen seinerzeit mit dazu bei, dass die Landesgeschichte zwischen den beiden Weltkriegen zu einer innovativen Disziplin wurde, deren Erfolg sich seit den 1930er Jahren in der Gründung zahlreicher neuer Institute und Lehrstühle niedergeschlagen hat. In diesem Zusammenhang darf allerdings nicht übersehen werden, dass die innovativen Ansätze einer modernen Landesgeschichte nun mit reaktionären völkischen Vorstellungen aufgeladen wurden. Leipziger Siedlungsgeschichte, Bonner Kulturraumforschung oder Kieler Grenzlandforschung, um nur drei Beispiele zu nennen, mutierten nun zur „Volksgeschichte", um den Zusammenhängen von Landschaft und Volkstum nachzugehen oder - dem Zeitgeist völlig erlegen - von „Blut und Boden". Die Nähe zur NS-Ideologie war allerdings kein spezifisches Problem der deutschen Landesgeschichte, sondern der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen 1933 und 1945 insgesamt.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die deutsche Landesgeschichte als akademische Disziplin begründet, in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts hat sie sich mit enormer Kraft entfaltet, jedenfalls in Westdeutschland, während in Ostdeutschland - aber das ist ein anderes Thema - mit der Auflösung der Länder 1952 auch die Landesgeschichte mehr und mehr eingeschränkt, als Universitätsfach praktisch beseitigt und begrifflich verfemt wurde. Die vor dem Krieg konzipierten neuen Ansätze der Landesgeschichte wurden nach 1945 in Westdeutschland zunächst in der Trias von Siedlungs-, Herrschafts- und vor allem Verfassungsgeschichte fortgesetzt, Schritt  für Schritt aber modifiziert, um ein neues Mittelalterbild aus regionaler Perspektive zu gewinnen. Dass man als Mittelalterhistoriker landesgeschichtlich arbeitete, war damals ganz selbstverständlich. Vor allem der Kötzschke-Schüler Walter Schlesinger, der Lehrstühle in Berlin, Frankfurt und Marburg innehatte, stellte die Landesgeschichte konsequent in den Dienst der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte, und viele andere Mittelalterhistoriker haben diesen Weg beschritten, man denke nur an Heinrich Büttner, Theodor Schieffer und Eugen Ewig in den Gründungsjahren der Universität Mainz. Schlesinger betonte, dass nur räumlich überschaubare Arbeit, also landesgeschichtliche Forschung, die Verfassungswirklichkeit erkennen ließe. Eine so ausgerichtete Verfassungsgeschichte auf landesgeschichtlicher Grundlage frage nicht nach der Verfassung, die die Menschen haben, sondern nach der Verfassung, in der sie sind, betonte Schlesinger.

Dass eine so verstandene mittelalterliche Verfassungsgeschichte auf eine vergleichende Landesgeschichte hinauslief, machten namentlich die Tagungen des von Theodor Mayer begründeten Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte auf der Reichenau deutlich, die dann in den 60er und 70er Jahren maßgeblich von Walter Schlesinger geprägt wurden. Nun wurden in zumeist europäischer Perspektive - um nur einige große Themen zu nennen - der Territorialstaat, die Landgemeinde, die Stadt, die Ostsiedlung, die Burg, die Grundherrschaft, Gilden und Zünfte u.a.m. betrachtet, und damit wurde die „landesgeschichtliche Vertiefung" (Hermann Heimpel) der allgemeinen Geschichte oder nach damaligem Verständnis ihre landesgeschichtliche Grundlegung angestrebt. Diese Themenreihe, die sich leicht verlängern ließe, bezeichnet gewissermaßen die landesgeschichtlichen Bausteine, durch deren Zusammenfügung sich in vielen Bereichen (nicht überall!) erst ein Bild der allgemeinen Geschichte ergibt.
Wir sind damit bei der Frage angelangt, was Landesgeschichte leisten kann. Fragt man nach dem Verhältnis "vom Besonderen und Allgemeinem, von der Mikro- zur Makroebene" (Wilhelm Janssen), dann zeigt sich, dass die Landesgeschichte für die deutsche Geschichte vor dem 19. Jahrhundert die Basisdisziplin ist; denn die ältere deutsche Geschichte ist vor allem eine Geschichte der Territorien, der Landschaften, der Städte gewesen. Unterhalb dieser Ebene erscheinen als geschichtsprägende Strukturelemente und Lebensordnungen beispielsweise Burgen und Klöster, Kirchen und Dörfer, Grundherrschaften und genossenschaftliche Zusammenschlüsse. Die erklärende Kraft des regionalen Forschungsansatzes ist seit den 1970er Jahren zunehmend auch von der Frühneuzeitforschung erkannt und aufgegriffen worden. So hat Peter Blickle den Kommunalismus als einen wesentlichen Baustein Alteuropas erkannt und Volker Press hat durch Forschungen über Adel und Stände, Territorien und Regionen einer neuen Sicht auf das Alte Reich den Weg geebnet. In beiden Fällen handelt es sich um landesgeschichtlich ausgerichtete Frühneuzeitforschung. Die wesentlich günstigere neuzeitliche Quellenlage ermöglicht aber auch ganz andere Forschungsansätze, z. B. über die Bevölkerungsverhältnisse der Frühen Neuzeit, wie an den demographischen Untersuchungen für Mainz und Umgebung von Walter G. Rödel und Elmar Rettinger ablesbar ist, die in der Reihe des Mainzer Instituts erschienen sind.

