Nierstein in Rheinhessen

Zur Geschichte von Nierstein

Luftbildaufnahme von Nierstein.[Bild: Alfons Rath]

Erste Spuren menschlicher Siedlungstätigkeit in Nierstein stammen aus der Mitte des 6. Jahrtausends vor Christus.[Anm. 1] Diese Siedlung scheint nach der archäologischen Überlieferung „nur“ bis zum ausgehenden 4. Jahrtausend bestanden zu haben. Erst in der zweiten Hälfte des 3 Jahrtausends sind wieder Funde überliefert – diesmal allerdings durchgehend bis zur Eisenzeit (ca. 700–Ende 1. Jh. v. Chr.).[Anm. 2]

Im 1. Jahrhundert n. Chr. begann die römische Epoche in der Niersteiner Geschichte. In römischen Straßenverzeichnissen ist für die Niersteiner Gegend eine Etappenstation namens „Buconia“ zu finden – wobei allerdings umstritten ist, ob diese Station mit dem späteren Nierstein oder Oppenheim gleichzusetzen ist.[Anm. 3] Wahrscheinlich existierten in der römischen Epoche in der Gemarkung zahlreiche verstreut liegende Gebäudegruppen. Die Bevölkerung setzte sich wohl hauptsächlich aus romanisierten Kelten und Germanen zusammen; von Migrationsbewegungen – etwa dem Zuzug entlassener Soldaten und römischer Händler – ist allerdings auszugehen. Das einzige heute noch sichtbare Zeugnis aus römischer Zeit stellt das Sironabad dar.[Anm. 4]

Im 3. Jahrhundert trafen Einfälle der Alamannen in die Regionen westlich des Rheins das spätere Nierstein schwer. Bis zum Ende der römischen Herrschaft am Rhein 200 Jahre später sind kaum noch Besiedlungsspuren festzustellen, auch wenn es Indizien dafür gibt, dass die Straßenstation weiter betrieben wurde.[Anm. 5]

Bis ins 8. Jahrhundert gehörte Nierstein, das aus einigen Gehöften bestand, zum Königsgut des fränkischen Königs. Erstmalig erwähnt wird Nierstein in einer Urkunde aus dem Jahr 822, welche sich wiederum auf eine Urkunde von 742 bezieht, in der es um die Ausstattung des neugeschaffenen Bistums Würzburg geht. Darin wird eine Kirche in „Naristagne“ erwähnt.[Anm. 6]

Das verbliebene Königs- bzw. Reichsgut Nierstein schien sich im 10. und 11. Jahrhundert, etwa durch eine Schenkung an das Kloster Selz im Elsaß 993 oder die Übertragung eines Hofes in Nierstein an den Mainzer Erzbischof Willigis (um 940–1011) 994, langsam aufzulösen. Doch der Eindruck täuschte. Eine Entwicklung setzte ein, durch die der Besitz altehrwürdiger Reichskirchen letztlich zur wirtschaftlichen Basis der mittlerweile entstandenen Reichsburg Oppenheim wurde.[Anm. 7] Nachdem das Gut Nierstein bereits zuvor mehrfach verpfändet worden war – unter anderem 1315 bis 1354 an den Mainzer Erzbischof Peter von Aspelt (1245–1320) und 1356, 1360 und 1364 an die Stadt Mainz – verpfändete Kaiser Karl IV (1315–1378). Nierstein, Oppenheim und weitere Teile des Reichsgutes im Umland von Mainz an den Pfalzgrafen Ruprecht den Älteren (1309–1390), wohl um sich dessen Kurstimme für die Wahl seines Sohnes Wenzel zu sichern. De jure blieb Nierstein ein Reichsdorf, de facto war es aber – vor allem durch eine Erhöhung der Pfandsumme und die Erblichkeit der Pfandschaft – dem Territorium der Pfalzgrafen bei Rhein einverleibt worden.[Anm. 8]

