Bingen in Rheinhessen

Der Jüdische Friedhof in Bingen

Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Bingen.
Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Bingen.[Bild: Marion Haft [CC BY-SA 3.0]]

Die jüdische Gemeinde in Bingen bestattete ihre Toten zunächst auf dem „Judensand“, dem alten jüdischen Friedhof in Mainz. Dieser diente auch dem Großteil der jüdischen Gemeinden im Rheingau als Beerdigungsort. Nachdem die Binger Gemeinde im 16. Jahrhundert zahlenmäßig stark angewachsen war, bat man 1570 bei der Stadt um die Überlassung eines Geländes für die Einrichtung eines eigenen jüdischen Friedhofs. Ein brachliegendes Gebiet „in den Hisseln“ bei den Viehweiden oberhalb der Stadt wurde als Gebiet vorgeschlagen. Gegen einen jährlichen Zins von fünf Gulden und einem Gulden pro Begräbnis, die an das Mainzer Domkapitel zu zahlen waren, wurde das Gelände der jüdischen Gemeinde überlassen. Laut dem Binger Memorbuch, einem 1789 angelegten Register der Verstorbenen zum liturgischen Totengedächtnis, typo3/#_msocom_1soll bereits 1562 die erste Beisetzung stattgefunden haben. Der älteste heute noch lesbare Grabstein auf dem jüdischen Friedhof stammt hingegen aus dem Jahr 1602 und ist der Grabstein des Gemeindevorstehers Hirz Bing. [Anm. 1]

Jüdische Friedhöfe waren häufig Ziel antijüdischer Zerstörungswut und Schändungen. So auch in Bingen, wo aus dem Jahr 1731 überliefert ist, dass der Friedhof verwüstet und Grabsteine beschädigt wurden. Auf dem nach Norden offenen Gelände soll Vieh geweidet haben. Daraufhin wollte die Binger Judengemeinde das Friedhofsgelände ummauern. Das entsprechende Gesuch wurde von der Stadt jedoch abgelehnt, da die benachbarten Weinberge angeblich darunter leiden würden. Der daraus entstehende Rechtsstreit wurde schließlich 1750 vom Mainzer Domkapitel beendet. Die Judengemeinde erhielt die Genehmigung, eine niedrige Mauer (nicht höher als 8 Schuh, etwa 2,5m) zu errichten und das Friedhofsgelände damit abzugrenzen.

Der ursprüngliche Zugang zum Friedhof erfolgte in der Süd-Ost-Ecke des Geländes durch ein hölzernes Tor, dessen Durchgang heute zugemauert ist. Auch der älteste Teil des Friedhofs befindet sich im Osten des 265m langen und unregelmäßig breiten Grundstückes. Die unregelmäßige Breite entstand durch Erweiterungen des Friedhofs durch den Ankauf von Nachbargrundstücken. Vermutlich wurde der Binger Judenfriedhof mindestens einmal aufgeschüttet, was eine Neubesetzung ermöglichte, da eine Erweiterung des begrenzten Gebietes nicht immer erlaubt oder möglich war. Der alte Friedhofsteil enthält 610 Grabsteine, die ohne erkennbare Ordnung unter hohen Bäumen und Gestrüpp liegen. Die Grabsteine bestehen alle aus Sandstein und sind in der gleichen Form gestaltet. Die Gräber waren nicht eingefasst, sondern eingeebnet. Deutlich früher als auf anderen jüdischen Friedhöfen findet man in Bingen neben hebräischen auch deutschsprachige Grabinschriften.

Eingang zum jüdischen Friedhof in Bingen.[Bild: Marion Haft [CC BY-SA 3.0]]

Der heutige Friedhofseingang liegt an der Grenze zwischen dem alten Friedhofsteil im Osten und dem 1856 angelegten neuen Friedhofsteil im Westen. An dieser Stelle befand sich die 1878 errichtete aufwendig gestaltete Trauerhalle, über die man den Friedhof betrat. Sie war aus verputztem Ziegelmauerwerk gebaut und ging an der Traufseite in die Friedhofsmauer über. Die Trauerhalle bestand aus einem rechteckigen Hauptraum und zwei kleineren Räumen an der Nordost- und Südostseite. 1970 wurde die baufällige und einsturzgefährdete Trauerhalle bis auf Höhe der Fensterbänke abgetragen. Heute ist nur noch eine steinerne Plattform mit niedrigen Umfassungsmauern erhalten. Im Bereich des ehemaligen Hauptraumes befindet sich heute der Wasseranschluss zur rituellen Reinigung nach dem Besuch des Friedhofs. Im Bereich der ehemaligen Trauerhalle sind heute einige Überreste des Bauschmucks der neuen Binger Synagoge in der Rochusstraße zu finden, die im Zuge der Reichspogromnacht zerstört und in Brand gesteckt wurde. [Anm. 2]

