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Ansprache anlässlich der akademischen Feier zur 1250-Jahrfeier der Gemeinde Hahnheim am 15. März 2014

Dr. Elmar Rettinger (Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V.)

Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Mangold-Wegner, meine sehr geehrten Damen und Herren,

bei meinen Recherchen für heute bin ich auf eine kleine Publikation gestoßen, die Mitteilungsblätter zur rheinhessischen Landeskunde. Dort heißt es im Heft 13 von 1964 – also vor genau 50 Jahren:

Die Arbeitsgemeinschaft rheinhessischer Heimatforscher hatte die 1200jährige Wiederkehr der Übergabe Hahnheims an das Kloster Lorsch zum Anlaß genommen, die diesjährige Frühjahrstagung in Hahnheim zu veranstalten. Im festlich geschmückten Saale Breyer hieß Bürgermeister Heinz namens der Gemeinde die Teilnehmer herzlich willkommen und wünschte für die Tagung, zu der auch viele Hahnheimer erschienen waren, einen guten Verlauf. Herr Professor Dr. Petry bedankte sich im Namen der Arbeitsgemeinschaft für das freundliche Willkommen und betonte in seinen einführenden Worten, daß man gern dem Ruf der Gemeinde gefolgt sei und den Inhalt der Referate auf das Jubiläum abgestimmt habe.[Anm. 1]

50 Jahre später hat die Gemeinde Hahnheim – möglicherweise unbewusst – die rheinhessischen Heimatforscher wieder gerufen. Ich bin Vorstandsmitglied dieser Institution, die nach wie vor alljährlich ortsgeschichtliche Tagungen durchführt und die Mitteilungsblätter zur rheinhessischen Landeskunde herausgibt.

Zu allererst möchte ich der Gemeinde Hahnheim zum 1250-jährigen Jubiläum die Glückwünsche des Vorstands der rheinhessischen Heimatforscher um Dr. Gunter Mahlerwein und Prof. Dr. Wolfgang Dobras überbringen. Daneben natürlich auch die Glückwünsche des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz.

Historische Jubiläen sind vor allem Anlass, eine Stadt, eine Gemeinde mit ihren aktuellen Errungenschaften einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. In Mainz legt man daher gerne Jahre fest, an denen man feiern möchte: 2000-Jahrfeier im Jahre 1962, 1000 Jahre Mainzer Dom im Jahre 1975, 600. Geburtstag Johannes Gutenbergs im Jahre 2000 – kann alles sein, muss aber nicht.

Da hat es Hahnheim besser. Hier gibt es ein klares Datum, auch wenn das entsprechende Schriftstück, die Urkunde, nicht im Original, sondern in einer späteren Abschrift überliefert ist. Ich möchte Ihnen hier nicht die ganze Hahnheimer Geschichte erzählen – schließlich wollen Sie heute noch nach Hause kommen. Ich konzentriere mich auf das Jahr 764 und die Ersterwähnung.


0.1.Was steht in der Urkunde von 764?

Werfen wir also einen Blick 1250 Jahre zurück. Damals – genau am 12. Juli 764 – gibt es einen feierlichen Akt in „Lauresham“, dem heutigen Lorsch. Im Auftrag Erzbischofs Ruodgang (= Chrodegang) von Metz erstellt der Notar Helmerich ein feierliches Schriftstück. Dort heißt es:

„[…] ego Williswinda deo sacrata et filius meus Cancor comes pro dei intuitu uel pro anime nostre. […] ideoque nos in dei nomine donamus ad sacrosanctam ecclesiam sancti Petri seu ceterorum sanctorum, que est constructa in loco nuncupato Lauresham in pago rhenense, super fluuium Wisgoz,quam nos propter nomen domini a nouo edificauimus, […] hoc est uillam nostram in pago wormaciense, in loco qui dicitur Hagenheim, super fluuium Salusiam, que michi de parte genitoris mei nomine Adelhelmi legibus obuenit, uel undecumque tarn de alode quam de co(m)parato, seu de quolibet adtractu ad nos noscitur peruenisse, cum omni integritate sua, terris, domibus, aedificiis, campis, pratis, uineis, siluis, aquis, aquarumue decursibus, farinariis, litis, libertis, conlibertis, mancipiis, mobilibus et inmobilibus, peculio utriusque sexus, tam maiore quam minore genere uel etate, quicquid dici aut nominari potest re inexquisita, cum omni supellectile, sicut a nobis moderno tempore possideri dinoscitur, donamus, tradimus, atque transfundimus, ita ut ab hac die iam dictus d(om)nus Ruodgangus, uel sui monachi, qui ibidem in ipso monasterio habitare uidentur, uel successores eorum, habeant, teneant, atque possideant, et quicquid exinde facere pro oportunitate loci ipsius uoluerint, liberam et firmissimam in omnibus habeant potestatem. [...]." [Anm. 2]

