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Hildegard von Bingen

Geb. um 1098 vermutlich in Bermersheim bei Alzey [Anm. 1], gest. 1179 im Kloster Rupertsberg bei Bingen am Rhein.

Hildegard von Bingen mit ihrem Schreiber, dem Mönch Vollmar. Miniatur aus der Handschrift Nr. 1 des Liber Scivias aus dem Rupertsberger Codex (um 1180).[Bild: gemeinfrei]

Hildegard von Bingen wurde als zehntes Kind des Edelfreien Hildebert von Bermersheim und seiner Frau Mechthild geboren. In ihrem achten Lebensjahr (um 1106) wurde sie zusammen mit der sechs Jahre älteren Jutta von Sponheim in geistliche Erziehung gegeben, die zumindest teilweise von der geweihten Witwe Uda von Göllheim übernommen wurde. Am 1. November 1112 ließ sich Hildegard zusammen mit Jutta von Sponheim und einem weiteren adligen Mädchen in ein Inklusorium [Anm. 2] an oder im Kloster Disibodenberg einschließen, das seit 1108 von Benediktinermönchen bewohnt wurde. Jutta von Sponheim übernahm das Amt der magistra und war damit für die weitere Ausbildung der Novizinnen verantwortlich. Bald nach dem Eintritt in die Inkluse auf dem Disibodenberg, zwischen 1112 und 1115, legte Hildegard ihr Ordensgelübde ab. Nach dem Tod Juttas wurde Hildegard 1136 in der mittlerweile zu einem zehnköpfigen Frauenkonvent angewachsenen Klause zur magistra gewählt.

Bereits von Kindheit an verfügte Hildegard von Bingen über die Gabe der visionären Schau. Doch erst 1141 begann sie im Alter von zweiundvierzig Jahren ihre Visionen niederzuschreiben. Ab 1141 begann sie mit ihren Helfern und Vertrauten, dem Benediktinermönch Volmar und der Nonne Richardis von Stade, die Arbeit an ihrer ersten Schrift – Sci vias (dt. Wisse die Wege) – in der sie ihre theologischen Vorstellungen von der Schöpfung und Erlösung der Welt festhielt. Unsicher über ihre Visionen suchte Hildegard um 1146 in einem Brief Rat bei Bernhard von Clairvaux. Dieser beruhigte sie in einem knappen Antwortbrief, reagierte jedoch zurückhaltender als wahrscheinlich erhofft und äußerte keine eindeutige Aufforderung zur Niederschrift bzw. Veröffentlichung ihrer Visionen.[Anm. 3] Die Anerkennung ihrer visionären Gabe erfolgte schließlich 1147/8 durch Papst Eugen III. auf der Trierer Synode, nachdem dieser ihre noch nicht abgeschlossene Visionsschrift von einer Kommission prüfen ließ. In der Folge erhielt Hildegard von Bingen die päpstliche Erlaubnis ihre Visionen zu veröffentlichen. Bereits frühe Niederschriften Hildegards zeigten ein geschlossenes Welt- und Menschenbild sowie politische Gedanken, die mit einer damaligen Zeitkritik verbunden waren. Hier stellte sie ihre strenge Haltung gegenüber sich selbst sowie ihr entschiedenes Vorgehen gegen jegliches „Kompromisslertum“ dar.

Im Zeitraum von 1147 bis 1152 löste sich Hildegard mit ihrem Konvent vom Kloster Disibodenberg und gründete auf dem Rupertsberg bei Bingen ein eigenes Kloster. Das Kloster wurde über dem Grab des Heiligen Ruperts erbaut und war bekannt für seine großzügige bauliche und hygienische Konzeption. Den Mittelpunkt der Klosteranlage bildete die Klosterkirche, eine dreischiffige Kirche ohne Querschiff mit zwei Türmen, die 1152 von Erzbischof Heinrich I. geweiht wurde. Am 18. April 1163 stellte Kaiser Friedrich I. Barbarossa Hildegard und ihrem Kloster auf dem Hoftag zu Mainz einen Schutzbrief aus und erklärte sich zum Schutzherrn des Klosters. In diesem Schutzbrief wurden die Klosterbesitzungen des Rupertsberges gegen die Ansprüche des Klosters Disibodenberg bestätigt und die freie Abt-Wahl und die Vogteifreiheit des Klosters anerkannt. In diesem Schutzbrief ist die Bezeichnung „abbatissa“ (dt. Äbtissin) als Amtsbezeichnung Hildegards erstmals urkundlich erwähnt. Nach Hildegards Tod 1179 verlor das Kloster Rupertsberg schon bald seine spirituelle Rolle. Im Zuge des Dreißigjährigen Krieges zerstörten 1632 schwedische Truppen das Kloster, das in der Folge nicht wieder aufgebaut wurde. Die letzten Überreste der ehemaligen Klostergebäude fielen 1857 dem Bau der Nahetalbahn zum Opfer.

