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Karte 25.1 ‘Ohrwurm’, Georg Drenda: Wortatlas für Rheinhessen Pfalz und Saarpfalz, S. 122. [Bild: Georg Drenda (IGL)]

Ohrwurm

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Die Bezeichnungen des Insekts, das wissenschaftlich Forficula auricularia heißt, sind in den deutschen Dialekten überwiegend Zusammensetzungen mit Ohr‑, also Ohrwurm (so auch im Standarddeutschen), Ohrenzwicker, Ohrlaus usw. Der Bezug zum Ohr ist ein doppelter: 1. Der Ohrwurm wurde von der Spätantike bis in die frühe Neuzeit hinein getrocknet und pulverisiert als Heilmittel gegen Ohrenleiden verabreicht. 2. Die Volksmeinung nimmt (irrigerweise) an, dass das Insekt in den Gehörgang des schlafenden Men­schen eindringt und mit der am Hinterleib angebrachten Zange das Trom­melfell zerstört. Zusammensetzungen wie Ohrenzwicker oder Ohrenklammer versprachlichen diese Anschauung sehr prägnant.

Dem Bestimmungswort Ohr‑, das über althochdeutsch ōra, germanisch *auzōn auf gleichbedeutend indogermanisch *aus- zurückgeht, folgt in den Dialektbelegen teils kein Fugenelement (z. B. Ohrschliwwer) teils ‑en- als Kompositionsfuge (z. B. Ohrenschliwwer). Im zweiten Fall kann nach einer allgemeinen Regel das silbenauslautende ‑n ausfallen (z. B. Ohreschliwwer).

Im Untersuchungsgebiet dominieren quantitativ drei Worttypen mit are­alspezifischer Verteilung: 1. Ohrlaus in Rheinhessen und in der Vorderpfalz, 2. Ohrschlubber in der Südpfalz sowie 3. Ohrschliwwer in der übrigen Pfalz. Die drei Worttypen konstituieren sich jeweils aus Varianten, die sich hinsichtlich Verfugung (z. B. Ohrlaus und Ohrenlaus) und/oder Lautung (z. B. Ohrschlubber, Ohreschlupfer, Ohreschlipper) unterscheiden.

Bei der Komposition Ohr(en)laus verwenden die Dialekte als Zweit­glied ein Wort, das nicht nur den üblichen Vertreter der Tierklasse bezeich­net, wie etwa die Kopf‑, Blatt‑, Schildlaus usw., sondern darüber hinaus auch weitere Insekten: Mistlaus ist der ‘Mistkäfer’, Wasserlaus der ‘Was­serläufer’. Bei der Benennung des Ohrwurms als Ohrlaus spielt möglicher­weise der Volksglaube hinein. Dieser nimmt an, dass das Insekt nicht nur das Trommelfell durchsticht (s. o.), sondern sogar im Ohr Blut saugt. Die Herkunft des Wortes Laus ist unklar.

Die zweite Komponente des Typs Ohrschliwwer ist eine Nomen-Agen­tis-Bildung auf ‑er zu dem stark flektierenden Verb schliefen (schloffgeschloffen) mit der Bedeutung ‘schlüpfen’. Das neuhochdeutsche Wort hat sich aus gleichbedeutend germanisch *sleupa- über mittelhochdeutsch sliefen entwickelt. Aus der Schriftsprache ist es gegen Ende des 17. Jh. verschwunden. Nur das Ober­deutsche bewahrt es bis heute. Ohrschliwwer bedeutet also wörtlich ‘Ohr­schlüpfer’. Motiviert ist die Zusammensetzung durch die volkstümliche Vor­stellung, dass das Insekt in das Ohr schlafender Menschen hineinschlüpft (s. o.). Das dialektale ‑schliwwer zeigt folgende Lautentwicklungen: Das Suffixer bewirkt Kürzung des Stammvokals mittelhochdeutschie- zu dialektal ‑i-. Der Laut ‑f- (erhalten in Ohrenschliffer) kann intervokalisch stimmhaft, d. h. zu ‑w- wer­den (vgl. auch dialektal Owe ‘Ofen’).

