Oppenheim in Rheinhessen

0.Oppenheim - die Wiege der chemisch-pharmazeutischen Chinin-Industrie in Deutschland

0.1.Die Fieberkrankheit Malaria

Seit Jahrtausenden ist die gemeinhin als „Wechselfieber“ bezeichnete Krankheit Malaria bekannt. Schon im Altertum lösten Fieberepidemien große Fluchtwellen aus und ganze Wohnsiedlungen lagen monatelang brach. Denn die Krankheit endete, sofern sie nicht behandelt wurde, meist mit dem Fiebertod. [Anm. 1] Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts fürchtete die Menschheit daher das verhängnisvolle Wechselfieber und es sollte noch einige Zeit dauern, bis die Ursache dieser Krankheit festgestellt werden konnte. Dennoch brachte man schon damals die Übertragung der Erreger mit Regionen in Verbindung, in denen ausgedehnte See- oder Sumpfgebiete existierten. [Anm. 2] Da die Seuche insbesondere in diesen Feuchtgebieten grassierte, wie etwa in Südspanien, der sumpfigen Po-Ebene in Norditalien oder den Pointinischen Sümpfen um Rom, vermutete man, dass die modrige Luft der stehenden Gewässer dafür verantwortlich sei. [Anm. 3] So entstand die bis heute gebräuchliche Bezeichnung Malaria im 19. Jahrhundert in Italien - „mala aria“ bedeutet übersetzt „schlechte Luft“. [Anm. 4] In Anbetracht der unzähligen Todesopfer, die das Sumpffieber immer wieder forderte, war die Entdeckung eines Heilmittels Mitte des 17. Jahrhunderts ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung. [Anm. 5]

0.2.Die Entdeckung der Chinarinde zur Heilung von Malaria

Um die Entdeckung des Heilmittels selbst, der sogenannten „Chinarinde“, ranken sich zahlreiche Legenden. Die wohl berühmteste Erzählung ist die des „Wunders von Lima“. Angeblich war es im Jahre 1638 die Frau des spanischen Vizekönigs von Lima und Grafen von Chinchón (1586–1647) – Peru gehörte damals zum spanischen Weltreich –, Francisca Henriques de Rivera, die an Sumpffieber erkrankte. Nachdem sich ihr Gesundheitszustand in kurzer Zeit rapide verschlechtert hatte, schien nur noch ein Wunder helfen zu können. In dieser ausweglosen Lage erinnerte sich der Graf an ein Gerücht seines Leibarztes, dem zufolge Indianern aus dem Gebiet um Luxa ein Heilmittel bekannt war. Als die Abgesandten des Grafen mit der bitterschmeckenden Rinde eines Baumes aus der Familie der Rubiazeen (Kaffeegewächse) zurückkehrten und hieraus ein Gebräu gemischt wurde, geschah das Wunder: am nächsten Morgen war die Gräfin fieberfrei. Fortan bezeichnete man den Rubiacea-Baum zu Ehren der Gräfin von Chinchón als „Chinchona“ oder Chinarindenbaum und die Geschichte um ein mögliches Heilmittel gegen das gefürchtete Sumpffieber verbreitete sich kurz darauf in ganz Europa. [Anm. 6]
Ob sich die Ereignisse tatsächlich auf diese Weise abgespielt haben, ist bis heute ungeklärt. Fest steht allerdings, dass sich auf Betreiben des Jesuitenordens bis Anfang des 18. Jahrhunderts ein reger Handel mit Chinarinde aus Peru, Ecuador und Bolivien entwickelt hatte. [Anm. 7]
Schließlich gelang es im Jahre 1819 dem deutschen Chemiker Friedhelm Ferdinand Runge (1795–1867), ein kristallines Pulver aus der Rinde zu isolieren, mit dem das Fieber bereits in geringer Dosis (1–2 Gramm) gesenkt werden konnte. Runge gab seiner Entdeckung den Namen „Chinin“. Dieser Isolierungsprozess glückte ein Jahr darauf auch den französischen Apothekern Pierre Joseph Pelletier (1788–1842) und Joseph Bienaimé Caventou (1795–1877). [Anm. 8] Ihr Erfolg war es, der den Oppenheimer Apotheker Friedrich Koch dazu inspirierte, einen eigenen Versuch zur Gewinnung von kristallinem Chinin zu wagen. Was als Wagnis begann, sollte die Entstehung des ersten industriellen Verfahrens zur Gewinnung von Chinin aus Chinarinde zur Folge haben. [Anm. 9]