1165 übernahm Hildegard zusätzlich das auf der gegenüberliegenden Rheinseite liegende Kloster in Eibingen bei Rüdesheim am Rhein als Filialkloster. Dieses Kloster wurde bereits 1148 von Marka von Rüdesheim als Augustiner-Doppelkloster gestiftet. Die Übernahme des Klosters, das zu diesem Zeitpunkt vermutlich leer stand, und die Einrichtung eines benediktinischen Nonnenkonvents, wurde lange als Neugründung des Eibinger Klosters durch Hildegard betrachtet. Neben dieser Gründung wurde Hildegard auch die Rolle der ersten Äbtissin des Klosters Eibingen zugesprochen, deren Leitung sie demnach zusätzlich zur Leitung des Klosters Rupertsberg innegehabt hätte. Für die Gründung oder die verwaltungstechnische Leitung des Klosters Eibingen durch Hildegard von Bingen, sind jedoch keine zeitgenössischen Belege überliefert. Eine enge Verbindung zwischen den nahebeieinanderliegenden Klöstern und eine geistliche Führung Hildegards ist hingegen durchaus anzunehmen. [Anm. 4] Die rechtliche Abhängigkeit des Eibinger Klosters vom Kloster Rupertsberg wurde erst nach Hildegards Tod in einer erzbischöflichen Urkunde von 1268 klar geregelt und das Kloster Eibingen ab 1603 vollständig inkorporiert. Nach der Zerstörung des Klosters Rupertsberg 1632 wurde der Reliquienschatz Hildegards im Eibinger Kloster untergebracht. 1802 wurde das Kloster schließlich aufgehoben und 1814 geräumt, wobei der Reliquienschatz in der Eibinger Kirche verblieb. 1831 kaufte die Gemeinde Eibingen das ehemalige Klosteranwesen auf und nutzt seitdem die Klosterkirche als Pfarrkirche. Nach einem Brand der Kirche am 3./4. September 1932 wurde auf den Grundmauern der alten Klosterkirche eine zeitgenössische Kirche errichtet, die 1935 eingeweiht werden konnte. Oberhalb von Eibingen wurde 1900 eine Benediktinerinnen-Abtei in der Tradition der Klöster Rupertsberg und Eibingen gegründet, die der Heiligen Hildegard geweiht ist.

Nach der Anerkennung ihrer Visionen auf der Trierer Synode wurde Hildegard von Bingen in den darauffolgenden Jahrzehnten zu einer häufig konsultierten Ratgeberin. Von ihrem umfangreichen Briefwechsel mit teilweise ranghohen geistlichen und weltlichen Würdenträgern sind auch heute noch mehr als 300 Briefe überliefert, wobei die Authentizität einiger Briefe angezweifelt wird. Diese Nachrichten enthalten meist Rat für Lebensführungen und schwierige Situationen, um den sie gebeten wurde sowie Trost, Ermunterung, (teilweise strenge) Ermahnung und Warnung sowie Belehrung über rechtes Verhalten und theologische Fragen.

Eng mit Hildegards Ermahnungen und Zeitkritik waren auch ihre vier Predigtreisen verbunden, die sie im Zeitraum zwischen 1160 und 1170 unternahm. Die Inhalte dieser Reisen waren: Kritik an zwiespältiger Diplomatie, Fehlverhalten des Klerus, vor allem der Verweltlichung der Kirche sowie die Forderung nach einem Vorgehen gegen die Häresie der Katharer, einer abweichenden christlichen Strömung im Süden Frankreichs. Hildegard von Bingen prangerte die Missstände ihrer Zeit an; gerade auch an diesem Verhalten war zu erkennen, wie bewegt diese Epoche von kirchenpolitischen und sozialen Spannungen war.