 „Ich, Williswinda, die Gottgeweihte, und mein Sohn Graf Cancor, gedenken Gottes und des Heiles unserer Seelen. […] In dieser Gesinnung machen wir eine Schenkung im Namen Gottes an die überaus heilige Kirche des Hl. Petrus und aller übrigen Heiligen, welche errichtet ist in dem Lauresham [Lorsch] genannten Ort im Pagus Rhenensis [Oberrheingau] am Flusse Wisgoz [Weschnitz]. In des Herren Namen haben wir diese Kirche neu erbaut. Ihr steht vor der ehrwürdige Erzbischof und Abt Ruodgang. […] Diese Schenkung betrifft unser Landgut im Pagus Wormaciensis [Wormsgau], in dem Orte, welcher Hagenheim [heute: Hahnheim] genannt wird und am Flusse Salusia [Selz] liegt. Dieses Landgut ist mein gesetzliches Eigentum, teils aus Erbschaft von meinem Vater Adelhelm, teils durch eigene Erwerbung. Die Übergabe erfolgt mit allen Rechten und allem Zubehör, mit Feldern, Wohnhäusern und anderweitigen Gebäuden, mit Äckern, Wiesen und Weingärten, stehenden Gewässern, Wasserläufen und Mühlen, mit unseren Dienstleuten, Freigelassenen, Halbfreien und Leibeigenen, mit beweglichem und unbeweglichem Gut, mit Vieh jeglicher Art und beiderlei Geschlechtes, jeglicher Größe und jeglichen Alters. Aber auch alles andere Zubehör, ob es hier nun genannt wurde oder nicht [… ]. [Anm. 3]

Unterzeichnet wird die Urkunde von Williswinda, ihrem Sohn Cancor und dessen Sohn Heimerich – unterzeichnet ist nicht richtig ausgedrückt: Die drei geben ihr Handzeichen, denn sie können nicht schreiben. Unterschrieben haben als Zeugen der Bischof von Trier, der Bischof von Utrecht und der Bischof von Konstanz. Das muss man sich einmal vor Augen halten: Die Herren reisten damals von Utrecht, Trier und Konstanz an, um eine Besitzübertragung zu unterzeichnen. Laut Routenplaner schafft man die 400 Kilometer von Utrecht nach Lorsch heute mit dem Auto in rund 4 Stunden. Im Mittelalter kommt eine kleine Gesellschaft mit Wagen auf ca. 40 Kilometer pro Tag. Dh. der Bischof von Utrecht ist zehn Tage unterwegs! Von Trier nach Lorsch sind es 200 Kilometer und von Konstanz aus 300 Kilometer. Ganz unbedeutend ist die Aktion 764 also nicht.

Zurück zum Inhalt der Urkunde: Eine Frau mit Namen Williswinda und ihr Sohn, der Graf Cancor, statten die Kirche St. Peter in Lorsch mit Besitz aus, damit der Abt Chrodegang von Metz dort ein Kloster einrichten kann. Den Besitz hat Williswinda zum Teil von ihrem Vater Adelhelm, zum Teil selbst erworben. Daran knüpft sich nun eine ganze Reihe von Fragen:

  • Es sieht so aus, dass „Hagenheim“ 764 wohl erstmals erwähnt wird, aber schon vorher existiert hat. Wann ist der Ort entstanden?
  • Wer waren diese Leute: Williswinda, ihr Vater Adelhelm und ihr Sohn Cancor?
  • Wieso statten sie ein Kloster mit Besitz aus? Und was ist eine „villa“ im 8. Jahrhundert?
  • Und woher wissen wir das alles?