Das Bild des Ins-Ohr-Hineinschlüpfens steht auch hinter den Bezeich­nungen Ohreschlibber – „verhochdeutscht“: Ohrenschlüpfer – sowie (um­lautlos) Ohreschlubber – „verhochdeutscht“: Ohrenschlupfer –, die jeweils in verschiedenen Varianten vorkommen. Der Vokal ‑i- in Ohreschlib­ber/‑schlipper erklärt sich durch Entrundung des Umlauts ü, der in den Dia­lekten des Untersuchungsraums in der Regel zu i wird, vgl. auch z. B. Stick ‘Stück’. Das Rheinfränkische hat germanisch p nicht zu hochdeutsch pf verschoben, deshalb heißt es ‑schlipper. Der Plosivlaut p wird intervokalisch häufig stimmhaft und somit zu b, was ‑schlibber ergibt, vgl. auch dialektal Abbel ‘Ap­fel’. Die Entwicklung von p zu b findet sich analog bei ‑schlubber, das ne­ben ‑schlupper belegt ist. Aus Minfeld (Mi) östl. Bad Bergzabern wird ver­schobenes Ohreschlupfer gemeldet. Der Ort liegt südl. der Appel/Apfel-Li­nie und gehört somit bereits zum Oberdeutschen mit durchgeführter Lautver­schiebung von germanisch p zu hochdeutsch pf.

Die Kompositumskomponente ‑schlüpfer/‑schlupfer (in den Dialekten als ‑schlibber/schlubber u. ä. belegt) ist ein Nomen Agentis zu dem Verb schlüpfen/schlupfen. Dieses ist eine Intensivbildung zu der oben bei schlie­fen genannten germanischen Wurzel. Von den mittelhochdeutschen Varianten slüpfen/slupfen hat sich im neuhochdeutschen Standard die mit Umlaut durchgesetzt, aber in Schlupfwinkel, Schlupfloch usw. ist die umlautlose Wortwurzel vertreten. In den Dialekten des Westmittel- und Oberdeutschen hingegen ist schlupfen die reguläre Form.

Das Bild des ins Ohr kriechenden Tieres ist auch bei den nachfolgend zu behandelnden Bezeichnungen prägend gewesen. Ohrschlinger, Ohrschlin­geler und die anderen Ausdrücke mit ‑schling(‑), die der Kartenlegende ent­nommen werden können, bilden das Grundwort auf der Basis des Verbs schlingen bzw. der Iterativform schlingeln. Teilweise erfolgt eine Nomen-Agentis-Ableitung auf ‑er (Ohrschlinger, Ohr(e)schlingeler). Bei Ohr­schlingel muss wohl mit Anlehnung an Schlingel ‘frecher Kerl, Tunichtgut’ gerechnet werden. Das Verb schlingen steht im heutigen Standarddeutschen für ‘winden, (ver)flechten, (ver)knüpfen’. Mittelhochdeutsch slingen hatte über die ge­nannten Bedeutungen hinaus auch ‘kriechen, schleichen’ als Wortinhalt.

Das Ohrschlinger und seinen Varianten entsprechende Bildungsmotiv liegt auch bei Ohreglanger vor. Das vom Explorator gemäß der Dialekt­aussprache transkribierte Kompositum lautet verhochsprachlicht Ohren­klanker. Das Grundwort ist auch in diesem Fall eine Nomen-Agentis-Bil­dung, und zwar zu dem Verb klanken. Dieses Wort ist nicht in die neuhochdeutsche Stan­dardsprache gelangt, aber im Mittelhochdeutschen ist es als klenken ‘schlingen, flechten’ belegt. Dazu gehört das Nomen mittelhochdeutsch klanc ‘Schlinge’. In den deutschen Dialekten sind das Verb (klanken) und das Substantiv verbreitet erhalten. Ohreglanger ist also als ‘Insekt, das sich ins Ohr hineinwindet’ zu verstehen.