Folgende Missionsreisen in Form von Volkspredigten fanden statt:

  1. um 1160 nach Mainz, Würzburg, Kitzingen, Ebrach und Bamberg
  2. um 1160 nach Trier, Metz und Lothringen
  3. Zwischen 1161 und 1163 eine Rheinfahrt über Boppard und Andernach nach Köln und Werden an der Ruhr
  4. um 1170 Maulbronn, Hirsau, Kirchheim unter Teck und Zwiefalten

Am Ende ihres Lebens stand ab 1178 ein Konflikt mit dem Mainzer Domkapitel, nachdem Hildegard einen exkommunizierten Adligen bestattete, der zuvor jedoch in der Beichte freigesprochen worden war. Da sie sich weigerte den Leichnam zu exhumieren, verhängte der Mainzer Prälat ein Interdikt über das Kloster Rupertsberg, ein Verbot von gottesdienstlichen Handlungen. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters kämpfte Hildegard gegen das erlassene Verbot an und erreichte im Frühsommer 1179 die Aufhebung des Interdikts. Am 17. September 1179 starb Hildegard von Bingen im Alter von 82 Jahren.

Während Hildegard von Bingen in der Umgebung ihrer Klöster bereits zu Lebzeiten als (Lokal)Heilige verehrt wurde, kam der im 13. Jahrhundert eingeleitete Prozess der Kanonisation, der römisch-katholischen Heiligsprechung, unter Papst Gregor IX. nicht zu einem Abschluss. Spätestens ab 1584 wurde Hildegard dennoch als Heilige in kirchliche Kalendarien und dem Martyrologium Romanum (Verzeichnis der Heiligen der römisch-katholischen Kirche) aufgenommen. Am 10. Mai 2012 wurde die Verehrung der Heiligen Hildegard von Papst Benedikt XVI. auf die Weltkirche ausgeweitet und sie wurde in das christliche Verzeichnis der Heiligen aufgenommen. Am 7. Oktober 2021 wurde sie zudem zur Kirchenlehrerin erhoben. Ihr Gedenktag ist der 17. September.

Hildegard und ihre Schriften

Hildegard von Bingen galt aufgrund ihrer Schriften und ihres öffentlichen Wirkens ab der Jahrhundertmitte als „prophetissa teutonica“ (dt.: Deutsche Prophetin). Mit ihrem umfassenden und breit angelegten Werk verschaffte sie einen vielseitigen Einblick in die Bereiche des religiösen, politischen, wissenschaftlichen, heilkundlichen und gesellschaftlichen Denkens der damaligen Zeit. „De operatione Dei“ – Das Buch der Gotteswerke – gilt als ihre zentrale schöpferische Leistung. Hildegards Weltanschauung war geprägt durch den neuplatonisch-arabistischen Aristotelismus sowie vom Geist der Regel Benedikts: Demut, Gehorsam und die typisch benediktinische discretio (dem rechten Maß). Vor allem vertrat sie ein symbolisch-allegorisches Weltbild mit der Vorstellung, dass das Wesen der Dinge sich auf etwas Höheres, Metaphysisches beziehe und nur durch eine geistig-geistliche Intelligenz erschlossen werden könne, bei dem dieses Wesen wiederum durch eine ineinander verwobene Einheit umschlossen und auch gelenkt werde. Jedoch stand vor allem die visionäre Trilogie im Mittelpunkt ihrer Werke. Diese Werke blieben aber lange Zeit ohne weitreichende Wirkung.

Chronologie ihrer Hauptwerke, die sicher datiert werden können:

  • 1141-1151 Scivias (dt.: Wisse die Wege)
  • 1158-1163 Liber vitae meritorum (dt.: Das Buch der Lebensverdienste)
  • 1163-1173/74 Liber divinorum operum (dt.: Das Buch der Gotteswerke)

