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0.Rudolf Rocker

Rudolf Rocker

Am 25. März 2023 jährt sich Rudolf Rockers Geburtstag zum 150. Mal. Rocker, zu dessen Unterstützer sich der Physiker Albert Einstein, der Schriftsteller Thomas Mann und der Philosoph und Aktivist Bertrand Russell zählten, war einer der Begründer der anarchosyndikalistischen Bewegung und Autor eines ihrer zentralsten Texte „Anarchosyndikalismus: Theorie und Praxis“. In diesem Werk definiert Rocker den Anarchosyndikalismus als eine Verschmelzung „des freiheitlichen oder anarchistischen Sozialismus“ mit der „organisatorischen Gestaltung“ des revolutionären Syndikalismus, einer während Rockers Lebzeiten in Frankreich besonders starken Bewegung, die „im direkten Gegensatz zu dem politischen Sozialismus“ steht [Anm. 1] Viele bringen seinen Namen mit Emma Goldman (1869-1940), Pjotr Kropotkin (1842-1921), Erricho Malatesta (1853-1932) und Gustav Landauer (1870-1919) in Verbindung, wichtige internationale anarchistische Denker, zu denen er allesamt Freundschaften und Korrespondenzen pflegte. Auch ist sein Einfluss auf zeitgenössische Denker und Koryphäen wie Noam Chomsky, den weltberühmten Linguisten und Philosophen und einer der meistzitierten lebenden Denker, [Anm. 2] bekannt.

Dennoch fällt auf, dass die Person Rudolf Rocker in seiner Heimat Mainz nahezu in Vergessenheit geraten ist. Wer war er und welche Bedeutung hat er für die Gegenwart? Zweitens geriet fast vollkommen in Vergessenheit, inwieweit seine Heimat Mainz ihn beeinflusst hat. Rockers besondere Art des libertären Sozialismus war zutiefst von seiner Erziehung im Mainz des jungen deutschen Kaiserreichs, mit dessen autoritären „Antisozialistengesetzen“ und seinen persönlichen Erfahrungen in Paris, London und Berlin inspiriert. Es ist wichtig, diese mit seinen späteren Aktivitäten und Ansichten in Verbindung zu bringen.

1.1.Kindheit

Johann Rudolf Rocker wurde am 25. März 1873 als Sohn von Georg Philip und Anna Margaretha Rocker, geb. Naumann in Mainz geboren. Mainz selbst befand sich seit dem Sieg der Deutschen über die Franzosen (Deutsch-Französischer Krieg) im Jahr 1871 stark im Wandel. Schließlich war das junge Deutsche Kaiserreich aus dem Krieg hervorgegangen, während sich viele Mainzer über die Anwesenheit preußischer Truppen empörten, welche viele der Einwohner der Stadt keineswegs als ihre Landsmänner oder Volksgenossen sahen. Rockers Biograf Peter Wienand berichtet von wiederholten „Reibereien zwischen Militärs (speziell Preußen) und Zivilisten" [Anm. 3] und Rocker selbst schrieb: „[D]ie tiefe Abneigung gegen das Preußentum… fand… in allen Schichten des rheinischen Volkes einen deutlichen Ausdruck“ und „[d]er innere Widerstand gegen die nationale Einheit Deutschlands unter der Führung Preußens war damals noch stark fühlbar im Volk." [Anm. 4] In der Tat behauptet Rocker: „Der bewegliche und lebhafte Charakter der rheinischen Bevölkerung, dem jede starre Regel und erzwungene Zucht in der Seele zuwider war, fühlte sich zu den temperamentvollen Franzosen mehr hingezogen, als zu den Preußen." [Anm. 5]

Die Revolutionserlebnisse von 1848/49 waren noch im kollektiven Gedächtnis der älteren Generation und brachten Mainz den Titel „republikanischste Stadt Deutschlands" [Anm. 6] ein. Ihre Arbeitervereine galten als die radikalsten in Deutschland, und bereits 1830 hatten in der Gegend von Mainz und Frankfurt sozialistische Tendenzen bestanden, beeinflusst und inspiriert durch französische und schweizerische Propaganda und Emigranten. Dies ist der Kontext, in den Rocker hineingeboren wurde.