0.2.Gibt es Hahnheim schon vor 764?

Hahnheim hat es also schon vor dem Jahr 764 gegeben. Wie muss man sich die Entstehung der Siedlung vorstellen?

In römischer Zeit ist „Mogontiacum“ – so heißt Mainz in römischer Zeit - ein militärisches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum erster Güte. Die Gegend gehört dem Staat, ist römisches Fiskalland. Landwirtschaftliche Betriebe, sogenannte „villae rusticae“ prägen die Region. Im 5. Jahrhundert bricht die römische Herrschaft zusammen. Im Jahre 486/87 besiegt der fränkische König Chlodwig I. den letzten römischen Statthalter.

Nach dem Zusammenbruch der römischen Herrschaft strömen germanische Stämme – im Norden die Franken – auf das Gebiet des ehemaligen römischen Reiches. Es handelt sich um kleine Gruppen, die sich an günstigen Stellen – vor allem in der Nähe von Wasserläufen – niederlassen. Diese Gruppen benennen ihre Siedlungen immer nach dem gleichen Muster: Name des Sippenoberhauptes und –heim. Daher gibt es heute in Rheinhessen so viele –heim-Orte.

Hahnheim trägt wohl in seinem Ortswappen einen Hahn, aber der Ortsname kommt ebenfals von einer Person. Dennoch ist es in Hahnheim etwas anders als bei den anderen heim-Orten in der Umgebung. Hahnheim wird 764 „Hagenheim“ genannt. „Hagenheim“ hat nichts mit dem berühmten Bösewicht aus dem Nibelungenlied, Hagen von Tronje, zu tun, der den netten Siegfried umgebracht hat. Die Älteren erinnern sich vielleicht an die legendäre Verfilmung des Nibelungenstoffes von 1966/67 mit Uwe Beyer als Siegfried – gespielt mit dem Charme des Hammerwerfers. Bei „Hagenheim“ handelt es sich um das Heim des „Hagano“. Das wussten die Hahnheimer vor rund 350 Jahren natürlich nicht und haben in ihr Gerichtssiegel das Bild eines Hahnes aufgenommen.

Wer war dieser Hagano? In Mainz gab es früher ein Kloster, welches Altmünster hieß. Die Altmünsterkirche in Bahnhofsnähe gibt es heute immer noch. Dieses Kloster hieß auch Hagenmünster. Die Gründungsurkunde für das Kloster Altmünster datiert in das 7. Jahrhundert, ist aber eine Fälschung. Unsere Altvorderen waren damit etwas lockerer als wir heute. Wenn man faktisch ein Recht oder Besitz hatte, aber nicht Schriftliches dazu, hat man sich nicht gescheut, das entsprechende Schriftstück nachträglich herzustellen.

Als man im 12. Jahrhundert die Gründungsurkunde „zusammengeschustert“ hat, hat man dazu eine alte, echte Zeugenliste verwendet. Diese Zeugenliste stammt aus dem Jahre 720 und darin erscheint ein „Hagano“. Auch die erste Äbtissin des Klosters Bilhildis war ein Mitglied der der Familie der Haganonen, der Mainzer Erzbischof Rigibert ebenfalls. Die Haganonen findet man in den höchsten Ämtern des Reiches in unmittelbarer Nähe des Königs.

Dh. es spricht einiges dafür, dass die Region um das heutige Hahnheim Königsbesitz ist und vom König an „Hagano“ geschenkt wird, der den Ort Hagenheim gründet. Und das passiert im 7. Jahrhundert, etwa 80 Jahre vor der Urkunde von 764. Also ist Hahnheim noch älter als 1250 Jahre.

Zurück zur Urkunde: Nun ist es allerdings so, dass 764, im Jahr der Schenkung an Lorsch, die „villa Hagenheim“ nicht mehr einem Hagano, sondern Williswinda gehört, die den Besitz von ihrem Vater Adelhelm geerbt hat, wie es in der Urkunde heißt.

