Rheinhessen

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gehen (Inf.) und (3.Pers. Pl.)

Karte 30: gehen (Inf.). Drenda, Georg: Kleiner linksrheinischer Dialektatlas. Sprache in Rheinland-Pfalz und im Saarland, S. 78.[Bild: Georg Drenda (IGL)]

Die Karten 30 und 31 sind vergleichend zu betrachten. Karte 30 thematisiert den Infinitiv (Nennform), Karte 31 die 3. Person Plural (Mehrzahl) des Verbs (Zeitwortes) gehen. Die Abfragesätze lauten: Ihr sollt gehen und euch die Hände waschen (Infinitiv) sowie Eure Uhren gehen alle vor (3. Person Plural).

Zur Karte 30 gehen – Infinitiv: Eine besondere Auffälligkeit stellt die Variation des Vokals (Selbstlauts) dar. Westlich einer Linie südlich Saarburg – Bernkastel-Kues – Cochem – Koblenz liegen Formen mit o oder ò vor (gohn, jòhn usw.). Östlich der Linie sind Formen mit i, e, ä, äi belegt: gih(n), geh(n), gäh und gäi. Die Zweiteilung des Gebietes lässt sich sprachhistorisch erklären. In mittelhochdeutscher Zeit hatte das Wort gehen die zwei Varianten gân und gên, die regional verschieden verteilt waren. Für die Dialektbelege mit o, ò, also z. B. gohn, jòhn, ist als Vorgängerform mittelhochdeutsch gân anzusetzen. Mittelhochdeutsch â wird in den Dialekten zu o oder ò, vgl. z. B. auch Rot ‘Rat’ (Karte 28), Schòòf ‘Schaf’, Bloos ‘Blase’. In einem kleinen Gebiet östlich von Trier nimmt o eine ö-ähnliche Klangfarbe an, so dass es dort göhn heißt. Die Belege mit i, e, ä und äi sind auf mittelhochdeutsch gên zurückzuführen. Mittelhochdeutsch ê kann sich in den Dialekten des Kartenfeldes zu i (vor allem im Moselfränkischen, vgl. auch z. B. Siil ‘Seele’) sowie zu ä oder äi (in der Pfalz; vgl. auch Sääl, Säil ‘Seele’) entwickeln.

Der am Wortanfang stehende Konsonant (Mitlaut) g wird im Norden unseres Gebietes zu j: john, jòhn. (Den genauen Verlauf der j/g-Grenze zeigt die Karte 49 gebacken.) Diese Lautentwicklung ist ein besonderes und weithin bekanntes Kennzeichen vor allem des Ripuarischen, also der Dialekte des Kölner Raums, wo es Jade ‘Garten’, Jlas ‘Glas’ usw. heißt. (Auch in anderen Gegenden wird g zu j, so z. B. im Stadtdialekt von Berlin.)

Das n am Ende des Wortes fällt ab östlich einer Linie Zweibrücken – Kusel – Bingen: geh, gäh usw. Dieser Vorgang tritt generell ein, wenn der vorangehende Vokal lang ist, vgl. etwa Hoo ‘Hahn’ und Wai ‘Wein’ (Karte 14, mit genauer Grenzangabe).

Karte 31: gehen (3. P. Pl.). Drenda, Georg: Kleiner linksrheinischer Dialektatlas. Sprache in Rheinland-Pfalz und im Saarland, S. 79.[Bild: Georg Drenda (IGL)]