Eine Geschichte der Vormoderne, also des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, kann auf die regionale Perspektive gar nicht verzichten. Das bedeutet nun aber für die Stellung der Landesgeschichte, wie es der Münchner Kollege Ludwig Holzfurtner einmal treffend gesagt hat, dass sie keineswegs nur „eine gehorsame Dienerin der allgemeinen Geschichte" ist, indem diese durch Berücksichtigung lokaler oder regionaler Verhältnisse um konkrete Anschaulichkeit bereichert wird. Die Funktion der Landesgeschichte als Basisdisziplin macht besser verständlich, warum der 2006 verstorbene Göttinger Landeshistoriker Ernst Schubert gelegentlich die Frage nach dem Zweck der Landesgeschichte kurz und bündig damit beantwortete, sie habe „die Allgemeinhistoriker zu ärgern". Die schönste Theorie nützt eben nichts, wenn sie an der Vetomacht der Quellen scheitert, die der Landeshistoriker für sein Gebiet natürlich wie kein anderer kennt.

Für die moderne Geschichte, also die Erforschung des 19. und 20. Jahrhunderts, hat Landesgeschichte hingegen einen anderen Stellenwert, hier ist sie doch eher Subsdisziplin der  allgemeinen Geschichte, die sie mit Fallstudien bereichert. Die Entstehung des mittelalterlichen Städtewesens läßt sich im oben beschriebenen Sinne nur mit Hilfe lokaler und regionaler Untersuchungen klären, die dann durch eine landesgeschichtlich vergleichende Perspektive zueinander in Beziehung und in ein größeres Gesamtbild eingeordnet werden. Die Geschichte der nationalsozialistischen Machtergreifung kann zwar auch nicht auf lokale und regionale Untersuchungsperspektiven verzichten, aber ein Gesamtbild der Machtergreifung würde sich auch aus etlichen lokalen Fallstudien nicht ergeben; dazu bedarf es vielmehr eines allgemeinhistorischen Ansatzes, der die gesamtstaatliche Krise der Weimarer Zeit, die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, ideologische Diskurse und anderes berücksichtigt. Hierbei kann die Landes- oder Regionalgeschichte zu einem anschaulicheren, weil konkreteren Geschichtsbild beitragen, kann wohl auch durch Regionalstudien die allgemeinen Prozesse weiter differenzieren und Besonderheiten aufdecken, aber sie kann nicht den maßgeblichen Interpretationsansatz liefern.

Aber egal, ob die Landesgeschichte nun als Basis- oder als Subdisziplin fungiert, sowohl in der Vormoderne, also vor 1800, als auch in der Moderne hat die Landesgeschichte zu erheblichen Erkenntnisfortschritten geführt. Im jüngst vollendeten Handbuch der baden-württembergischen Geschichte beansprucht die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts drei der insgesamt sechs Bände. Dass die Landesgeschichte im Bereich der neueren und neuesten Geschichte längst zu einem Erfolgsmodell geworden ist, läßt sich unschwer auch am Arbeitsprogramm vieler landesgeschichtlicher Kommissionen und Institute ablesen, aber auch an Zeitschriften wie „Geschichte im Westen", die sich seit 1986 als Periodikum für Landes- und Zeitgeschichte mit den Schwerpunkten im Rheinland und in Rheinland-Pfalz fest etabliert hat. Quantitativ haben sich die Schwerpunkte der Landesgeschichtsforschung ohnehin schon länger vom Mittelalter zur Frühneuzeit oder zur neueren und neuesten Geschichte verschoben. Als mittelalterlich ausgerichteter Landeshistoriker mag man das bedauern, sollte aber nicht übersehen, dass man gewissermaßen Opfer des eigenen Erfolgs geworden ist. Regionale Perspektiven führen eben in allen Epochen weiter.