0.3.Friedrich Koch und die erste Chininfabrik in Oppenheim

Ursprünglich stammte Johann Friedrich Ludwig Koch (1786–1865) aus Messel bei Darmstadt. Neben einer Apothekerlehre in Zwingenberg absolviert Koch ein Pharmaziestudium in Gießen. Im Jahre 1821 übernahm er die Löwenapotheke in Oppenheim, die noch im selben Jahr in das gegenüberliegende Haus „Schönecke“ in der Krämerstraße verlegte wurde. [Anm. 10] Von diesem Zeitpunkt an widmete Koch seine Aufmerksamkeit dem Gewinnungsprozess von Chinin, was angesichts der in Oppenheim vorherrschenden Umstände kein Zufall war. Aufgrund seiner sumpfigen Umgebung – genauer: des Rheinuferstreifens und des durch eine Rheinschleife entstandenen „Kühlkopfgebietes“ – war Oppenheim zu dieser Zeit besonders schwer vom Wechselfieber betroffen. [Anm. 11] Für seine malariakranken Kunden wollte Koch daher einen Weg finden, die Stoffe Chinin und Chinchonin in größeren Mengen herzustellen und damit eine dosierbare Arznei gegen das Sumpffieber zu entwickeln. [Anm. 12]

 

Nur wenige Monate später erzielten seine Versuche das gewünschte Ergebnis, wobei das Verfahren ein streng gehütetes Geheimnis blieb. [Anm. 13] Waren es anfänglich ein paar Unzen pro Woche, die Koch in den Kellerräumen für fiebergeplagte Oppenheimer Bürger produzierte, kamen bald darauf Aufträge von Ärzten, Apothekern und Kranken aus Mainz, Stuttgart, Basel und Amsterdam hinzu. [Anm. 14] Für derart große Bestellungen boten die Kellerräume nicht genügend Kapazitäten. Daher beschloss der Apotheker am 7. Juni 1830, den Rodensteiner Hof in Oppenheim aufzukaufen und ihn in eine Fabrik umzuwandeln. Für dieses Vorhaben wurde eine hierzulande damals noch unbekannte Dampfmaschine aus England importiert, die die Rinde zu grobem Pulver verarbeitete. Anschließend sorgte das von Koch entwickelte Verfahren für die Extraktion des Wirkstoffes. [Anm. 15] Friedrich Koch leistete mit dieser fortschrittlichen Technik Pionierarbeit auf dem Feld der chemisch-pharmazeutischen Industrie und wird heute als der erste Chininfabrikant in Deutschland betrachtet. Auch Oppenheim selbst erlangte als Ort, an dem die fabrikmäßig Herstellung des Heilmittels in großen Mengen erstmals ermöglicht wurde, deutschland- und später auch weltweite Bedeutung. [Anm. 16]

Industrielles Verfahren zur Gewinnung von Chinin aus Chinarinde nach Friedrich Koch 1823[Bild: Sara Anil]