Schauen wir noch nochmal auf die Zeugenliste des Klosters Altmünster von 720: Welcher Name erscheint da neben Hagano? Sie können es sich schon denken: natürlich Adelhelm. Offensichtlich sind Hagano und Adelhelm miteinander verwandt und „Hagenheim“ ist – entweder durch Erbschaft oder Heirat – von der Familie der Haganoen an Adelhelm gekommen.

0.3.Wer sind Williswinda, Cancor und Adelheim?

Was sind das für Leute – Williswinda, Adelheim, Cancor? Williswinda lebte von ca. 715 bis 768. Williswinda findet man heute kaum noch als Mädchenname. Was bedeutet der Name? Das Internet weiß (fast) alles: Sehen Sie unter „www.baby-vornamen.de“ nach – übrigens ein Tipp für alle werdenden Mütter und Väter, die nicht wissen, wie sie ihren Nachwuchs nennen sollen. Dort erfahren Sie: „Willi“ ist die Kurzform von Wilhelm, der Entschlossene, „swinda“ meint eine starke/geschwinde Person.

Die entschlossene und geschwinde Williswinda ist die Tochter von Adelhelm. Der Name ist selbsterklärend – edel und Helm. Adelhelm lebte von 680 bis 764 und war ein Graf im Wormsgau. Grafen sind königliche Funktionsträger, Verwalter größerer Regionen in der Abwesenheit des Königs. Der Wormsgau ist ein großer regionaler Bereich, der vom Süden in Worms bis nach Koblenz reicht. Man muss sich die logistischen Probleme der damaligen Zeit bei der Verwaltung eines solchen Gebietes vorstellen – ohne Auto, ohne Telefon und Internet.

Williswinda – das steht nicht in der Urkunde, stimmt aber trotzdem - ist verheiratet mit Robert. Robert ist Jahrgang 710 und Graf im Haspengau. Er ist ein Zugereister, gleichsam mit Migrationshintergrund. Der Haspengau liegt im heutigen Belgien im Bereich der heutigen Stadt Tongern, 300 km von Hahnheim entfernt. Der Bereich, aus dem unsere Altvorderen auf dem Lande normalerweise ihre Ehepartner beziehen, ist bis ins 19. Jahrhundert hinein Umkreis von zehn Kilometern. Es ist beachtlich, welchen Aktionsradius die High Society des 8. Jahrhunderts hat. Klar – bei Heiratsverbindungen gerade im Adel geht es damals wie heute darum, standesgemäße Partner zu finden und da muss man bereit sein, weite Wege gehen.

741/42 wird Robert als Pfalzgraf erwähnt. Dh. er ist einer der wichtigen Funktionsträger in unmittelbarer Nähe des Königs. 757 finden wir ihn als königlichen „missus“ in Italien – salopp formuliert er ist Botschafter beim Vatikan. Offensichtlich weilte Robert im Jahre 764 nicht mehr unter den Lebenden, sonst hätte er und nicht seine Frau Williswinda Kloster Lorsch mit Besitz ausgestattet.

Nun zum Mitinhaber der „villa Hagenheim“, Cancor. Hier lässt mich das Internet bei der Frage nach der Herkunft des Namens im Stich. Robert und Williswinda haben vier Kinder, genauer gesagt, vier sind nachweisbar. U.a. einen Sohn Cancor (Jahrgang 736). Cancor ist Graf in Alemannien und ab 758 im Oberen Rheingau. Der Obere Rheingau hat nichts mit dem heutigen Rheingau zu tun. Es handelt sich um einen rechtsrheinischen Bereich in der Höhe von Worms.

Ein Bruder Cancors ist Graf Thüringbert, einer anderer Pfalzgraf Anselm. Er ist verwandt mit Abt Robert von St. Germain des Fosses - St. Germain des Fosses liegt 680 km von Hahnheim entfernt in der Auvergne - und Bischof Chrodegang von Metz - nach Metz sind es 200 km. Sie spüren: Das sind keine hergelaufenen Leute, die das Landgut in Hahnheim besitzen. Das sind Leute mit direktem Kontakt zu den Großen des Reiches und weitreichenden Beziehungen.

0.4.Wie umfangreich ist die Schenkung von 764?

764 also übertragen Williswinda und ihr Sohn Cancor ihre „villa“ in „Hagenheim“ der Kirche St. Peter, um dort ein Kloster einzurichten. Warum tun sie das? Wir erinnern uns: Robert, der Gatte Williswindas ist 764 gestorben. Das dürfte der Anlass gewesen sein.