Die sprachhistorische Analyse von Ohrringeler lässt zwei Deutungs­möglichkeiten zu. Die erste: Das ‑ringeler zugrundeliegende Wort könnte ringen sein. Das starke Verb bezieht sich heute vor allem auf eine Art des Zweikampfs, im Mittelhochdeutschen hatte es auch die Bedeutung ‘sich hin und her bewe­gen, winden, in einer Kreisbiegung bewegen’. Dieser Inhalt war wohl der ur­sprüngliche und wurde dann auf den Zweikampf übertragen, bei dem dre­hende und kreisende Bewegungen vollzogen werden. Die flinken Bewegun­gen des Ohrwurms mit abrupten Richtungswechseln könnten das Motiv für die Nomen-Agentis-Bildung ‑ringeler zu ringen gewesen sein, wobei wahr­scheinlich das Verb ringeln hineingespielt hat.

Die zweite Deutungsmöglichkeit des Grundworts ‑ringeler setzt nicht bei ringen, sondern bei ringeln an. Das Benennungsmotiv liefert in diesem Fall wohl der biegsame Körper des Insekts. Das Verb ringeln, das im refle­xiven Gebrauch die Bedeutung ‘sich kräuseln, sich krümmen’ trägt, ist eine Bildung zu dem Substantiv Ringel, das ein Diminutiv zu Ring darstellt. Das Nomen Agentis zu ringeln wird wie bei anderen Verben auf ‑eln mit ‑ler ge­bildet: Ohrringeler.

Ohreschleicher und ‑schlicher sind Ableitungen von dem Verb schlei­chen. Beim zweiten Wort erfolgt Kürzung von mittelhochdeutschī- (das zugrundelie­gende Verb ist mittelhochdeutsch slīchen) zu ‑i- vor ‑er. Ein Parallelfall liegt im Dialekt z. B. bei Schliffer ‘Schleifer’ vor. Das Verb führt auf die Wurzel indogermanisch *(s)leiĝ- ‘schleimig; gleiten, glätten’ zurück. Damit ergibt sich für schleichen die Ausgangsbedeutung ‘gleiten, rutschen’. Hinter der Zusammensetzung Oh­renschleicher/‑schlicher steht offensichtlich das Bild des nachts in das menschliche Ohr schleichenden Tieres.

Speziell auf die schnelle Fortbewegungsart des Ohrwurms zielt die Be­nennung Ohrewussel ab. Das Verb, aus dem das Grundwort abgeleitet ist, lautet wuseln und bedeutet ‘sich flink hin und her bewegen’. Die Herkunft des seit dem 17. Jh. bezeugten Wortes ist nicht bekannt. Das Pfälzische kennt die Substantive Wusel und Wuseler, die einen geschäftig hin und her laufenden Menschen bezeichnen. Der erstgenannte Ausdruck wird im über­tragenen Sinn zur Komposition von Ohrwussel verwendet.

Ohrenschlitzer und Ohrschlitz (verhochsprachlicht: Ohrschlitze) lassen sich bezüglich des Grundwortes nicht eindeutig bestimmen. Drei Deutungs­möglichkeiten sind zu erwägen: 1. Die Ableitung könnte vom Verb schlitzen in der Dialektbedeutung ‘sausen, rennen, schleichen, gehen’ erfolgt sein. Damit würde sich das Kompositum an die anderen durch die Bewegung des Tieres motivierten Bildungen (z. B. Ohreschlicher) anschließen. Gegen diese Deutung spricht die Tatsache, dass das Verb in der besagten Bedeutung von den einschlägigen Wörterbüchern nur für das Pfälzische, nicht aber für Rheinhessen belegt wird, von wo aber Ohrschlitz/Ohrenschlitzer gemeldet wird. 2. Das Grundwort könnte auf schlitzen in der Bedeutung ‘der Länge nach aufschneiden, aufreißen’ zurückführen. Die Kompositumsbildung wäre in diesem Fall durch die im Volksglauben verankerte Meinung motiviert, nach der der Ohrwurm in den Gehörgang des Menschen eindringt und dort das Trommelfell zerstört. Das Verb schlitzen ist eine Intensivbildung zu schleißen, das aus germanisch *sleita- ‘zerreißen’ folgt. 3. Das Grundwort könnte auf der umgelauteten Form des Verbs schlutzen, also schlützen basieren. Da in den rheinfränkischen Dialekten der Umlaut ü in der Regel zu i entrundet wird (vgl. z. B. grin ‘grün’), liegt dort schlützen als schlitzen vor. Das Wort schlutzen, auch als schlotzen verbreitet, bedeutet ‘saugen, lutschen, schlürfen’. Damit wäre Ohrschlitz/ Ohrenschlitzer, wörtlich genommen, ‘der Ohrsauger’. Hier spielt die volkstümliche Vorstellung hinein, nach der der Ohrwurm nicht nur das Trommelfell schädigt, sondern auch Blut saugt (vgl. oben Ohrlaus). Das Flämische hat in oorzuiper, wörtlich übersetzt: Ohrsäufer ein motivisch übereinstimmendes Kompositum. Die Etymologie von schlutzen ist nicht geklärt.