0.4.Weltweiter Erfolg der Oppenheimer Chininfabrik

Kochs Verfahren war insofern kostengünstig, als dass die Wiederverwendung des Extraktionsmittels Materialverluste gering hielt.  Das Pulver war dennoch nicht billig, denn 1 Unze (etwa 30 Gramm) Chinin kostete anfänglich 13 Gulden, was einem Wert von 40 Kilogramm Schweinefleisch entsprach. Während ein Landarzt beispielsweise eine ganze Woche lang arbeiten musste, um sich das Heilmittel leisten zu können, waren es für einen Bahnwärter zwei Wochen. [Anm. 17] Hinzu kam, dass Chinarindenpräparate im Allgemeinen zwar die Erreger im Blut abtöteten, wodurch das Fieber gesenkt werden konnte, jedoch mussten malariakranke Patienten das Mittel ein Leben lang einnehmen. 1 Unze Chinin deckte dabei lediglich den Monatsbedarf und machte die Heilung daher zu einer kostspieligen Angelegenheit, die sich nur Wohlhabende leisten konnten. [Anm. 18] Während das Chinin für Normalbürger nur von geringer Bedeutung war, fand Koch in Großhändlern wie dem Stuttgarter Fabrikanten Friedrich Jobst viele Großabnehmer. [Anm. 19] Auch für das Militär spielte das Malariamittel eine große Rolle. Insbesondere die Engländer bezogen große Mengen an Chinin für ihre Kolonialtruppen, da bis dato mehr britische Soldaten am Fieber starben als bei Kampfhandlungen. [Anm. 20] Dass die Geschäfte für Koch äußerst gut liefen, bezeugt nicht zuletzt ein im Familienbesitz erhaltenes „Faktura-Buch“, das die Geschäftsentwicklung der Chininfabrik für die Jahre 1825 bis 1831 aufzeichnet. [Anm. 21] Laut den handschriftlichen Eintragungen konnte die Firma Koch jährlich größere Mengen „Chinaprodukte“  – schätzungsweise zwischen 30.000 und 60.000 Kilogramm – absetzen. Friedrich Koch dürfte bis Mitte des 19. Jahrhunderts damit umgerechnet etwa 20 bis 30 Millionen Mark Umsatz gemacht haben. Schließlich war die Firma Koch in Deutschland bis ins Jahr 1845 mit einem Marktanteil von bis zu 80 % unbestrittener Marktführer. Da zeitweise auch 75 % des weltweiten Chininbedarfs von deutschen Firmen gedeckt wurden, dürfte die Oppenheimer Firma am weltweiten Export ebenfalls großen Anteil gehabt haben. [Anm. 22]

0.5.Das Ende der Oppenheimer Chininfabrik

Bis 1850 stieg der weltweite Bedarf an Chinin derart an, dass es zu großen Versorgungsengpässen kam. Daher existierten bereits Pläne Kochs zur Gründung einer neuen Fabrik am südlichen Stadtrand von Oppenheim. Zu dieser Erweiterung kam es allerdings aufgrund einer Vielzahl von Faktoren nie. [Anm. 23] Neben der Entdeckung neuartiger, synthetisch hergestellter und damit wesentlich kostengünstigerer Fiebermittel, war es vor allem die Konkurrenz durch die Chinabaum-Plantagen der East India Company, die zu einem allgemeinen Preisverfall von Chinin führte. [Anm. 24] In Anbetracht der unsteten Marktlage entschied sich der Sohn Friedrich Kochs, Carl Heinrich Koch (1833–1910), die Fabrik 1888 zu schließen und den Rodensteiner Hof wieder zur Herstellung von Wein zu nutzen.  Die Zukunft sollte ihm Recht geben: 30 Jahre nach dem Tod seines Vaters, am 17. August 1865, brachte das Kilo Chinin gerade einmal 20 Mark ein. Trotz des Niedergangs der Koch’schen Chinin-Fabrik leistete die Familie Ende des 19. Jahrhunderts einen letzten großen Beitrag zur Bekämpfung der Malaria-Epidemien in Oppenheim. Carl Koch initiierte und unterstützte finanziell die Trockenlegung der Sümpfe, wodurch die Seuche ein für alle Mal in Oppenheim gebannt war. [Anm. 25]

Erstellt am: 05.10.2016
Bearbeitet von
: Sara Anil

 

Literatur

Hobhouse, Henry: Sechs Pflanzen verändern die Welt. Chinarinde, Zuckerrohr, tee, Baumwolle, Kartoffel, Kokastrauch. Aus dem Engl. Übers. V. Franziska Jung und Hans-Joachim Maass. Vierte, erweit. Und verbesserte Aufl. Stuttgart 2001.