Der Pfalzgraf war nun Ortsherr. Grund und Boden in Nierstein waren allerdings unter Adel und Geistlichkeit aufgeteilt. Die Adligen hatten mithilfe des Rittergerichts, welches im Namen des Pfalzgrafen unter Vorsitz eines Schultheißen tagte, eine beherrschende Stellung in Nierstein inne. Die Interessen divergierten: Während die Behörden des Pfalzgrafen, vor allem das Amt Oppenheim, bemüht waren, die Stellung des Rittergerichts einzudämmen, suchten die dort vertretenen Niederadligen ihre Selbstständigkeit auszubauen – während die übrigen Dorfbewohner ihrerseits versuchten, sich vom Rittergericht zu emanzipieren.[Anm. 9] Dieser Konflikt eskalierte Ende des 16. Jahrhunderts, als der Pfalzgraf erstmals von seinem Recht Gebrauch machte, Schöffen abzusetzen, und anstelle der Niederadligen Bauern ernannte. Ein Kompromiss, durch den die Adligen wieder eingesetzt worden waren, hielt nicht lange. Erst Ende des Jahrhunderts und nachdem die Schöffen die Oberherrschaft des Pfalzgrafen anerkannt hatten, fror der Konflikt ein – nicht ohne aber, beispielsweise während des Dreißigjährigen Krieges, wieder aufzuflammen. Durch den Westfälischen Frieden wurden die Rechte des Pfalzgrafen an den gepfändeten Reichsgütern endgültig festgeschrieben.[Anm. 10]

Selbstverständlich war Nierstein, wie auch alle anderen Gebiete des Pfalzgrafen, von zahlreichen Konflikten und Kriegen betroffen. Genannt wurde bereits der Dreißigjährige Krieg (1618-1648). Ebenso Erwähnung muss aber auch der Pfälzische Erbfolgekrieg (1688–1697) finden. Unter beiden Konflikten hatte Nierstein durch Zerstörungen und Plünderungen zu leiden.

Die kurpfälzische Herrschaft über Nierstein endete de jure mit dem Friedensschluss von Campo Formio 1797. Die linksrheinischen Gebiete fielen an Frankreich. Die französische Herrschaft brachte die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Gewerbefreiheit und zahlreiche andere Veränderungen mit sich. Im Juli 1816 gelangte Nierstein, wie ganz Rheinhessen, in den Besitz des Großherzogs von Hessen. Dieser garantierte sogleich in der Besitzergreifungsurkunde vom 8. Juli 1816 das „wahrhaft Gute, was Aufklärung und Zeitverhältnisse herbeigeführt"[Anm. 11] – etwa die Gewerbefreiheit, die in den rechtsrheinischen Teilen des Großherzogtums erst durch die Verfassung von 1820 eingeführt wurde.[Anm. 12]

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Ludwigsbahn gebaut, welche Mainz und Worms verband, und die auch durch Nierstein führte. Allerdings blieb trotz des Einzugs weiterer technischer Neuerungen die Landwirtschaft der wesentliche Erwerbszweig der Bevölkerung – bezeichnenderweise waren die Bürgermeister der Gemeinde von 1836 bis zum Ersten Weltkrieg ausnahmslos Besitzer großer Weingüter.[Anm. 13]

In Folge des Ersten Weltkriegs wurde Nierstein von französischen Truppen besetzt (1919–1930); aus dem Großherzogtum wurde ein Volksstaat; aus dem Kaiserreich eine Republik. Deren Gegner formierten sich jedoch bald. Der NSDAP gelang mit der Reichstagswahl 1930 ein Durchbruch – sie erhielt 18 Prozent der Stimmen. Nierstein gehörte zu den Hochburgen der NSDAP in Rheinhessen. Schon 1930 stimmten 42 Prozent der Wähler dort für die NSDAP. In den folgenden Jahren bis zur sogenannten „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 kam es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern. Nach der sogenannten „Machtergreifung“ wurden zahlreiche Vertreter der Niersteiner Sozialdemokraten in den neugeschaffenen Konzentrationslagern inhaftiert. Gemeinderat und Vereine wurden gleichgeschaltet.[Anm. 14] Von den etwa 80 jüdischen Personen, die 1928 in Nierstein gelebt hatten, wurden im Holocaust wohl mindestens 32 ermordet. Drei wählten den Freitod.[Anm. 15]