2. Wozu Landesgeschichte? Das Interesse an der Geschichte zwischen Heimat und Identität

Die regionale Perspektive ist aber nicht nur ein in der Geschichtswissenschaft unverzichtbarer Zugriff, sondern sie ist auch vielen aktiven Geschichtsinteressierten eigen und sie kennzeichnet wohl - trotz aller Trends zur Europäisierung, Globaliserung und tendenziell Entgrenzung der überkommenden Lebenswelten - noch immer die Wahrnehmungsweise vieler Menschen, die sich in einem Bundesland, noch stärker aber wohl in einer Region, einer Stadt oder einem Dorf zuhause fühlen. Denn tatsächlich ist ja - wie Wilhelm Janssen vor einigen Jahren treffend bemerkt hat - „von wenigen Ausnahmen vielleicht abgesehen, die alltägliche Lebenswelt der Menschen nicht der Globus, sondern ein durchaus begrenzter Ausschnitt darauf [...]: ein Ort, eine Stadt, eine Region, sie sei landschaftlich, kulturräumlich oder politisch-administrativ definiert". Die örtliche und/oder regionale Geschichte hat zweifellos noch immer Bindekraft, birgt für viele Menschen ein Identifikationspotential. Man könnte in diesem Zusammenhang von „Heimat" sprechen und damit einen Begriff verwenden, der in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg lange Zeit desavouiert war, bis er vor wenigen Jahrzehnen durch die anthropologische Wende in der Geschichtswissenschaft wieder reaktiviert und „diskussionsfähig" wurde. Doch haben hier nicht nur fachimmanente Diskurse förderlich gewirkt, sondern eine Neubewertung des Heimatbegriffs im öffentlichen Diskurs. Symptomatisch dürfte die 1984 bis 2004 produzierte Filmtrilogie „Heimat" von Edgar Reitz sein, die ihren Ausgang von der Geschichte des fiktiven Hunsrückdorfes Schabbach nimmt und die große deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts in das Leben der kleinen Leute überträgt. Hier wird im Film umgesetzt, was der Historiker Arnold Esch von seinen Zunftgenossen fordert, nämlich das kleine Menschenleben und die große Geschichte zueinander in Beziehung zu setzen. Aus landesgeschichtlicher Perspektive geht es, wie Karl Bosl einmal bemerkte, um den „Menschen in seinem Lande". Mittlerweile hat es sich eingebürgert, anstelle von „Heimat" von „regionaler Identität" zu sprechen, und dies macht die besondere verständnisfördernde, weil eben historisch erklärende Funktion der Landesgeschichte wohl auch besser deutlich.

Wenn wir den Begriff „Heimat" einmal der außerwissenschaftlichen, zumeist romantisch-verklärenden, rückwärtsgewandten, am Überkommenen haftenden Konnotationen entkleiden und darunter einfach den naheliegendsten Erfahrungshorizont des Menschen verstehen, können wir entsprechend Heimatgeschichte als eine auf die lokalen, kleinräumigen Verhältnisse konzentrierte Spielart der Landesgeschichte betrachten. Landesgeschichte, Regionalgeschichte, Heimatgeschichte erweisen sich dann - sofern auf allen Ebenen die fachlichen Standards beachtet werden - als weithin komplementäre historische Zugriffe auf eine große, mittlere oder eben kleinräumige Untersuchungsebene, gleich, ob es nun um die Stadtgeschichte von Mainz, die Siedlungsgeschichte des Hunsrück oder die Kirchengeschichte des Erzbistums Mainz geht.