 

Horst, Dieter: Friedrich Carl Koch. In: Oppenheim. Geschichte einer alten Reichsstadt. Eine historische Monographie. Hrsg. v. Hans Licht. Oppenheim am Rhein 1975, S. 252–254.

 

Roth, Klaus: Chemische Leckerbissen. Weinheim 2014.

 

Schwenk, Ernst: Die Wiege der Pharma-Industrie stand in Oppenheim. Friedrich Koch und die erste deutsche Chininfabrik. In: Oppenheimer Hefte 22 (2000), S. 2–21.

 

Vershofen, Wilhelm: Die Anfänge der chemisch-pharmazeutischen Industrie. Eine wirtschaftshistorische Studie. Berlin/Stuttgart 1949.

 

www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php (abgerufen am: 22.09.2016).

Anmerkungen:

  1. Vgl. Hobhaus 2001, S. 24  Zurück
  2. Vgl. Schwenk 2000, S. 6  Zurück
  3. Vgl. Schwenk 2000, S. 5.  Zurück
  4. Vgl. Hobhaus 2001, S. 21.  Zurück
  5. Vgl. Schwenk 2000, S.6; Hobhaus 2001, S. 32.  Zurück
  6. Vgl. Hobhaus 2001, S. 20; Schwenk 2000, S. 4-5; http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=22662 (abgerufen: 22.09.2016).  Zurück
  7. Vgl. Hobhaus 2001, S. 30; http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=22662 (abgerufen: 22.09.2016).  Zurück
  8. Vgl. Roth 2014, S. 43-44; Schwenk 2000, S. 9.  Zurück
  9. Vgl. Schwenk 2000, S. 21.  Zurück
  10. Vgl. Schwenk 2000, S. 10.  Zurück
  11. Vgl. Horst 1975, S. 252.  Zurück
  12. Vgl. Horst 1975, S. 253.  Zurück
  13. Vgl. Schwenk 2000, S. 10.  Zurück
  14. Vgl. Schwenk 2000, S. 11.  Zurück
  15. Vgl. Schwenk 2000, S. 11-12.  Zurück
  16. Vgl. Vershofen 1949, S. 80-81; Schwenk 2000, S. 21.  Zurück
  17. Vgl. Schwenk 2000, S. 14-15.  Zurück
  18. Vgl. Schwenk 2000, S. 8-9; Hobhaus 2001, S. 34. Nichtsdestotrotz bemühte sich Oppenheim auch um ein weniger aufwendiges Verfahren, wodurch ein Stoff namens "Chinoidin" gewonnen werden konnte, der wiederum nur ein Drittel des Preises von Chininsulfat kostete und sich somit für arme Leute als günstige Alternative erwies. Vgl. Horst 1975, S. 252.  Zurück
  19. Vgl. Vershofen 1949, S. 101-102.  Zurück
  20. Vgl. Schwenk 2000, S. 16; Hobhaus 2001, S. 39-40.  Zurück
  21. Vgl. Siehe dazu ausführlich: Vershofen 1949, S. 85.  Zurück
  22. Vgl. Schwenk 2000, S. 14 u. 16.  Zurück
  23. Vgl. Schwenk 2000, S. 18.  Zurück
  24. Vgl. Schwenk 2000, S. 18-19; Hobhaus 2001, S. 40.  Zurück
  25. Vgl. Schwenk 2000, S. 19-20.  Zurück