Rockers Vater arbeitete als Drucker beim renommierten Schott-Verlag, der unter anderem auch Wagner Partituren veröffentlichte. 1877 starb Rockers Vater an Tuberkulose. Wie Peter Wienand bemerkt, „hungerte damals niemand wirklich“ in Mainz, da sich die meisten Menschen auf das verlassen konnten, was der englische Historiker E.P. Thompson später die „moralische Ökonomie der Armen“ nannte, eine Art kollektiver Akteur, die man dem Modell der rein individuellen Akteure der neuklassischen Ökonomie gegenüberstellen könnte und die Thompson definierte als „eine konsistente traditionelle Sicht auf soziale Normen und Verpflichtungen sowie auf die eigentlichen wirtschaftlichen Funktionen mehrerer Parteien innerhalb der Gemeinschaft“. [Anm. 7] Für Rocker waren seine Großmutter und sein Onkel wichtige Förderer in dieser schwierigen Zeit. [Anm. 8]

Carl Rudolf Naumann, Rudolfs Onkel, arbeitete als Buchbinder. Es war „Petter“ Carl, der Rockers Nähe zum Buchbinderberuf herstellte. Darüber hinaus hatte er großen Einfluss auf Rockers lebenslange Lernfaszination. „Petter“ Carl, in der Familie auch „der Professor“ genannt, hatte eine umfangreiche universitäre Bildung der Naturwissenschaften genossen, bevor er gezwungen wurde, das Buchbinderhandwerk zu erlernen, ein Beruf, der dennoch ein gewisses Maß an Nähe zu diversen Schriften ermöglichte. „Petter“ Carls Privatbibliothek, „für einen Arbeiter erstaunlich umfangreiche Bibliothek“ [Anm. 9], eröffnete dem jungen Rudolf erste Möglichkeiten für sein lebenslang praktiziertes autodidaktisches Lernen. So kam Rudolf über die Bibliothek seines Onkels in ersten Kontakt mit wissenschaftlichen Evolutionstheorien sowie mit den Romanen von Victor Hugo (z. B. Les Miserables).

Politisch beeinflusst wurde der junge Rudolf, neben radikalen Werken von Ferdinand Lasalle (1826-1864), August Bebel (1840-1913) und Karl Liebknecht (1871-1919), einem Vordenker und zwei Mitgründern der sozialistischen Arbeiterpartei (SAP). Die beiden letzteren konnte er auch persönlich in Mainz während Versammlungen in der damaligen „Neuen Stadthalle“ sprechen hören („Hier… sah ich das erstemal riesige Massen dicht zusammengedrängt, die mit atemloser Spannung den Worten der Redner lauschten" [Anm. 10]).  Insbesondere aber wurde der junge Rocker durch ein Werk von Constantin Frantz geprägt, das sein Onkel in seiner Bibliothek hatte. Das 1879 in Mainz erschienene Buch mit dem Titel „Der Föderalismus als das leitende Princip für die sociale, staatliche und internationale Organisation; unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland“ fand große Anhängerschaft im Mainzer Bildungsbürgertum, und Rocker zufolge hatte dieses Buch auf seine „angehende politische und geistige Entwicklung eine sehr starke Wirkung." [Anm. 11]

Doch bevor Rocker in das Buchbinderhandwerk einstieg, erlebte er eine weitere persönliche Tragödie. 1887, als er 11 Jahre alt war, starb seine Mutter. Sein Stiefvater (die Mutter hatte 1884 erneut einen Buchbinder geheiratet) ließ Rocker wenige Jahre später in einem Waisenhaus unterbringen. Die Erfahrungen, welche Rocker in der katholisch geführten Einrichtung in Mainz sammelte, prägten stark seine spätere Persönlichkeit und Einstellung und hier vor allem seine antiautoritäre Haltung und Ablehnung jeglicher Art von Willkür. Rocker schrieb in seinen Memoiren weiter: „Man hat sich oft darüber gewundert, dass aus Waisenhäuser[n…] eine so große Anzahl späterer Übeltäter hervorgeht. Wer Gelegenheit hatte, das Leben  dort persönlich kennen zu lernen, wird sich nur darüber wundern, dass ihre Zahl nicht größer ist." [Anm. 12]

Rudolf musste im Waisenhaus einen Beruf erlernen. Nachdem die Verwaltung ihm verweigert hatte, das Schifferhandwerk weiter zu erlernen, durch das er kurzzeitig Städte entlang des Rheins wie Duisburg kennengelernt hatte, [Anm. 13] erlaubte man ihm, das Handwerk seines „Petters“, das des Buchbinders, zu erlernen. Es war eine Entscheidung, die sich auf den Rest seines Lebens auswirken sollte.