Der regionale Zugriff macht dem Menschen seine Heimat als geschichtlich geworden erfahrbar und verstehbar, eröffnet damit vielen überhaupt erst einen Zugang, sich die eigene Lebenswelt als Heimat anzueignen. „Denn Heimat" - nochmals sei der rheinische Landeshistoriker Wilhelm Janssen zitiert - „definiert sich eben zu einem guten Teil über ihre Geschichte. Ein solches Heimatbewußtsein, eine solche regionale Identität, ist nicht wurzelhaft gewachsen, noch weniger angeboren, sondern durch Lebenspraxis, Kenntnis und Einsicht erworben. Es begreift die gegenwärtige Situation als Resultat der Vergangenheit, und zwar als ein eher von Zufälligkeiten als von Zwangsläufigkeiten hervorgebrachtes Resultat, und es ist sich darüber im klaren, daß die Veränderungsprozesse weiterlaufen und die Gegenwart nicht aussparen werden, vielleicht nicht einmal die regionalen Identitäten". Heimat, so könnte man mit Karl Bosl sagen, rückt die Geschichte in das „Bewusstsein des modernen Menschen". Eine solche Heimatgeschichte ist nicht nur die Geschichte derer, die scheinbar schon immer da waren, sondern auch jener, die neu hinzukommen.

Angesichts dieser Veränderungsprozesse, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine bis dahin kaum vorstellbare Dynamik entwickelt haben, kommt der Landesgeschichte noch stärker einerseits eine frühere Zustände dokumentierende und erschließende sowie andererseits eben auch den Wandel aufzeigende und erklärende Funktion zu. Denn nichts ist mehr, wie es früher war, weder die ländlich-agrarische Welt noch die Stadt mit ihren Gewerbe- und Geschäftsstrukturen, weder die Kirche mit ihren Alltag und Festtag prägenden Riten und Symbolen noch der Lebensweg des einzelnen, der durch Herkunft und Umfeld in vorgezeichnete Bahnen gelenkt wird (oder womöglich nicht, wie der junge Nikolaus von Kues, was für den Historiker dann natürlich besonders interessant ist). Das alles ist nüchtern festzustellen, nicht zu beklagen, zumal die Landesgeschichte durch den vollzogenen Wandel ein Stück weit auch der problematischen Rolle als Legitimationsstifter enthoben ist, eine Versuchung freilich, der man sich heutzutage angesichts grassierender Jubiläumsorientierung nicht ganz entziehen kann (sie erleben es ja gerade, meine Damen und Herren). Die regionale Perspektive eröffnet den Blick auf „lokale Gesellschaften" (Thomas Kohl) und deren überlokale Verflechtungen, und sie vermittelt damit Einsichten, die für geschichtlich aufgeschlossene Menschen interessant, bedenkenswert oder - im Sinne Max Webers - einfach „wissenswert" sind. Auf diesen Aspekt hat mein Münsteraner Kollege Werner Freitag jüngst unter dem Titel „Was ist wissenswert? Alte und neue Fragen einer Landesgeschichte für Westfalen" aufmerksam gemacht: „Die Frage, was wissenswert sei, wird" - so Freitag „nicht nur durch innere Fachdebatten bestimmt. Tatsächlich reagieren Historiker als Sozial- und Kulturwissenschaftler, wenn auch über Umwege, auf mehr oder weniger diffuse Anfragen der Zeit: Es sind Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart, die fachwissenschaftlich diszipliniert die Heuristik der Geschichtswissenschaft beeinflussen". Solche Orientierungsbedürfnisse wahrzunehmen und umzusetzen, das ist eine besondere Aufgabe der Landesgeschichte!

3. „In Grenzen unbegrenzt” - ein abschließender Blick auf das Mainzer Institut zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit

Auf die Frage, „was darf und was kann Landesgeschichte?" hat Franz Irsigler die schlagende Antwort gegeben: „Landesgeschichte darf alles, fast alles". Weil das so ist, sind in der Landesgeschichte Richtungsdebatten besonders fruchtlos. Ludwig Petry, der Gründungsdirektor des Mainzer Instituts für Geschichtliche Landeskunde, hat das Arbeitsfeld der Landesgeschichte 1961 auf die einprägsame Formel gebracht: „In Grenzen unbegrenzt". Wenn alle seine Werke vergessen sind, wird dieses glückliche Diktum, der Titel seiner Programmschrift für das Mainzer Institut, doch weiterleben. „Unbegrenzt", das zielt auf die thematisch, inhaltlich, methodisch praktisch unendlichen Arbeitsfelder des Landeshistorikers, der eben in thematischer Hinsicht weniger festgelegt ist (und sein muß) als der sogenannte Allgemeinhistoriker, der sich beispielsweise schwerpunktmäßig mit der großen Politik, mit sozialen Prozessen, mit Gesten, Riten und Symbolen oder womit auch immer beschäftigt. Der Landeshistoriker muß dabei einen Spagat vollführen: Auf der einen Seite darf sich nicht ganz von den allgemeinen Trends abhängen lassen, um nicht als rückständig oder - an der Universität fast ein Todesurteil - als nicht „anbindungsfähig" abgestempelt zu werden. Auf der anderen Seite darf er aber auch seine grundsätzlich „unbegrenzten" Möglichkeiten nicht für einseitige thematische Schwerpunktbildungen oder zu starke Orientierung an allgemeinen Forschungstrends preisgeben.