Was meint der Begriff „villa“ im 8. Jahrhundert? Das ist kein Einfamlienhaus in unserem heutigen Sinne. In römischer Zeit bezeichnen „villae“ ganze Landgüter. Zur Zeit der Karolinger werden Königshöfe als „villae“ bezeichnet. „Villa Hagenheim“ ist 764 wohl kein Königshof. Aber so klein kann der Besitz nicht gewesen sein. Die Urkunde von 764 umschreibt das Ganze: Da ist von „terris, domibus, aedificiis, campis, pratis, vineis, siluis, aquis, aquarum, decursibus, farinariis“ die Rede, von „Feldern, Wohnhäusern, anderweitigen Gebäuden, Äckern, Wiesen, Weingärten, stehenden Gewässern, Wasserläufen und Mühlen“. Das klingt ein bisschen formelhaft, wie ein Textbaustein, den man auch von anderen Urkunden kennt. Man könnte das auch frei „mit allem Drum und Dran“ übersetzen. Immerhin sind Weinberge erwähnt. Also Weinbau in Hahnheim schon vor 1250 Jahren.

Auffallend sind die Personengruppen, die im Zusammenhang mit der Schenkung erwähnt werden. Da ist von „litis, libertis, conlibertis, mancipiis" die Rede, von Dienstleuten, Freigelassenen, Halbfreien und Knechten. Wir sind heute gewöhnt, dass alle Menschen gleich sind – zumindest in der Theorie. Das war damals nicht so. Am schlechtesten geht es den „mancipiis“, das sind rechtlose Sklaven, die an den Besitz gebunden sind und mit diesem verschenkt werden. „Mancipii“ sind gleichsam „Sachen“.

Die „villa Hagenheim“ dürfte damals den größten Teil des Ortes ausgemacht haben. Das ist nicht wenig für eine „Klostererstausstattung“, zumal noch weitere kleinere Besitzungen dazukommen, aber auch nicht üppig.

0.5.Warum wächst der Besitz des Klosters nach rapide an?

Im Anschluss allerdings explodiert das Kloster geradezu im Hinblick auf den Besitzzuwachs. Zwei Maßnahmen sind dafür entscheidend.

Zum ersten ist Cancor ein geschickter Zeitgenosse - ein „Sponsoring-Experte“ würde man heute sagen. Die Frage, die sich die Klostergründer zu stellen haben, ist: Wie bringen wir die Leute dazu, das neue Kloster mit Besitz auszustatten? Cancor und Abt Robert – sehr wahrscheinlich sein Bruder - nutzen dazu das noch junge Christentum bzw. die Sorge der Menschen um ihr eigenes Seelenheil.

Das Christentum, das schon von den Römern als Staatsreligion eingeführt worden ist, ist unter den Germanen – und die Franken gehören dazu - noch eine vergleichsweise junge Institution. König Chlodwig I. hat erst um die Jahrhundertwende vom 5. zum 6. Jahrhundert das Christentum angenommen. Ruck-zuck hat es sich aber zu einer staatstragenden Institution gemausert.

Die Klostergründer machen sich die im Christentum tief verwurzelte Heiligenverehrung zunutze. Die Verehrung gilt vor allem den Märtyrern, die für ihren Glauben gestorben sind. Es wird berichtet, dass der Graf den Körper des heiligen Nazarius persönlich auf seinen Schultern von den Vogesen nach Lorsch getragen habe.

Nazarius gehört zu den Märtyrern. Seine Geschichte ist wenig bekannt. Er ist ein römischer Soldat gewesen, der zum Christentum übergetreten ist und mit seinem Schüler Celsus in Gallien und Italien missioniert hat. Das erinnert an den wenig später – im Jahre 316/17 - geborenen St. Martin. Nazarius und Celsus sterben um 304, als die Christen im römischen Reich noch verfolgt werden, den Märtyrertod. Nur ein paar Jahre später - in der Mailänder „Vereinbarung“ von 313 - werden die Christen toleriert und nicht mehr verfolgt. Da kann man nur sagen: dumm gelaufen für Nazarius – aber gut für Kloster Lorsch.

