9. Der Abzug der Besatzungstruppen am 30. Juni 1930
Nach Unterzeichnung der Locarno-Verträge verließ der letzte Wormser Kreisdelegierte Hedoin die Stadt am 11. März 1926, weshalb die Verwaltung des Kreises Worms nicht mehr der Interalliierten Rheinlandkommission unterstand. In den Jahren 1926, 1927 und danach zogen schrittweise auch Teile der Besatzungstruppen aus der Nibelungenstadt ab.[Anm. 1] Bis 1929 hatte sich bei deutschen und französischen Politikern die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Dawes-Plan von 1924 einer Aktualisierung bedurfte. Poincaré schlug Stresemann vor, die französischen Verhandlungen mit den USA dahingehend zu führen, dass die deutsche Reparationsschuld gegenüber Frankreich „in dem Maße vermindert werden könnte, in dem die Amerikaner ihrerseits auf einen Teil der französischen Schulden verzichten würden“.[Anm. 2] Außerdem war sein Ziel, die endgültige Regelung der Reparationszahlungen mit der gänzlichen Räumung der besetzten Gebiete zu verbinden.
Ein internationaler Ausschuss von Finanzexperten unter der Leitung des amerikanischen Juristen und Industriellen Owen D. Young arbeitete einen entsprechenden Plan aus. Der Young-Plan wurde im August 1929 auf der Konferenz von Den Haag angenommen, die Verknüpfung zwischen den deutschen Reparationszahlungen mit den interalliierten Schulden also akzeptiert. Die Alliierten verpflichteten sich im Gegenzug, bis zum 30. Juni 1930 sämtliche Truppen aus dem Rheinland abzuziehen, also fünf Jahre vor dem in Versailles vereinbarten Termin. Belgier und Engländer zogen ihre Besatzungstruppen bis zum 30. November 1929 zurück. Zugleich räumten die Franzosen ihre Zone im Raum Koblenz. Die Früchte seiner Arbeit erlebte Stresemann nicht mehr, denn er war im Alter von 51 Jahren am 3. Oktober 1929 gestorben. Die letzte besetzte Zone, nämlich Rheinhessen und die Pfalz, sollte bis 30. Juni 1930 frei von Truppen sein.[Anm. 3] Am 18. Mai gab Ministerpräsident Tardieu den Befehl, diese Zone zu räumen.[Anm. 4] Die Wormser Zeitung meldete, dass einige der letzten Wormser Truppen zusammen mit Oberst Cornier am 26. Mai abzogen. Leutnant de Pomery sollte noch die letzten Abwicklungen bis zum 30. Juni überwachen. An diesem Tag um 14 Uhr 30 verließ der letzte Truppentransport Worms und sogleich wurde auf dem Wormser Bahnhofsgebäude die deutsche Flagge gehisst.
Schon ab Mitte Mai wurden in der Stadt unter der Leitung von Oberbürgermeister Wilhelm Rahn umfangreiche Vorbereitungen für die Befreiungsfeierlichkeiten getroffen, die am späten Abend des 30. Juni 1930 stattfinden sollten. Alle Wormser Zeitungen berichteten ausführlich über deren Ablauf. Einen guten Überblick liefert das von der Wormser Zeitung herausgegebene Buch „Frei ist der Rhein“, das neben den Beiträgen der bald vergriffenen „Befreiungsausgabe“ vom 30. Juni 1930 weitere Artikel zur Besatzungszeit enthält.[Anm. 5] Darin kam die große Erleichterung der Bevölkerung zum Ausdruck, nun befreit von Pressezensur und anderen Verboten frei über diese schwere Zeit sprechen zu können, oft auch mit ironischem Unterton. Außerdem wurde in dem genannten Buch das Volksschauspiel „Der Rhein ist frei“ von Konrad Fischer abgedruckt, das anlässlich der Befreiungsfeier im städtischen Spiel- und Festhaus aufgeführt wurde. Titelgebend für die Aufsatzsammlung war allerdings das von Georg Richard Roeß stammende Gedicht „Frei ist der Rhein“, das in der Sondernummer der Wormser Volkszeitung erschien.[Anm. 6]