2.2."Die Jungen" und Exil nach Paris

Um die Zeit der Reichstagswahl 1890 trat der junge Rocker begeistert der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) bei. Rocker beteiligte sich aktiv am Wahlkampf für Franz Jöst (1851-1921), den damaligen SAP Reichstagskandidat für Mainz und Oppenheim. Mit Eifer ging er während des Wahlkampfs auch in die Mainzer Vororte: „Wir entwickelte damals eine fieberhafte Tätigkeit, um die öffentliche Meinung in unserem Sinne zu beeinflussen. Besonders wir jungen Leute waren wochenlang unermüdlich tätig, um durch Verbreitung von Flugschriften, Vorbereitung von Versammlungen und Propaganda in den umliegenden Dörfer[n] die Wahl unseres Kandidaten zu sichern.“ Allerdings wurde das sozialistische Programm nicht überall gleichermaßen willkommen geheißen. So Rocker: „Dabei kam es nicht selten vor, dass wir auf dem Lande von fanatischen Bauern tätlich angegriffen und mit Heugabeln und Dreschflegeln aus den Dörfern verjagt wurden." [Anm. 14] Trotzdem gelang es Rocker und seinen Parteigenossen, Jöst und der SAP den Einzug für den Mainzer Wahlbezirk zu sichern, den er bis 1896 behalten würde.

Zu jener Zeit ließ sich der junge Rocker von Johann Most (1846-1906) und seiner Zeitschrift Freiheit beeinflussen. Most, „der Gründungsvater des deutschen Anarchismus" [Anm. 15], war eine oppositionelle Figur innerhalb der SAP und zwischen 1874-78 Reichstagsabgeordneter der Partei für Chemnitz. Most zeichnete sich durch seine radikalen Forderungen aus und prägte den Begriff „Propaganda der Tat“, der allerdings nicht von Anfang an mit „Attentat“ gleichzustellen war, sondern jede Form der „direkten Aktion“ umfasste. Most distanzierte sich später in seinem Leben von dem Begriff. [Anm. 16] Rocker, der selbst stets lebenslang ein Gegner der „Propaganda der Tat“ war, labte sich an der Vielfalt an radikaler Gesinnung, die in Mosts Zeitung zu finden war. Er schloss sich einer oppositionellen Gruppierung namens „Die Jungen“ an. Diese Gruppierung, die ihre lautesten Anhänger in Berlin hatte, einer Stadt, die Rocker damals auch besuchte, wurde 1891 aus der Partei ausgeschlossen.

Rocker floh Ende 1892, nach einer missglückten Arbeitslosenversammlung in Mainz, nach Paris. Der Grund, weshalb Rocker fliehen musste, war Sepp Oerter. Dieser trat bei der erwähnten Versammlung auf, bei der „alles anfangs gut zu laufen schien" [Anm. 17]. Jedoch, während Rudolf und andere Redner an dem Abend „selbst recht genau wusste[n], wie weit [sie] in Mainz [ihre] Karten ausreizen durfte[n], ohne zu überreizen, war diese Schwelle einem der nächsten Redner nicht bekannt, und dass sollte sich verhängnisvoll auswirken." [Anm. 18] Als Oerter, der am selben Tag überraschend aus Belgien anreiste, anfing, zu sprechen, „hatte [er] sofort das Gefühl, dass die Sache schief gehen würde" [Anm. 19]. Tatsächlich löste der anwesende Polizist die Versammlung auf und nahm Oerter an der Stelle fest. Dieser würde acht Jahre im Zuchthaus verbringen, darüber auch ein Buch schreiben, und später sogar Ministerpräsident des Landes Braunschweig werden. Auch Rocker wurde durch seine Funktion als Redner und Organisator der Veranstaltung ins Visier der Polizei genommen. Kurz darauf wurde er durch einen Freund gewarnt und verschwand am folgenden Tag von seiner Arbeit durch eine Hintertür. Er verließ Mainz und machte sich über Frankfurt nach Paris. Seine Heimatstadt Mainz sollte er nie wieder erblicken. [Anm. 20]

In Paris lernte er den politischen Anarchismus kennen, zum Beispiel durch Begegnungen mit Griffuelhes, Pouget, Yvetot, Delesalle, Felloutier und Jean Graves. Dieser war zu jener Zeit in Frankreich viel weiterentwickelt als der deutsche. Rocker erinnerte sich später daran, wie glücklich es für seine eigene Entwicklung war, zu dieser Zeit in Frankreich ein Wiederaufleben des libertären Sozialismus zu erleben. Insbesondere die Bewegung der „Parti Ouvrier Socialiste Revolutionaire“ geführt durch Jean Allemane beeindruckte Rocker stark. Die „Betonung der Gewerkschaftsarbeit, Konzentrierung auf die Syndikate, Ablehnung ideologischer Doktrinen wie deren Urheber, der Intellektuellen, föderalistisches Organisationskonzept; diese Vorstellungen fanden ein großen Echo" [Anm. 21] in der nach der Niederlage der Pariser Commune entstehenden revolutionären Bewegung.