Der zweite geschickte Schachzug geht vom Abt des Klosters aus. Nach dem Tod Cancors im Jahre 782 versucht sein Sohn Heimerich, die Besitzungen wieder zurückzuholen – kann man verstehen, schließlich ist es ja sein Erbe. Das ist möglich, denn Lorsch ist ein sogenanntes „Eigenkloster“ und gehört dem Klostergründer. Was tut der Abt des Klosters dagegen? Um dem Zugriff Heimerichs zu begegnen, gewinnt er den jungen Karl den Großen, der erst drei Jahre vorher fränkischer König geworden ist, als Schutzherrn. Lorsch wird zum Reichskloster und ist dem Zugriff Heimerichs entzogen.

Fazit: Innerhalb weniger Jahre wird das Kloster mit über 3.800 Besitzungen, Rechten usw. geradezu überhäuft und entwickelt sich zu einem wirtschaftlichen und kulturellen Mittelpunkt erster Güte. Man hat Besitzungen von Lothringen bis zum Mittelrhein – schwierig zu verwalten, aber relativ krisenfest. Die weite Streuung von Besitzungen macht unabhängig von lokalen Krisen.

0.6.Wieso existiert die Urkunde noch heute und wie geht es weiter mit Lorsch und Hahnheim?

Fragen wir zu Schluss: Wieso ist die Urkunde heute noch erhalten – schließlich liegen 1250 Jahre dazwischen? Zu Anfang habe ich gesagt, dass die Urkunde von 764 nicht im Original überliefert ist. Hahnheim verdankt seine Ersterwähnung einer Klosterkrise. Wir erinnern uns: Mit rasanter Geschwindigkeit hat sich das Kloster entwickelt. Im 12. Jahrhundert geht es allerdings zunehmend bergab. Im Zuge der allgemeinen Entwicklung verliert das Kloster immer mehr den Zugriff auf seine Besitzungen.

Das hängt mit dem Lehenswesen zusammen. Sie müssen sich vorstellen: Das Kloster verleiht Ländereien an einen Adligen, die Ländereien gehen vom Vater auf den Sohn über, von diesem wieder auf dem Sohn, schließlich wird das Lehen erblich und irgendwann gehört das Land dem Adligen.

Das ist der Grund, dass man in einem Buch, einem Codex, dem heute sogenannten Lorscher Codex, eine Zusammenfassung der Klostergeschichte und Abschriften von über 3.800 Urkunden erstellt. Der besondere Wert des Buches liegt darin, dass die darin enthaltenen Abschriften die einzige erhaltene Überlieferung der vollständig verloren gegangenen Originalurkunden darstellen. Urkunde 1 von 764 betrifft gleich Hagenheim.

Wie ist es mit Lorsch und Hahnheim weitergegangen? Aus der Geschichte wissen wir: Der Codex hat dem Kloster Lorsch nichts geholfen. Das Kloster verliert seine Eigenständigkeit: 1229 wird es dem Mainzer Erzbischof unterstellt, 1461 wird es im Zusammenhang mit der Mainzer Erzstiftsfehde an die Kurpfalz verpfändet. 1556 löst Pfalzgraf Ottheinrich, der sich der Reformation angeschlossen hat, das Kloster auf. 1623 kommt es an Kurmainz zurück – allerdings als Ruine, denn zwei Jahre zuvor haben spanische Truppen die Klosteranlage verwüstet. Seitdem verfällt das Kloster zunehmend – bis auf die Torhalle. Heute ist diese Torhalle eine der wenigen vollständig erhaltenen Bauwerke der Karolingerzeit und seit 1991 UNESCO-Welterbe.

Im Zusammenhang mit der Klosterkrise tritt Lorsch seine Rechte in Hahnheim schon im 12. Jahrhundert an verschiedene Herren ab. 1560 geht der Ort samt Kirche in den Besitz der Herren von Dienheim über, die sich dort ein schickes Schlösschen erbauen. Hahnheim bleibt bis zum Ende des Alten Reiches im Besitz der Herren von Dienheim.