Die Wormser Zeitung berichtete am Befreiungstag auf Seite 1 unter dem Titel „Abschied der Rheinlandkommission“ über die letzte Sitzung der Kommission am vorvergangenen Tag.[Anm. 7] Der französische Oberkommissar Tirard danke General Guillaumat für seine Unterstützung beim Truppenabzug. Der belgische Oberkommissar Le Jeune de Munsbach und der englische Regierungsvertreter Herbertson würdigten die Tätigkeit Tirards und des Reichskommissars, des Freiherrn Langwerth von Simmern, obwohl die beiden letzteren oft unterschiedliche Interessen hätten durchsetzen müssen. Langwerth und Tirard bekräftigten zum Abschied, dass man nun in eine Versöhnungs- und Friedensperiode übergehe. In der gleichen Ausgabe der Wormser Zeitung wurde angekündigt, dass am gleichen Nachmittag um 17 Uhr 15 die Darmstädter Schutzpolizei mit 90 Mann und 15 Reitern feierlich über die Rheinbrücke nach Worms einziehen würde. Vom Führer der Wormser Bereitschaft, Herrn Jennewein, empfangen, marschiere man zum Marktplatz, wo die Darmstädter Schutzpolizei vom Wormser Polizeirat Maschmeier begrüßt werde. Dieser übernahm dann dort das Kommando, sodass Worms die Polizeigewalt nach fast zwölf Jahren Besatzung wieder selbst ausübte. Ein großer Fackelzug mit acht Staffeln setzte sich ab 22 Uhr 15 von der Kreuzung Hochheimer/Alzeyer Straße in Richtung Marktplatz in Bewegung. Die Zugstrecke verlief über die Seidenbender-, Friedrich-Ebert-, Rathenau- und Andreasstraße, Bismarckanlage, Lutherplatz, Kaiser-Wilhelm-Straße, Bahnhofsplatz, Siegfried- und Kämmererstraße zum Marktplatz.[Anm. 8] Die acht Staffeln setzten sich aus allen Wormser Vereinen und Abordnungen von Behörden und Berufsgruppen sowie konfessionellen Jugendverbänden und Schülern zusammen. Auch Soldaten des Infanterieregiments Nr. 118, begleitet von Reichswehrangehörigen, fehlten nicht. Besonders stark waren die Sport- und Musikvereine vertreten, unter ihnen der Reiterverein, die Turngemeinde Worms von 1846, der Turnverein Neuhausen, der Schwimmclub Poseidon, der Ruderverein, verschiedene Gesangsvereine, die Freiwillige Feuerwehr Worms mit Musik-, Trommler- und Pfeiferkorps. In der ersten Staffel befanden sich zudem die Ausgewiesenen und Gefangenen aus der Besatzungszeit. Den Schluss des Fackelzugs bildete die Freiwillige Werksfeuerwehr der Heylschen Lederwerke Liebenau, deren Arbeiter ebenso wie die Beschäftigten der anderen Firmen frei hatten, um an der Feier teilzunehmen. Um 21 Uhr 30 wurden der Dom und die Dreifaltigkeitskirche feierlich beleuchtet und gegen 22 Uhr trafen Oberbürgermeister Rahn mit der Stadtspitze, Beigeordnete und Regierungsräte, Vertreter des Reiches und des Volksstaats Hessen am Marktplatz ein.[Anm. 9] Kurz nach 23 Uhr erreichte der Fackelzug ebenfalls den Marktplatz.