Laut Rockers Biograf Peter Wienand „warteten [die Anarchisten] nicht mehr, dass das Proletariat zu ihnen käme, sie selbst gingen zum Proletariat." [Anm. 22] In diesem Zusammenhang wurde auch die Confédération Générale du Travail (CGT) gegründet, eine auf „syndikalistischen“ Grundlagen gegründete Gewerkschaft. Aus der Verschmelzung dieses praktisch orientierten Ansatzes zur Organisierung von Arbeitern und Rockers eigenem Libertarismus, der vom frankophilen Republikanismus des Rheinlands geprägt war, entstand Rockers eigene Hingebung zum Anarchosyndikalismus.

Jedoch dauerte die Anarchismus-Renaissance nicht lange an und, insbesondere nach den gehäuften Anschlägen im März 1892 und der späteren Hinrichtung Francois-Claude Ravachols, eines deutsch-französischen Anarchisten, der „sowohl zum Symbol des Rebellen als auch Opfer einer ungerechten Gesellschaftsordnung [wurde] wie auch zum Schreckensbild des Verbrechers, der extreme politische Ansichten als Vorwand für kriminelle Neigung nutzt" [Anm. 23] im Juli 1892,  spaltete sich die anarchistische Bewegung. Anhänger der sogenannten „Propaganda der Tat“, die zum Teil jegliches Mittel zum revolutionären Umsturz rechtfertigten, machten die Lage für Menschen wie Rocker, der solche Handlung als „gegen die Natur des Menschen" [Anm. 24] beschrieb und eher nur in der „Erziehung und Umgestaltung der äußeren Lebensverhältnisse“ die Verbesserung „der geistige[n] Ausblicke der Menschen" [Anm. 25] sah, schwierig. Als 1894 Anschläge auf die französische Nationalversammlung, die Assemblée nationale, und 1895 selbst auf den Präsidenten Frankreichs stattfanden, musste Rocker, der stets ein Kritiker und Ablehner der „Propaganda der Tat“ in seiner extremsten Form war, erneut fliehen.

3.3.Londoner Jahre

Rudolf Rocker mit seiner Frau Milly Witkop und dem gemeinsamen Sohn Fermin. Rocker lernte die ukrainische Anarchistin in London kennen.

Rocker verbrachte den größten Teil seines Lebens in London. Hier lernte er auch seine spätere Frau Milly Witkop kennen, eine ukrainische Jüdin mit anarchistischer Prägung, zu der Rocker eine lebenslange Seelenverwandtschaft spürte, die sein Werk beeinflusste und die ihm für den Rest ihres gemeinsamen Lebens zur Seite stehen sollte.

Gleich nach seiner Ankunft 1895 spazierte er durch die riesig erscheinende Stadt und war bestürzt über das Ausmaß der Klassentrennung in England. Schließlich lernte er jüdische Anarchisten im berüchtigten East End kennen und wurde schnell zum beliebten Redner. Der Rocker-Biograf Peter Wienand bemerkte hierzu, dass die Tatsache, dass Rocker, ein blonder „Goi“ (Nichtjude), bald Herausgeber des Arbeter Freints wurde, einer anarchistischen Zeitung in jiddischer Sprache, ohne überhaupt Jiddisch zu sprechen, ein Zeichen für die hohe Wertschätzung sei, die er unter jüdischen Anarchisten genoss. [Anm. 26]

Während seines Aufenthalts in London freundete sich Rocker mit mehreren Größen aus der anarchistischen Bewegung, darunter Errico Malatesta und Pjotr Kropotkin an. Rockers Persönlichkeit und sein weitreichendes Wissen machten ihn bei Leuten wie Kropotkin, mit dem Rocker häufig auftrat, beliebt. Die beiden arbeiteten auch zusammen, um Streiks in Londons „Sweatshops“ zu organisieren. Das Sweat-Shop-System war im Grunde eine Art Schneeballsystem, in dem „der Arbeitsvorgang selbst weitestgehend zerlegt war und von Spezialisten […] ausgeführt, die nach Stückzahl entlohnt wurden.“ Schreibt Peter Wienand, „[d]a die vollausgebildeten Arbeiter normalerweise die nötigen Hilfskräfte selbst anstellten, so herrschte in diesem System ein Mechanismus der Ausbeutung bei dem jeder jeden antrieb, um möglichst viel für sich herauszuschlagen." [Anm. 27] Da London sowohl Ziel als auch Transitstation für viele Einwandernde war, ließen sich unzählige Juden aus Osteuropa, viele auf der Flucht vor Pogromen in Russland, für unterschiedlich lange Zeit in London nieder. Diese waren oft bereit, für sehr schlechte Löhne „Sweat Arbeit“ zu betätigen. [Anm. 28]

Ernst Simmerling, Rudolf Rocker, Wuppler, Lazar Sabelinsky, Loefler, (hinten) Milly Witkop-Rocker, Milly Sabel (vorn)