Im Zweiten Weltkrieg blieb Nierstein zwar weitgehend von alliierten Bombenangriffen verschont, hatte aber dennoch an deren Folgen zu tragen. Insgesamt 2600 bombengeschädigte Bürger waren nach den Angriffen auf Mainz 1942–1945 dort untergebracht. Der März 1945 brachte das Ende des Krieges für Nierstein. Kurz vor Kriegsende, am 21. März, waren jedoch auf dem Kornsand – dem Rheinufer gegenüber von Nierstein – noch fünf Niersteiner und ein Oppenheimer Bürger von fanatischen Nationalsozialisten ermordet worden.[Anm. 16]

1972 wurde Nierstein Teil der Verbandsgemeinde Nierstein-Oppenheim. Seit 2014, als faktisch die Verbandsgemeinde Nierstein-Oppenheim und die Verbandsgemeinde Guntersblum zusammengelegt wurden, gehört es zur neuen Verbandsgemeinde Rhein-Selz. 2013 hat Nierstein zudem das Stadtrecht erhalten.

Nachweise

Redaktionelle Bearbeitung: Christoph Schmieder 

Verwendete Literatur:

  • Eller, Georg: Das Kriegsende 1945 in Nierstein, in: Friess-Reimann, Hildegard/ Schmitt, Sigrid (Hrsg.): Nierstein. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart eines alten Reichsdorfes, Alzey 1992, S. 226-244.

  • Hexemer, Hans-Peter: 1933: Die „Machtergreifung“ in Nierstein, in: Friess-Reimann, Hildegard/ Schmitt, Sigrid (Hrsg.): Nierstein. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart eines alten Reichsdorfes, Alzey 1992, S. 220-225.

  • Kemp, Wolfgang: Die jüdische Gemeinde, in: Friess-Reimann, Hildegard/ Schmitt, Sigrid (Hrsg.): Nierstein. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart eines alten Reichsdorfes, Alzey 1992, S. 202-219.

  • Rupprecht, Gerd: Römische Zeit, in: Friess-Reimann, Hildegard/ Schmitt, Sigrid (Hrsg.): Nierstein. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart eines alten Reichsdorfes, Alzey 1992, S. 28-35.

  • Schlösser, Susanne: Skizzen zur Geschichte Niersteins zwischen der französischen Revolution und dem 1. Weltkrieg, in: Friess-Reimann, Hildegard/ Schmitt, Sigrid (Hrsg.): Nierstein. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart eines alten Reichsdorfes, Alzey 1992, S. 83-94.

  • Schmitt, Sigrid: Nierstein in kurpfälzischer Zeit, in: Friess-Reimann, Hildegard/ Schmitt, Sigrid (Hrsg.): Nierstein. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart eines alten Reichsdorfes, Alzey 1992, S. 59-82.

  • Staab, Franz: Nierstein im Mittelalter (bis 1375), in: Friess-Reimann, Hildegard/ Schmitt, Sigrid (Hrsg.): Nierstein. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart eines alten Reichsdorfes, Alzey 1992, S. 36-58.

  • Zylmann, Detert: Die Niersteiner Gemarkung in vorgeschichtlicher Zeit, in: Friess-Reimann, Hildegard/ Schmitt, Sigrid (Hrsg.): Nierstein. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart eines alten Reichsdorfes, Alzey 1992, S. 1-27.

Aktualisiert am: 26.05.2016

Anmerkungen:

  1. Zylmann, S. 3. Zurück
  2. Zylmann, S. 6–16. Zurück
  3. Rupprecht, S. 28. Zurück
  4. Rupprecht, S. 31. Zurück
  5. Staab, S. 36f. So waren etwa die Niersteiner des 9. Jahrhunderts, wie früher in ähnlicher Weise auch die römische Bevölkerung, zu Postdiensten verpflichtet. Zurück
  6. Staab, S. 37–41. Zurück
  7. Staab, S. 51. Zurück
  8. Staab, S. 54f.; Schmitt, S. 59. Zurück
  9. Schmitt, S. 61f.  Zurück
  10. Schmitt, S. 63-66. Zurück
  11. Schlösser, S. 88. Zurück
  12. Schlösser, S. 83-88. Zurück
  13. Schlösser, S. 91. Zurück
  14. Hexemer, S. 220-225. Zurück
  15. Kemp, S. 216f. Zurück
  16. Eller, S. 226; S. 238-244. Zurück