Im 8. Jahrhundert gehört die gesamte Region noch zum Wormsgau. Das hat sich 700 Jahre später gewaltig geändert. Typisch für unsere Region ist die territoriale Zersplitterung in kleine und Kleinstherrschaften. Hahnheim mit seinen Ortsherren v. Dienheim gehört dazu.

Die mächtigsten Potentaten in der Region sind der Mainzer Erzbischof und der Pfalzgraf bei Rhein. Auffallend ist die deutliche Zurückhaltung des mächtigen Mainzer Erzbischofs in dieser Region. Man hat den Eindruck, dass er gleichsam eine Pufferzone zwischen dem Erzstift und seinem großen Widersacher, dem Pfalzgrafen, belassen will.

Erst um 1800 herum erfolgt – initiiert von den Franzosen - eine territoriale Flurbereinigung. Seit 1816 gehört Hahnheim zur Provinz Rheinhessen im Großherzogtum Hessen-Darmstadt und in zwei Jahren gibt es wieder etwas zu Feiern: das 200-jährige Jubiläum Rheinhessens.

Damit will ich schließen, ich habe aber noch ein kleines Geschenk. Wir werden am Institut für Geschichtliche Landeskunde innerhalb unseres landesgeschichtlichen Internetportals regionalgeschichte.net den Artikel zu Hahnheim ausweiten, damit die Geschichte der Gemeinde gebührend im Internet vertreten ist. Als erstes stelle ich morgen meine heutige Rede dort ein und dazu Heft 13 der Mitteilungsblätter zur rheinhessischen Landeskunde mit den Beiträgen zur 1200-Jahr-Feier. Ich wünsche den weiteren Feierlichkeiten einen guten Verlauf und viel Glück für die nächsten 50 Jahre bis zur 1300-Jahrfeier. Dann kommen Rheinhessische Heimatforscher und Institut für Geschichtliche Landeskunde wieder und gratulieren.

Verfasser: Dr. Elmar Rettinger

Weiterführende Literatur:

  • 1250 Jahre Hahnheim. Festschrift zum Jubiläum 2014. Hahnheim 2014.
  • Dienemann-Dietrich, Irmgard: Der fränkische Adel in Alemannien im 8. Jh., Grundfragen der alemannischen Geschichte. Lindau, Konstanz 1952. Nachdruck 1962 (Vorträge und Forschungen 1).
  • Glöckner Karl, Lorsch und Lothringen, Robertiner und Capetinger. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 89, 1937, S. 301ff.
  • Glöckner, Karl (Hrsg.): Codex Laureshamensis. Bd. 1: Einleitung, Regesten, Chronik. Darmstadt 1929. Persistente URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/gloeckner1929ga.
  • Semmler, Josef: Die Geschichte der Abtei Lorsch von der Gründung bis zum Ende der Salierzeit (764-1125). In: Friedrich Knöpp (Hrsg.): Die Reichsabtei Lorsch. Festschrift zum Gedenken an ihre Stiftung 764. Darmstadt 1973-1977, S. 75-174.
  • Werle, Hans: Das Erbgut des Grafen Adalhelm zu Hahnheim. In: Josef Rick: Die Weinbaugemeinde Hahnheim (Die Rheinfront. Schriftenreihe für die Rheinfrontorte und Umgebung. H. 2), Bechtolsheim 1966, S. 51-55.
  • Werle, Hans: Haganonis Villa. In: Mitteilungsblatt zur rheinhessischen Landeskunde 13, H. 3/4, S. 172-177.
  • Zurowski, Marek: Hahnheim 764-1990. Aus der Geschichte einer rheinhessischen Weinbaugemeinde. Horb am Neckar 1991

Erstellt: 16.03.2014

Anmerkungen:

  1. Mitteilungsblatt zur rheinhessischen Landeskunde 13, 1964, H. 3-4, S. 165. Zurück
  2. Glöckner, Karl (Hrsg.): Codex Laureshamensis. Bd. 1: Einleitung, Regesten, Chronik. Darmstadt 1929, S. 267. Internet: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/gloeckner1929bd1/0279?sid=dae04d914900863fc5366da0db2271a0 (Aufruf am 16.3.2014). Zurück
  3. Lorscher Codex . Deutsch. Bearb. von K. J. Minst, Bd. 1, Lorsch 1966, S. 50. Zurück