Da viele der Neuankömmlinge verzweifelt waren und sprachliche oder kulturelle Hürden eine stärkere Integration vor Ort verhinderten, war das klassische Gewerkschaftsmodell in den Ausbeutungsbetrieben unmöglich. Dies gab Rocker und anderen Anarchisten die Gelegenheit, die auf diese Weise benachteiligten Migranten zu organisieren. Eine ganze Generation jüdischer Migranten kam daher mit Rocker und seinen Mitarbeitern in Berührung. Dazu gehörte die Organisation „wilder“ Streiks, das heißt „inoffizielle, illegale Streiks“, die nicht durch ein anerkanntes Gremium der Arbeitnehmervertretung, z.B. Gewerkschaften, unterstützt wird, [Anm. 29] genauso wie die Gründung von Selbsthilfevereinen und Volkshochschulen. Rockers Beiträge wurden als „unschätzbar wertvoll“ beschrieben, und Sam Dreen, ein jüdischer Migrant aus Wizebsk und einer der jüngsten Zusammenarbeiter des Arbeter Freints, [Anm. 30] bezeichnete Rocker sogar als „unseren Rabbiner." [Anm. 31] 

4.4.Zurück in Deutschland

1914 wurde Rocker in seiner Wohnung in London verhaftet und vier Jahre lang als „feindlicher Ausländer“ (enemy alien) inhaftiert, bevor man ihn nach Dänemark deportierte. Schließlich ließ er sich in Berlin nieder, da sein ursprünglicher Plan, sich „in seiner süddeutschen Heimat [also, Mainz] niederzulassen“, durch die damalige Besetzung des linken Rheinufers durch die alliierten Truppen erschwert wurde. [Anm. 32] Rocker nutzte die „Gnadenfrist“ der „unruhigen Jugendjahre der Weimarer Republik“, in denen scheinbar vieles möglich war und gleichzeitig, wie der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg (1891-1967) es beschrieb, „niemand wußte, was morgen geschehen würde" [Anm. 33], um einerseits seine Agitations- und Organisationstätigkeiten fortzusetzen und andererseits, um für sein Hauptwerk der politischen Theorie zu recherchieren und zu schreiben. Zu seinen organisatorischen Aktivitäten gehörte die Mitgründung einer breit angelegten Gewerkschaft nach dem Vorbild der International Workers of the World (IWW). Diese wurde 1920 in Freie Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) umbenannt, die folgende Ziele verfolgte: „Organisation der Betriebe und Werkstätten durch die Betriebsräte; Organisation der allgemeinen Produktion durch die industriellen und landwirtschaftlichen Verbände; Organisation des Konsums durch die Arbeiterbörsen." [Anm. 34] 1977 wurde die „Freie Arbeiter Union“ in Deutschland neu gegründet und ist heute landesweit aktiv.

Zu Rockers Forschungen und Schriften jener Zeit gehörten zahlreiche Broschüren, die sich kritisch mit der Sozialdemokratischen Partei (SPD) [Anm. 35] sowie mit der Theorie und Taktik der Arbeiterbewegung [Anm. 36] auseinandersetzten. Insbesondere widmete sich Rocker einem Manuskript, das ursprünglich den Titel „Die Entscheidung des Abendlandes“ trug und später unter dem englischen Titel „Nationalism and Culture“ veröffentlicht werden sollte. Das Manuskript war 1933 fast fertig, als der Reichstagsbrand und die Machtübernahme Hitlers in Berlin eine Veröffentlichung verhinderten. Rocker und seine Frau Milly verbrachten die nächsten drei Jahre unter dem sprichwörtlichen Damoklesschwert, bevor sie einen Tag nach der Verhaftung ihres Freundes Erich Mühsam Deutschland verließen. Rocker nahm sein Manuskript mit, ließ aber seine „wertvolle, etwa 5.000 Bände umfassende Bibliothek" [Anm. 37] zurück, als das Paar in einem der letzten Züge, die Deutschland ohne Durchsuchung verlassen konnten, die Schweizer Grenze überquerte.

4.5.Nationalismus und Kultur

"Nationalismus und Kultur" stellt Rockers Hauptwerk dar.

