Rheinhessen

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Karte 64 ‘Taschentuch’, Georg Drenda: Wortatlas für Rheinhessen Pfalz und Saarpfalz, S. 254. [Bild: Georg Drenda (IGL)]

Taschentuch

Das Nomen Tasche in der Bedeutung ‘in/an einem Kleidungsstück ange­nähter Beutel’ ist im Untersuchungsgebiet des Atlasses ursprünglich kein Dialektwort. Die primäre Bezeichnung ist Sack. Dementsprechend gehört auch Taschentuch (dialektal Dascheduch u. ä.) nicht zum altüberlieferten Wort­bestand. Das Kompositum ist aus der Hochsprache in die Dialekte gelangt und findet sich hauptsächlich in Rheinhessen. Das eigentliche im gesamten Erhebungsareal verbreitete Dialektwort ist Sacktuch (dialektal Saggduuch u. ä.). Das Substantiv Sack ist seit dem 8. Jh. bezeugt, es ist aus lateinisch saccus ent­lehnt, das über griechisch sákkos auf assyrisch šaḳḳu ‘Sack, Büßergewand’ zu­rückzuführen ist. Die Herkunft von Tuch ist nicht bekannt.

Während Taschentuch und Sacktuch auf das Kleidungsfach hinweisen, in dem das Stoffläppchen mitgeführt wird, liefert bei Nasentuch (Beleg: Nasduch) der lokale Einsatzbereich des Läppchens das Benennungsmotiv. Das Kompositum wird zweimal aus der Südpfalz gemeldet, findet sich aber auch in dem sich südlich anschließenden Elsässischen. Das Nomen Nase geht über germanisch *nas(ō) auf gleichbedeutend indogermanisch *nas- zurück.

Das Motiv für die Zusammensetzung Schnäuztuch (dialektal Schneitztuch) ist durch die Tätigkeit, für die das Taschentuch hauptsächlich verwendet wird, gegeben. Das Bestimmungswort ist vom Verb schnäuzen ‘(sich) die Nase putzen’ abgeleitet. Der Ausdruck – althochdeutsch snūzen (10. Jh.) – gehört zu einem Komplex von Wörtern, die, mit schn- (aus germanisch *sneu‑) beginnend, Lautäußerungen mit der Nase bezeichnen wie z. B. schnauben und schnup­pern. Schnupfen gehört ebenfalls hierzu.

Es ist fraglich, ob die Komposita mit dem Erstglied Rotz‑, also Rotztuch (dialektal Rotzduch u. ä.), Rotzlumpen (dialektal Rozzlumbe u. ä.), Rotzfahnen (dialektal Rotzfohne u. ä.) sowie das Diminutiv Rotzfähnchen (dialektal Rotzfähnche) als neutrale Ausdrücke der dialektalen Alltagssprache einzustufen sind. Es scheint vielmehr, dass die Gewährsleute hier expressiv-scherzhafte Wort­varianten aktiviert haben. Immerhin wird bei den meisten Vorkommensfäl­len zusätzlich eine unmarkierte Variante, meistens Sacktuch, genannt. Auch das Pfälzische Wörterbuch (V, 615, 616, 618) stuft die Zusammensetzungen als scherzhaft ein. Die Etymologie von Rotz ist nicht eindeutig geklärt. Wahrscheinlich ist das entsprechende althochdeutsche Nomen roz ‘Schleim’ aus dem Verb althochdeutsch rūzan ‘schnarchen’ abgeleitet. Somit ergäbe sich für das Substantiv die Ursprungs­bedeutung ‘das Herausgeschnarchte’.

Mit Lumpen wird im Dialekt ein Lappen bezeichnet. Durch Bildung von Determinativkomposita werden die funktionell verschiedenen Arten des Ge­genstands lexikalisch spezifiziert. Im Pfälzischen liegen Putzlumpen, Staub­lumpen usw. vor. Das Kompositum Rotzlumpen ist nach diesem Muster ge­bildet. Lumpen ist seit dem 15. Jh. nachweisbar. Das Wort gehört zu dem Verb mittelhochdeutsch lampen ‘schlaff herunterhängen’. (Vgl. auch Karte 54.)

Bei Rotzfahne stellt das Grundwort eine scherzhafte Bedeutungsüber­tragung dar, deren Kuriosität sich aus dem Größen- und Funktionsunter­schied zwischen einer Fahne und einem Taschentuch ergibt. Neuhochdeutsch Fahne hat sich aus althochdeutsch fano, dieses aus germanisch *fanōn, beide mit dem Inhalt ‘Tuch’, entwickelt. Der Bedeutungswandel von ‘Tuch’ zu ‘an einer Stange als Kenn­zeichen befestigtes symbolhaftes Tuch’ ist auf Kürzung der Zusammenset­zung althochdeutsch gundfano ‘Kriegsfahne’, eigentlich ‘Kriegstuch’ zurückzuführen.

Literatur- und Ortskürzel-Verzeichnis

Die im Text erwähnte Literatur (Literaturverzeichnis) sowie eine Aufschlüsselung der Ortskürzel (Belegorteverzeichnis) finden Sie unter den entsprechenden Links. 

Mehr zum Thema

Der obenstehende Inhalt ist entnommen aus Drenda, Georg (2014): Wortatlas für Rheinhessen, Pfalz und Saarpfalz. St. Ingbert.

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