Denn der Landeshistoriker arbeitet, wie Ludwig Petry es in seinem Diktum zum Ausdruck brachte, „in Grenzen". Das zeigt eben an, dass die Tätigkeit des Landeshistorikers, und deshalb heißt er ja auch Landes-Historiker, auf ein Land, auf einen durch Geographie, Geschichte, Kultur und/oder Wahrnehmung umschriebenen Raum bezogen ist. Hermann Aubin hat jenseits aller Kategorien vom „Land an sich" gesprochen, aber worum es sich dabei handelt, muß der Landeshistoriker eben von Fall zu Fall definieren. Der sogenannte „spatial turn" in der Geschichtswissenschaft hat zu geradezu absurden Debatten darüber geführt, welche Arten von Räumen den Historiker interessieren könnten. Ich will das hier nicht ausbreiten. Der Landeshistoriker hält sich als Praktiker tunlichst an sein Bundesland, manchmal aber auch nur an einen Teil davon, sei es nun Westfalen, Württemberg oder Franken. In der Forschungspraxis können sich je nach Fragestellung aber auch andere Abgrenzungen aufdrängen, beispielsweise die Grenzen von Territorien oder von Bistümern, so dass die Bundeslandgrenzen auch überschritten werden mögen.

Die Landesgeschichte erfüllt eine Doppelfunktion: einerseits fördert sie aus regionaler Perspektive Wissenswertes z.B. über Rheinland-Pfalz, über seine historischen Teillandschaften, über einzelne Städte und Orte für die Menschen im Lande zutage, andererseits trägt die Landesgeschichte damit auch zu den fachwissenschaftlichen Diskursen bei, ohne dabei freilich zum bloßen Zulieferer der Allgemeinhistoriker zu degenerieren, denn wichtig ist nicht nur das, was aus der Landesgeschichte als Baustein des großen allgemeinen Geschichtsbildes taugt, sondern auch das, was regional spezifisch und eigentümlich, vielleicht sogar aus allgemeiner Sicht redundant ist. Ob sich der Landeshistoriker eher landesorientiert oder eher fachorientiert verortet, hängt von vielen Faktoren ab, nicht zuletzt von der wissenschaftlichen Sozialisation, von den prägenden Lehrjahren, die man selbst durchlaufen hat, aber eben auch von den praktischen Herausforderungen, die sich stellen. Ich selbst würde mich deshalb weigern, hier eine klare Entscheidung zu treffen.

Das Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V. füllt in einer gelungenen und überzeugenden Weise die Doppelrolle zwischen Fachinteressen und Öffentlichkeitsinteressen sehr geschickt aus, und ich fühle mich zu diesem Urteil um so mehr berechtigt, als ich seit acht Jahren selbst ein solches Institut in Dresden zu leiten habe. Gleichwohl werde ich jetzt nicht der Versuchung erliegen, die fünfzigjährige Geschichte des Instituts Revue passieren zu lassen, zumal ich zum Ende kommen muß und Herr Felten uns gleich noch die druckfrische Jubiläumsfestschrift vorstellen wird. Gestatten sie mir aber, vier Aspekte der aktuellen Ausrichtung des Instituts hervorzuheben:
 

  1. das Institut ist einem breiten Verständnis von Geschichtlicher Landeskunde verpflichtet und nimmt sich der Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz und seiner historischen Regionen umfassend vom Mittelalter bis zur Zeitgeschichte und thematisch in beeindruckender Breite von der Geschichte des Weinbaus über die Klostergeschichte bis hin zur Geschichte der Juden, der Arbeiterschaft und der Geschlechtergeschichte an;
  2. das Institut leistet auf der einen Seite historische Grundlagenforschung durch Langzeitprojekte, namentlich durch die Erschließung und Edition bedeutender Quellenbestände wie der Mainzer Ingrossaturbücher, ländlicher Rechtsquellen, der Ingelheimer Haderbücher u.a.m. Auch die sprachgeschichtlichen Projekte mit ihren Atlanten und Wörterbüchern wären hier zu nennen;
  3. das Institut ist auf der anderen Seite aber auch entschieden der Öffentlichkeit zugewandt. Das Geschichtsmobil ist nicht nur eine glänzende Idee, sondern auch ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber den anderen landesgeschichtlichen Instituten Deutschlands. Nicht minder wichtig und präsentabel ist aber die Internetpräsenz des Instituts (regionalgeschichte.net), die ganz neue Möglichkeiten der Vermittlung von Fachwissen an die Geschichtsinteressierten im Lande bietet und neue Voraussetzung für die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit schafft;
  4. dies alles, und dies ist der vierte und letzte Punkt, hat das Institut mit einem recht überschaubaren Haushalt vollbracht, der seit drei Jahrzehnten keinen Personalaufwuchs ermöglicht hat, eine Tatsache, die meinen Respekt vor dem Vorsitzenden des Instituts und seinen Mitarbeitern nur noch mehr steigert, zumal es nicht an erfolgreichen Bemühungen gefehlt hat, Drittmittel einzuwerben, um arbeitsfähig zu bleiben.