„Nationalism and Culture“ sollte Rockers Hauptwerk und zusammen mit „Anarcho-Syndicalism: Theory and Practice“ (ursprünglich 1938 auf Deutsch unter dem Titel „Anarchosyndikalismus“ verfasst) seine bedeutendste philosophische Abhandlung werden. Die deutsche Veröffentlichung des Buches verzögerte sich jedoch aufgrund des Aufstiegs der Nationalsozialisten im Jahr 1933 um mehr als ein Jahrzehnt. 1937 erschien in den USA eine englische Übersetzung. Doch der Verlag ging kurz nach der Veröffentlichung des Buches in Konkurs [Anm. 38] und das Buch erschien erst 1949 im deutschen Originaltext. Auch waren zu jenem Zeitpunkt die meisten Deutschen mehr daran interessiert, ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen als an Grundlagen schaffender politischer Philosophie. Dabei war Rockers Idee der Gegenüberstellung von Föderalismus und Zentralismus im Kampf zwischen Nationalismus und Kultur angesichts von Gewalt und Zerstörung des Krieges gerade hier relevant. Diesen Gegensatz erläuterte Rocker vor dem Hintergrund unzähliger historischer Beispiele aus Griechenland und Rom, dem mittelalterlichen Frankreich und der Renaissance entwickelt hat. Rockers Hauptthese in dem Buch war, dass Kultur und Gemeinschaft überall dort blühten, wo das „Nationalgefühl“ am wenigsten ausgeprägt war, etwa im antiken Griechenland und während der Renaissance. Dies, da „man mit dem Schwerte wohl Staaten schaffen [kann], aber keine Kultur; denn sie steht über allen Staatsgebilden und Herrschaftseinrichtungen und ist ihrem innersten Wesen nach anarchisch“. [Anm. 39]

Rockers Buch "Anarcho-Syndikalismus" zählt zu seinen bedeutendsten Abhandlungen.

Rocker war überzeugt, dass das wohl bedeutendste Ereignis der Weltgeschichte die Reformation war, den er vom Protestantismus selbst trennte. Rocker schrieb, dass „man zwei Richtungen sorgfältig voneinander scheiden [muss]: Die Volksrevolution der Bauern und der unteren Schichten in den Städten und den sogenannten Protestantismus der […] lediglich auf die Trennung von Staat und Kirche hinarbeitete und vor allem bestrebt war, die ganze Macht in die Hände der Staatsgewalt zu legen." [Anm. 40] Für ihn bedeutete die Reformation eine Bewegung, die nicht nur von der Idee der Freiheit des Gewissens, sondern auch von jener der Vereinigung und der Arbeit inspiriert war, oder laut Rocker selbst, „[richteten d]ie revolutionären Bestrebungen der Massen sich nicht nur gegen den römischen Papismus, sondern in viel höherem Maße gegen die gesellschaftliche Ungleichheit und die Vorrechte der Reichen und Mächtigen." [Anm. 41] Daher schließt die Reformation für Rocker Perioden wie die Aufklärung und die Französische Revolution mit ein und wird so lange unvollständig bleiben, bis die individuelle Freiheit und Selbstbestimmung über die Fremdbestimmung siegt.

5.6.Zweites Exil und spätere Jahre

Nachdem er Deutschland 1936 verlassen hatte, verbrachte Rocker eine kurze Zeit in London, wo sein Sohn Fermin (1907-2004) zurückbleiben sollte. Er selbst wurde aber von Emma Goldman überzeugt, in die Vereinigten Staaten umzusiedeln. Dort zog er mit Milly in die Mohegan Colony, eine experimentelle anarchistische Gemeinde etwa 40 Meilen entfernt von New York City. Dies sollte für den Rest seines Lebens seine Heimat bleiben. Sein Aufenthalt in den USA verlief nicht ohne Turbulenzen: Ein erklärter deutscher Anarchist, der das Land durchquerte, Reden hielt und verschiedene kritische Traktate veröffentlichte, fiel, besonders in einer Zeit der steigenden politischen Spannungen während einem sich ausbreitenden „kalten Krieg“, auf. Nur dank der Fürsprache verschiedener Journalisten, Akademiker und prominenter Persönlichkeiten wie Albert Einstein, der mehrere Briefe mit Rocker austauschte und einen öffentlichen Unterstützungsbrief für ihn verfasste, konnte Rocker sich dauerhaft in den USA niederlassen. [Anm. 42]

In dieser Zeit entstanden einige der bedeutendsten Schriften Rockers, darunter sein Werk „Pioneers of Freedom“, das die Bedeutung des liberalen und anarchistischen Gedankengutes bei der Gründung der Vereinigten Staaten beschreibt und Persönlichkeiten wie Henry David Thoreau, William Lloyd Garrison und Josiah Warren vorstellt.

Darüber hinaus sind Rockers Schriften über den spanischen Bürgerkrieg aus der Zeit von 1936 bis 1939, in denen er die spanische Republik und die Confederación Nacional del Trabajo (CNT) gegen die faschistischen Kräfte unterstützte, Beweis für sein unermüdliches Eintreten für Gerechtigkeit. Darunter fallen Schriften wie „Die Wahrheit über Spanien“ und „Die spanische Tragödie“. Diese und andere Tätigkeiten machen ihn bis in die Gegenwart insbesondere bei spanischen und spanischsprachigen Radikalen beliebt. Ein Beweis dafür: Eine von Rockers Memoiren ist, über Jiddisch hinaus, nur auf Spanisch erhältlich.