Der neuere Teil des jüdischen Friedhofs ähnelt im Gegensatz zum alten Friedhofsteil in vielen Dingen einem christlichen Friedhof. Die Gräber sind in geraden Reihen und regelmäßigen Abständen mit Grabeinfassungen angelegt. Die Grabmonumente sind individuell gestaltet und weisen dem Zeitgeschmack folgend antikisierende (d.h. an die Antike erinnernde) Formen auf. In der Süd-West-Ecke befindet sich seit 1872 der Friedhof der orthodoxen Judengemeinde in Bingen. Die jüdische Gemeinde in Bingen spaltete sich nach langen Spannungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in eine kleinere orthodoxe und eine größere reformierte Gemeinde auf. Auch auf dem Friedhof trennte seitdem bis 1925 eine Mauer den orthodoxen Teil vom Teil der reformierten Gemeinde. Während sich auch in anderen Städten die Gemeinden spalteten, gab es nur in wenigen Fällen eine Trennung des Friedhofs. [Anm. 3]

In der NS-Zeit wurde auch der jüdische Friedhof in Bingen geschändet. Anders als in vielen anderen Städten entging der Friedhof jedoch einer vollständigen Zerstörung. Heute ist der jüdische Friedhof in Bingen mit über 1.000 Grabsteinen auf einer Fläche von 9.327qm einer der Bedeutendsten in Rheinland-Pfalz. Die Grabsteine mit ihren Inschriften geben Einblicke in die jahrhundertelange Geschichte der Binger Judengemeinde.

Von 1992 bis 1995 erforschte eine Projektgruppe des Landesamtes für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz unter anderem den Binger Friedhof und erstellte eine Gesamtübersicht der jüdischen Friedhöfe des Bundeslandes. In diesem Zusammenhang entstand eine ausführliche Dokumentation der 1.000 erhaltenen Grabinschriften des Binger Judenfriedhofes, die mit interessanten Forschungseinblicken im Ausstellungsband „,Ein edler Stein sei sein Baldachin…‘ Jüdische Friedhöfe in Rheinland-Pfalz“ (1996) veröffentlicht wurde. [Anm. 4]

Nachweise

Redaktionelle Bearbeitung: Jonathan Bugert

Verwendete Literatur:

  • Grünfeld, Richard: Zur Geschichte der Juden in Bingen am Rhein. Festschrift zur Einweihung der neuen Synagoge in Bingen (Nachdruck). Bingen [1905] 2016.
  • Strehlen, Martina (Bearb.): „Ein edler Stein sei sein Baldachin…“. Jüdische Friedhöfe in Rheinland-Pfalz. Hgg. vom Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz. Mainz 1996.
  • Götten, Josef: Zur Geschichte des jüdischen Binger Friedhofs. In: Giesbert, Brigitte/ Goetz, Beate/ Götten, Josef (Hg.): Juden in Bingen. Beiträge zu ihrer Geschichte. Bingen 2015. S. 68 – 73.

Aktualisiert am: 20.02.2022

Anmerkungen:

  1. Vgl. Grünfeld [1905] 2016. S. 55; Strehlen 1996. S. 110; Götten 2015. In: Juden in Bingen. Beiträge zu ihrer Geschichte. S. 68 – 69.  Zurück
  2. Vgl. Strehlen 1996. S. 90 – 93. Götten 2015. In: Juden in Bingen. Beiträge zu ihrer Geschichte. S. 70.  Zurück
  3. Vgl. Grünfeld [1905] 2016. S. 56 – 58; Strehlen 1996. S. 116 – 131; Götten 2015. In: Juden in Bingen. Beiträge zu ihrer Geschichte. S. 69 – 70.  Zurück
  4. Vgl. Götten 2015. In: Juden in Bingen. Beiträge zu ihrer Geschichte. S. 70 – 73; Strehlen 1996. S. 141 – 145.  Zurück