Die Lieder, Briefe und kleineren theologischen und hagiographischen Schriften waren seit dem Verfassen des Werkes „Scivias“ bis zu ihrem Tod entstanden. Im Zeitraum zwischen 1151 bis 1158 lassen sich Hildegards natur- und heilkundliche Schriften einordnen. Somit bediente sie mit ihren Werken viele unterschiedliche literarische Gattungen, die größtenteils mit ihren Visionen begründet und legitimiert wurden. Letztlich sah sich Hildegard in einer Tradition mit den biblischen Propheten, wobei sie weniger auf Zukunftswissen einging und eher bewahrend als fortschrittlich wirken wollte. In Form von Belehrung, Ermahnung und Erinnerung an die Heilsbestimmung des Menschen zeigte sich diese Intention, jedoch mit unterschiedlich starker Gewichtung und Funktion. Die Schriften dienten verschiedenen Zwecken und waren auf bestimmte Situationen oder allgemeingültig auf die Heilslehre bezogen. Erst zwei Jahrhunderte nach ihrem eigentlichen Schaffen haben die geistlichen Lieder und Traktate wegen ihrer spekulativer Gotteserkenntnis die deutsche Mystik eröffnet. Dennoch hatte diese Deutung große Auswirkungen auf die Rezeption und Forschung zu Hildegard von Bingen, die sich erst ab dem 20. Jahrhundert ausgiebig mit der quellenkritischen Untersuchung ihrer Werke und der historischen Person Hildegards beschäftigte.

Nachweise

Redaktionelle Bearbeitung: Nathalie Rau; Jonathan Bugert

Verwendete Literatur:

  • Heinzelmann, Josef: Hildegard von Bingen und ihre Verwandten. Genealogische Anmerkungen. In: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 23 (1997). S. 7 - 88.
  • Mathy, Helmut: Hildegard von Bingen, die „deutsche Prophetin“. In: Stadt – Land – Universität. Aus den Werken des Mainzer Historikers Helmut Mathy. Hrsg. von Otto Böcher, Franz Dumont und Elmar Rettinger. Stuttgart 2012, S.319 - 321 (=Beiträge zur Geschichte der Universität Mainz – Neue Folge 11).
  • Meier, Christel: Hildegard von Bingen. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters: Verfasserlexikon. Hrsg. von Kurt Ruh. Berlin 2010. Sp. 1257 - 1280.
  • Rath, Philippa: Hildegard von Bingen, Wirkungsstätten. Regensburg 2014.
  • Schipperges, Heinrich: Hildegard von Bingen. In: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S.131 - 133 [Onlinefassung]. URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118550993.html (aufgerufen am 03.12.2021).
  • Schmandt, Matthias: Hildegard von Bingen und das Kloster Eibingen. Revision einer historischen Überlieferung. In: Nassauische Annalen: Jahrbuch des Vereins für Altertumskunde und Geschichtsforschung 125 (2014). S. 29 - 52.
  • Sperber, Christian: Hildegard von Bingen - eine widerständige Frau. Aichach 2013 (=magi-e - forum historicum Bd. 6).

Aktualisiert am: 03.12.2021

Anmerkungen:

  1. Josef Heinzelmann (Hildegard von Bingen und ihre Verwandten, S. 48), hält Niederhosenbach bei Kirn für plausibler. Von der Forschung eher abgelehnt ist der Ort (Wald- oder Schloss-)Böckelheim bei Sobernheim, für den zuletzt noch Franz Staab (Aus Kindheit und Lehrzeit Hildegards. Mit einer Übersetzung der Vita ihrer Lehrerin Jutta von Sponheim, S. 64) plädierte. Zurück
  2. Als Inklusorium wurden klösterliche Zellen oder kleine Häuser bezeichnet, in denen sich Männer oder Frauen (sogenannte Inklusen) einschließen oder einmauern ließen, um ihr Leben in extremer Abgeschiedenheit vollständig dem Gebet zu widmen. Zurück
  3. Da Bernhards Antwort die Erwartung Hildegards bzw. ihres Umfeldes nicht ganz erfüllte, die sich möglicherweise eine deutlichere Aufforderung zur Arbeit erhofften, wurde sein Brief für die Aufnahme in den Rupertsberger Riesenkodex abgeändert und in einigen Handschriften erweitert. Vgl. Christian Sperber: Hildegard von Bingen – eine widerständige Frau. S. 109 – 114.  Zurück
  4. Vgl. Schmandt Hildegard von Bingen und das Kloster Eibingen 2014, S. 29 – 52. Die Geschichtsprojektion einer Gründung durch Hildegard findet sich bereits ca. 50 Jahre nach ihrem Tod und basierte wohl auf den engen Verbindungen zwischen den Klöstern Rupertsberg und Eibingen. Zurück