Anlässlich des 80. Geburtstags der „lebenden Legende" [Anm. 43] im Jahr 1953 gratulierten renommierte Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Thomas Mann und Bertrand Russell Rocker zu seinem lebenslangen Einsatz für die Arbeiterbewegung.

Milly Witkop starb in Mohegan County, New York, am 23. November 1955. Rocker überlebte seine Lebenspartnerin um drei Jahre und starb - auch in Mohegan County - am 19. September 1958. Ihr Sohn Fermin lebte weiter in London, wo er als Maler tätig war, und starb dort am 18. Oktober 2004. Es gibt noch drei direkte Nachfahren Rockers: Sein Enkel Philip Rocker und dessen zwei Kinder, die allesamt in London leben.

5.7.Vermächtnis

Rudolf Rocker

Rockers Vision einer sich entfaltenden Ethik der persönlichen Freiheit und Gemeinschaft, die auf Autonomie und Freiwilligkeit basiert, findet, wie Noam Chomsky [Anm. 44] beobachtet, ihre moderne Verkörperung in Form von Genossenschaften und einer breit angelegten Organisierung informeller sowie sogenannter „Gig-Economy“-Arbeiter (z.B. für Lieferdienste tätige Auslieferer). Auch zeitgenössische Konzepte wie die „Plattform-Genossenschaft“ könnten als Ausfluss von Rockers anarchistischer Prinzipien und syndikalistischer Taktiken interpretiert werden, denn die Organisation dieser prekären Arbeit, die man auch mit der „Sweat work“, gegen die Rocker aufrief, vergleichen kann [Anm. 45], geht oft an etablierten Gewerkschaften vorbei. [Anm. 46] 

Nach dem Vorbild des brasilianischen Pädagogen und Philosophen Paolo Freire steht der Name Rudolf Rocker auch als persönliches Beispiel für die Idee und Bemühung, Bildung als Weg zur Selbstbefreiung der Arbeiterschaft zu nutzen. Trotz seiner vielen persönlichen und politischen Schwierigkeiten hatte Rocker eine Geisteshaltung, die von Menschen in aller Welt geschätzt wurde und noch heute als Exponat eines kompromisslosen Individualismus und als Chronist der Geschichte freiheitlicher Bestrebungen von der Antike bis in das 20. Jahrhundert von Bedeutung sein sollte. Er hinterließ unzählige kleinere und größere Werke. Er schrieb auch mehrere Memoiren, die ins Spanische, Englische und andere Sprachen übersetzt wurden. Albert Einstein bezeichnete Rockers Hauptwerk als „sehr bedeutend" [Anm. 47] und zu seinen Anhängern zählen sich Literaten, Philosophen und Universitätskanzler. [Anm. 48] Sein Buch „Anarcho-Syndicalism: Theory and Practice“ ist eine grundlegende Zusammenfassung dieses besonderen Zweigs des libertären Sozialismus und steht neben Klassikern wie Kropotkins „Gegenseitige Hilfe“. [Anm. 49]

Verfasser: Dr. Jerome Warren

Erstellt am: 14.12.2023

 

Quellen und Literatur:

  • Becker, Heiner: Johann Most, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz 41 (2005), S. 5-66. Birke, Peter: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder: Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt am Main und New York 2007.
  • Chomsky, Noam: What Is the Common Good? Rede an der Columbia University, 6. Dezember, 2013, https://chomsky.info/20140107/.
  • Ders.: History and Future of the Cooperative Movement. Rede bei Platform Cooperatives Now!, 25. März 2021, https://econ.coop/2023/12/11/chomsky-pcn/.
  • Fishman, William J.: East End Jewish Radicals 1875-1914, Nottingham 1975.
  • Hoeder, Dirk (Hg.): Plutokraten und Sozialisten: Berichte deutscher Diplomaten und Agenten über die amerikanische Arbeiterbewegung 1878-1917, München 1981.
  • Macedo, Donaldo (Hg.): Chomsky on miseducation, Lanham 2004.
  • Rocker, Rudolf: Anarcho-Syndikalismus, Berlin 2021 [London 1938].
  • Ders.:  Aufsatzsammlung, Band 1 (1919-1933), Frankfurt 1980.
  • Ders.: Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten, Frankfurt 1974.
  • Ders.: Jugend eines Rebellen (unveröffentlicht).
  • Ders.: Nationalismus und Kultur, Münster 1999 [Die Entscheidung des Abendlandes, Hamburg 1949].
  • Ders.: Pioneers of American Freedom, Origin of Liberal and Radical Thought in America,  Los Angeles 1949.
  • Ders.:  La juventud de un rebelde » (Spanisch), Barcelona 1947; « Di yugnṭ fun a rebel » (Jiddisch), Buenos Aires 1965.
  • Scholz, Trebor: Uberworked and underpaid: How workers are disrupting the digital economy. Cambridge 2017.
  • Snider, Laureen: Enabling exploitation: law in the gig economy. In: Critical Criminology 26 (2018), S. 563-577.
  • Tapp, Terry:  A Serf’s Journal: The Story of the United States’ Longest Wildcat Strike, Winchester 2017.E.P. Thompson, Thompson, E.P.: The moral economy of the english crowd in the eighteenth century. In: Past & present 50 (1971)
  • Vallance, Margaret: Rudolf Rocker – A Biographical Sketch. In: Journal of Contemporary History 8 (1973), S. 75-95.
  • Wienand, Peter: Der „Geborene Rebell“. Rudolf Rocker, Leben und Werk, Berlin 1981.
  • Warren, Jerome: The Cooperative Economy: Toward a Stakeholder-led Democracy. Diss. Universität zu Köln 2022.