Nach Gesangsdarbietungen des Sängergaus Worms eröffnete Oberbürgermeister Rahn die Rednerliste. Er holte weit aus und sprach über Kriegs- und Besatzungszeit, vom Versuch der „Lostrennung unserer Heimat vom Reiche“ und von den hohen Reparationsforderungen der Alliierten. Dann dankte er Gustav Stresemann, der entschlossen auf die Rheinlandbefreiung hingearbeitet habe. Wie Ludwig von Heyl gehörte Oberbürgermeister Rahn der DVP an und war dem ehemaligen Reichsaußenminister besonders verbunden. In die Freude über das Ende der Besatzung mischte sich bei Wilhelm Rahn die Sorge um die Not der Bevölkerung in der Wirtschaftskrise. In seiner Rede schwang das große nationale Pathos mit, das auch die Ansprachen der anderen Redner kennzeichnete. Der sozialdemokratische hessische Innenminister Wilhelm Leuschner entbot den Wormsern den Gruß seiner Regierung und erinnerte in seiner Rede an die Männer, „deren zielbewusster Führung wir die Stunde der Befreiung verdanken.“ Er nannte Ebert, Erzberger, Rathenau und Stresemann, Männer, die entweder im Amt früh verstorben oder von rechtsradikalen Terroristen ermordet wurden. Man sei zunächst, so Leuschner, „durch ein Meer von Blut und Tränen gewatet.“ Dann habe man durch die Einigkeit und das Opfer des Volkes die Freiheit wiedererlangt. Noch mehr als Rahn sprach Leuschner von der tiefgehenden wirtschaftlichen und sozialen Krise, die für weite Teile der Bevölkerung größte Entbehrungen bedeutete. Staatssekretär Schmid überbrachte den Wormsern die Grüße der Reichsregierung und des Reichstags. Seine Rede übertraf in ihrem Duktus das zeittypische patriotische Pathos der beiden anderen Redner, indem er ausrief: „Die alte deutsche Wacht am Rhein hat auch im waffenlosen Abwehrkampf der letzten 12 Jahre festgestanden.“ Das Ziel sei nun, alle Kräfte für einen Wirtschaftsaufschwung einzusetzen. Danach stimmen die 8000 Teilnehmer der Feier in das Singen des Deutschlandlieds ein.
In der Befreiungsnummer der Wormser Zeitung vom 30. Juni 1930 mit rotem Überdruck: „Frei ist der Rhein“ wurden auch die beiden Seiten einer silbernen Gedenkmünze der Vaterländischen Verbände abgebildet, die aus Anlass der Rheinlandbefreiung, geprägt vom bayerischen Hauptmünzamt, herausgegeben wurde. Die Vorderseite zeigt die Germania, die ihre „Kinder“, die Pfalz und das Rheinland, wieder empfängt. Die Umschrift lautet: „Pfalz und Rheinland Räumung 1930“. Die Rückseite zeigt den „Vater Rhein“ als Flussgott, der in den Fluten des Rheins steht (Umschrift: „Deutsch ist der Rhein.“). Ein weiteres Großereignis der Befreiungsfeierlichkeiten war die Neueröffnung des Städtischen Museums im Andreasstift am 1. Juli 1930.[Anm. 10] Durch eine große Spende Maximilian von Heyls (1844–1925) und durch Zuschüsse des Reichs, des Hessischen Staats sowie der Stadt Worms konnte das Museum eingerichtet werden. Seine Eröffnung war bewusst auf diesen Tag gelegt worden, um die Verbindung zwischen der rheinischen Kultur und der Nation zu demonstrieren. Ein besonderer Höhepunkt innerhalb der Feiern der Rheinlandbefreiung war der Besuch des Reichspräsidenten von Hindenburg, der am 19. Juli 1930 Worms mit einem Dampfer erreichte, der von Ludwigshafen kommend, später nach Mainz weiterfuhr.[Anm. 11] Zum Empfang standen die Wormser Bürger, viele Vereine, der Wormser Oberbürgermeister sowie die hessische Staatsspitze bereit. In seiner Rede dankte Hindenburg den Wormsern für ihre aufrechte Haltung während der Besatzungszeit. Gemeinsam mit dem Präsidenten sangen die Wormser Bürger zum Abschluss des Besuchs das Deutschlandlied.
Anmerkungen:
- Pujari, Worms unter französischer Besatzung, S. 52f. Zurück
- Poidevin/Bariéty, Frankreich und Deutschland, S. 361f. Zurück
- Pujari, S. 20. Zurück
- Ebd., S. 100ff. Zurück
- Frei ist der Rhein, S. 5f. Zurück
- Pujari, S. 112. Zurück
- WZ Nr. 327 (MB) vom 30.06.1930. Zurück
- Pujari, S. 102f und Frei ist der Rhein, S. 9-12. Zurück
- Vgl. im Folgenden, S. 13-21. Zurück
- Pujari, S. 108f. Zurück
- Ebd., S. 110. Zurück