Auf die (vermeintlich) zerstörerische Wirkung des Insekts im Men­schenohr bezieht sicht auch die Bildung Ohre(n)zwicker. Das Nomen Agen­tis ‑zwicker ist abgeleitet vom Verb zwicken ‘kneifen, zupfen’, dem althochdeutsch zweckōn ‘sich entzweien, rupfen, zupfen’ vorausgeht. Mit dieser Komposi­tumsbildung wird der Ohrwurm als das Insekt aufgefasst, das mit seiner Zange dem Menschen ins Ohr (Trommelfell) kneift.

Das Grundwort in Ohr(e)klammer, Ohrenklammer(er), Ohrenklemmer weist auf die klammerähnliche Zange des Insekts oder auf die Tätigkeit, die mit dieser Zange vollzogen wird, hin. Grundlage der zweiten Komponente ist letztlich das Verb klemmen, von dem sich das Nomen Klammer und dar­aus das Verb klammern ableiten. Das Wort klemmen hat im Mittelhochdeutschen mehrere Bedeutungen mit dem durchgehenden semantischen Merkmal ‹drücken›, und zwar: ‘mit den Klauen packen, ein‑, zusammenzwängen, kneifen’.

Zum Typus Ohrklammer gehört vom Bildungsmotiv her Ohrzang. Das Wort Zange, aus gleichbedeutend germanisch *tangō, lässt sich auf indogermanisch *denk- ‘beißen’ zurückführen. Die ursprüngliche Bedeutung ist dementsprechend ‘die Beißende, Werkzeug zum Beißen’.

Das mit dem standardsprachlichen Ausdruck zusammenfallende Ohr­wurm ist im Arbeitsgebiet lediglich einmal bei Oppenheim belegt. Wahr­scheinlich handelt es sich um eine Entlehnung aus der Hochsprache. Das Kompositum ist seit dem 14. Jh. belegt. Das Nomen Wurm ‘kriechendes, wirbelloses Tier’ bezeichnete ursprünglich im Deutschen und den anderen germanischen Sprachen jedes sich kriechend fortbewegende Tier. Mittelhochdeutsch wurm z. B. steht für ‘Wurm, (fliegendes) Insekt, Schlange, Drache’. Die Zusammenfas­sung solch unterschiedlicher Geschöpfe unter einem Begriff beruht auf der im Alten Testament vorgenommenen Kategorisierung der Tierwelt nach der Fortbewegungsart. Was schreitet, wurde als Tier, was kriecht, als Wurm, was fliegt, als Vogel und was schwimmt, als Fisch klassifiziert (vgl. hierzu auch Herrgottsvögelchen ‘Marienkäfer’, Karte 19.).

Literatur- und Ortskürzel-Verzeichnis

Die im Text erwähnte Literatur (Literaturverzeichnis) sowie eine Aufschlüsselung der Ortskürzel (Belegorteverzeichnis) finden Sie unter den entsprechenden Links. 

Mehr zum Thema

Der obenstehende Inhalt ist entnommen aus Drenda, Georg (2014): Wortatlas für Rheinhessen, Pfalz und Saarpfalz. St. Ingbert.

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