Anmerkungen:

  1. Rocker 1938, S. 77. Zurück
  2. Macedo 2000; „Chomsky Is Citation Champ”, MIT Tech Talk, 15.4.1992, https://news.mit.edu/1992/citation-0415Zurück
  3. Wienand 1981, S. 25. Zurück
  4. Rocker 1974, S. 22. Zurück
  5. Ebd., S. 23. Zurück
  6. Wienand 1981, S. 25. Zurück
  7. Thompson 1971, S. 79. Zurück
  8. Wienand 1981, S. 20. Zurück
  9. Ebd., S. 33. Zurück
  10. Rocker 1974, S. 29. Zurück
  11. Wienand 1981, S. 36. Zurück
  12. Rocker (unveröffentlicht), S. 95. Zurück
  13. Rocker 1974, S. 26ff. Zurück
  14. Ebd., S. 29. Zurück
  15. Vallance 1973, S. 75. Zurück
  16. Hoeder 1981, S. 150, und Becker 2006, S. 56. Zurück
  17. Rocker (unveröffentlicht), S. 110. Zurück
  18. Ebd., S. 111. Zurück
  19. Rocker (unveröffentlicht), S. 420. Zurück
  20. Wienand 1981, S. 111-112. Zurück
  21. Ebd., S. 127. Zurück
  22. Ebd., S. 127. Zurück
  23. Ebd., S. 100. Zurück
  24. Rocker 1974, S. 503. Zurück
  25. Wienand 1981, S. 136. Zurück
  26. Ebd., S. 193ff. Zurück
  27. Ebd., S. 180. Zurück
  28. Fishman 1975, S. 276ff. Zurück
  29. Tapp 2017, Kapitel 1. oder für den deutschen Zusammenhang, Birke 2007. Zurück
  30. Fishman 1975, S. 255 insbesondere Fußnote 3. Zurück
  31. Ebd., S. 254. Zurück
  32. Ebd., S. 272. Zurück
  33. Ebd., S. 307. Zurück
  34. Ebd., S. 293. Zurück
  35. Siehe z.B. „Sozialdemokratie und Anarchismus”, ursprünglich veröffentlicht in Anarchistische Propagandaschriften II, 1919, Verlag der freien Arbeiter, Berlin, und in dem er nicht nur „taktische”, sondern auch “prinzipielle Gegensätze” zwischen den beiden Strömungen aufzeigt. Zurück
  36. Siehe z.B. “Rocker über die verschiedenen Richtungen der Arbeiterbewegung”. In: Rocker 1980, S. 50ff. Zurück
  37. Wienand 1981, S. 367. Zurück
  38. Ebd., S. 390ff., sowie auch ein Brief von Emma Goldman an Rudolf und Milly Rocker, 24. Januar 1935. Zurück
  39. Rocker 1999, S. 349. Zurück
  40. Ebd., S. 93. Zurück
  41. Ebd., Siehe auch Warren 2022, S. 165ff. Zurück
  42. Wienand 1981, S. 388. Zurück
  43. Ebd., S. 443. Zurück
  44. Chomsky 2013. Zurück
  45. Scholz 2017; Snider 2018, S. 566ff. Zurück
  46. Chomsky 2021. Zurück
  47. Wienand 1981, S. 372. Zurück
  48. Z.B. Frederick Roman, Kanzler des University of California Systems, der Rocker in dem Vorwort zu „Pioneers of Freedom“ als „the embodiment of the free spirit” beschrieb. Rocker, 1949, S. xi. Zurück
  49. Siehe Noam Chomskys Vorwort aus der 1989 englischen Ausgabe, Rocker, 2021, S. 11. Zurück