   
Meine Damen und Herren, das Institut für Geschichtliche Landeskunde hat gewichtige Ergebnisse vorzuweisen, es hat interessante Ideen, es arbeitet in einer reichen und vielgestaltigen Geschichtslandschaft, es hat nur leider zu wenig Geld. Das sollte sich ändern!
   
Wir hatten angesichts der territorialen Vielfalt und regionalgeschichtlichen Differenzierung von Rheinland-Pfalz die bewusst provokant gemeinte Frage aufgeworfen, ob ein solches Bindestrich-Land überhaupt eine eigene Geschichte hat. Eine solche Frage wird vor allem diejenigen irritieren, die an die vermeintliche territoriale Geschlossenheit und damit historische Stringenz von Ländern wie Bayern oder Sachsen glauben.
   
Die Geschichte von Rheinland-Pfalz ist von anderer Art als die dieser großräumigen Einheiten. Das Bundesland ist jung, aber es baut auf vielfältigen, lange zurückreichenden historischen Landschaften auf. Ludwig Petry schreibt deshalb 1958 in seinem Antrag zur „Errichtung eines Instituts für Geschichtliche Landeskunde von Rheinland-Pfalz in Mainz": „Unter den deutschen Bundesländern nimmt Rheinland-Pfalz durch eine Zusammenfassung von unerhört geschichtsträchtigen Landschaften eine verpflichtende Sonderstellung ein. Fast gänzlich innerhalb des einstigen Limes gelegen, nennt es in Trier einen römischen Kaisersitz, in Mainz, Worms und Speyer drei weitere altchristliche Bischofsresidenzen sein eigen, deren Hauptkirchen zugleich die berühmtesten Kaiserdome des Mittelalters sind. Von Lauterburg bis Rolandseck erstreckt es sich längs des Rheinstromes, der [...] Hauptschlagader Deutschlands und Westeuropas durch viele Jahrhunderte. Einer solch gewichtigen Tradition gilt es forschend und klärend um so lebhafter nachzugehen, als die historisch in einer alten Gemeinschaft stehenden Landstriche von Pfalz und Rheinhessen, Hunsrück und Einrich, Eifel und Westerwald in einem modernen Staatswesen erst seit 12 Jahren wieder in eine enge Verbindung zueinander getreten sind".
                                                   
Mittlerweile sind es 62 Jahre geworden, und mit dem Land Rheinland-Pfalz ist auch das Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz älter, aber nicht an Aufgaben ärmer geworden. Das Institut hat sich gottseidank nie als eine Einrichtung für regionale Zeitgeschichte verstanden (es gibt solche Einrichtungen!), sondern es leistet seinen Beitrag zur Erforschung des Landes Rheinland-Pfalz und seiner historischen Regionen in der ganzen Breite vom Mittelalter bis zur Gegenwart, und es arbeitet dabei zugleich im engen Schulterschluß mit der Sprachwissenschaft, aber auch mit anderen Fächern - Stichwort „Inschriftenforschung" - interdisziplinär zusammen. Eine so verstandene, breit angelegte Landesgeschichte oder geschichtliche Landeskunde schafft die Grundlagen für eine Bundeslandgeschichte, die hoffentlich in absehbarer Zeit in ein großes Handbuch der Rheinland-pfälzischen Geschichte einmünden wird. Mögen bis dahin nicht wieder 50 Jahre vergehen.

Vortrag im Rahmen der Jubiläumsveranstaltung „Forschen - Vermitteln - Mitmachen. 50 Jahre Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V." im Landtag Rheinland-Pfalz, Mainz, 28. Juni 2010.