Zur Karte 31 gehen – 3. Person Plural: Das Gebiet mit o als Stammvokal (belegte Variante: jòhn) ist wesentlich kleiner als in der Infinitiv-Karte. Von Süden her vorrückende Formen mit i/e (gihn, jihn, gehn usw.) haben die gohn/gehn-Grenze in den Norden von Rheinland-Pfalz verschoben. Es gibt also Dialekte, in denen gehen als Infinitiv und als Form der 3. Person Plural lautlich nicht übereinstimmen, z. B. gohn – Infinitiv und gehn – 3. Person Plural. Wie sind die unterschiedlichen Arealstrukturen beider Sprachkarten zu erklären? Im Mittelalter war das gân-Gebiet wesentlich größer als es die heutigen dialektalen Reflexe zeigen. Auch in der Gegend um Mainz galt gân. Mit der Zeit wurde die gân-Fläche durch die vorrückende gên-Variante immer mehr nach Norden zurückgedrängt. Der Ersatz der alten Form durch die neue erfolgte aber nicht systematisch-konsequent, sondern unterschiedlich für die einzelnen grammatischen Wortformen. Die neue Variante setzte sich in der 3. Person Plural weiträumiger durch als im Infinitiv, wie der dialektale Befund zeigt. Es spricht einiges dafür, dass dies mit der Gebrauchsfrequenz der grammatischen Formen zusammenhängt. Die 3. Person Plural wird häufiger verwendet als der Infinitiv, so dass sich dieser der Neuerung eher entziehen konnte.

Beim Infinitiv fällt in den Dialekten Rheinhessens und der Pfalz n am Ende ab (geh, gäh usw.). Die 3. Person Plural hingegen bewahrt n (gehn, gähn usw.). Die Divergenz lässt sich sprachhistorisch erklären. Anders als beim Infinitiv stand bei der 3. Person Plural das n nicht am Ende des Wortes. Ihm folgte noch t. Es heißt im Mittelhochdeutschen si gênt ‘sie gehen’. Da nur ein am Wortende stehendes n in den Dialekten abfallen konnte (s. auch Karte 41 schreiben), hatte die 3. Person Plural dieses bewahrt. Als später das End-t abgefallen war und n an das Ende des Wortes rückte, fand keine Tilgung statt, weil der lautgeschichtliche Prozess der n-Abstoßung abgeschlossen war.

Beim Infinitiv ist die Variante gäh vom Rhein etwa zwischen Ludwigshafen und Speyer bis in die Westpfalz verbreitet. Bei der 3. Person Plural ist dieses Areal bis auf einen kleinen Rest südwestlich von Kaiserslautern geschrumpft. Auch diese Entwicklung hängt mit der Gebrauchshäufigkeit der grammatischen Formen zusammen. Gähn ist die ältere Dialektform, gehn hingegen die modernere, die nicht nur das gähn-Gebiet umschließt, sondern darüber hinaus durch die standardsprachliche Entsprechung gestützt wird. In die häufiger verwendete flektierte (gebeugte) Form fand der neue E-Laut eher Eingang als in den seltener vorkommenden Infinitiv.

Literaturverzeichnis

Die im Text erwähnte Literatur finden Sie hier (Literaturverzeichnis).

Hinweise zu den Karten

Lesen Sie hier Hinweise des Autors zum besseren Verständnis der Atlaskarten.

Mehr zum Thema

Der obenstehende Inhalt ist entnommen aus Georg Drenda (2008): Kleiner linksrheinischer Dialektatlas. Sprache in Rheinland-Pfalz und im Saarland. Stuttgart.

Zitierhinweis

[Begriff] (Kartennummer), in: Georg Drenda (2008): Kleiner linksrheinischer Dialektatlas. Sprache in Rheinland-Pfalz und im Saarland, digitalisierte Version auf Regionalgeschichte.net, < URL >, abgerufen am TT.MM.JJJJ.

z.B.: suchen (Karte 37), in: Georg Drenda (2008): Kleiner linksrheinischer Dialektatlas. Sprache in Rheinland-Pfalz und im Saarland, digitalisierte Version auf Regionalgeschichte.net, <https://www.regionalgeschichte.net/rheinhessen/sprache/dialektatlas-rlp-saar/begriffe-dialektatlas-rlp-saar/lautkarten/suchen.html>, abgerufen am 01.01.2022.