0.Nebel um das Nebel'sche Haus
Im Kapitel „Laubenheim“ der Denkmaltopographie der Vororte der Stadt Mainz [Anm. 1] wird der „Mainzer Hof “, Oppenheimer Straße 8, als „Nebel’sches Haus“ bezeichnet, also mit der urkundlich bezeugten „Frühmesserei“ gleichgesetzt. Diese falsche, auf einer Fehldeutung der Quellen beruhende Gleichsetzung bedarf dringend der Richtigstellung. Um den Laubenheimern vermehrte Gelegenheit zum Gottesdienstbesuch zu geben, errichtete der Kurmainzer Hofrat und Revisionssekretär Johann Heinrich Nebel eine Frühmessstiftung (1724; niedergeschrieben am 8. Juli 1726). Sie war dotiert mit Haus und Hof, 8 ½ Morgen Land und 2.000 Gulden, sowie einmaligen Zahlungen an die Gemeinde von 100 Gulden für den Unterhalt des Hauses und 500 Gulden für den Glöcknerdienst, da zu den vom Inhaber der Stiftung, dem „Frühmesser“, an Sonn- und Feiertagen zu haltenden Frühgottesdiensten geläutet wurde. [Anm. 2] Die Sorge der Gemeinde für das Frühmesserhaus ließ sich aus den – inzwischen leider verlorenen – Gemeinderechnungen von 1747, 1756, 1758, 1773, 1778 erkennen. [Anm. 3] Inhaber der Laubenheimer Frühmesserstelle war seit 1767 Pankraz Schreck, der zuvor acht Jahre Kaplan in Bodenheim gewesen war. [Anm. 4] Bei der Besetzung Laubenheims durch die französischen Revolutionstruppen mussten der damalige Pfarrer Johann Franz Mees und der Frühmesser Laubenheim verlassen; der Frühmesser kehrte jedoch bald zurück und übernahm als Pfarrer die Seelsorge der verwaisten Gemeinde; bereits 1796 konnte er wieder Kinder zur Erstkommunion führen. [Anm. 5] Da der Zehnthof des St.-Viktor-Stifts, in dem sich seit 1675 die Wohnung des Pfarrers befunden hatte (er lag auf dem Gelände in der heutigen Straße Am Alten Spritzenhaus Nr. 1), 1794/95 durch die Mainz belagernden französischen Truppen, ebenso wie die Kirche und weitere Gebäude Laubenheims, zur Gewinnung von Brennholz zerstört worden war – es war anscheinend auch schon vorher baufällig gewesen. [Anm. 6] –, wurde nunmehr die „Frühmesserei“ zum Pfarrhaus und blieb es nach Abriss und Neubau um 1820 [Anm. 7] bis zur Übernahme des alten Schulhauses bei der Kirche im Jahre 1908. Die Straße, an der das Anwesen lag, erhielt daher den bis heute geltenden Namen „Pfarrgasse“ (Hausnummer 1; vorher galt sie als oberer Teil der „Mittelgasse“).
1908 wurde das Haus an eine Bauernfamilie für 11.200 Mark (statt ursprünglich erwarteter 22.000 Mark!) verkauft. [Anm. 8] Dass in dem Artikel der Denkmaltopographie statt des Pfarrhauses in der Pfarrgasse der „Mainzer Hof“ als „Nebel’sches Haus“ bezeichnet wird, beruht, wie eine Aktennotiz des Landesdenkmalamtes (Aktenzeichen 15 40 20 L OP 8) zeigt, auf der Fehlinterpretation der Angabe von Pfarrer Mees im Visitationsprotokoll von 1790, das Pfarrhaus sei „zerstört“, obwohl sich diese Aussage ausdrücklich auf die Pfarrwohnung „im Zehnthof des St.-Viktor-Stiftes inmitten des Dorfes“ bezieht.
Während also als „Nebel’sches Haus“ nur das Haus in der Pfarrgasse in Frage kommt, gehörte der „Mainzer Hof“ zum Besitz der Mainzer Bürgerlichen Hospizien. Unter dieser Bezeichnung (französisch „Hospices civils“) waren 1798 von der französischen Verwaltung alle Mainzer Spitäler zu einer einzigen öffentlich-rechtlichen Institution zusammengefasst worden. Auf diese geht der noch heute existierende Mainzer Hospizienfonds zurück. [Anm. 9] Diese Zugehörigkeit belegen u.a. zwei Dokumente über die Nutzung des Gehöfts und zugehöriger Ländereien durch den Steuerdirektor des Departements Mont Tonnerre (Donnersberg), Jean Dagobert Daigrefeuille:
- Der Plan vom 3. April 1808 zeigt „die Flächen, die dem in der Gemarkung Laubenheim gelegenen, gegenwärtig von Herrn Daigrefeuille genutzten Gutshof der Mainzer Hospizien hinzuzufügen sind …“ [Anm. 10]
- Nach dem Tod von Daigrefeuille (15.10.1816) fielen diese Grundstücke an die Bürgerlichen Hospizien zurück, beurkundet nach Vermessung am 9. März 1832 (!) durch Lagepläne und genaue Lageangaben und einen „ÜBERSICHTSPLAN der im Banne Laubenheim liegenden dem ehemaligen Steuer Director Daigrefeuille lebenslänglich überlassen gewesenen und nunmehr wieder den bürgerlichen Hospizien anheim gefallenen Güter.“ Unter Nr. 17 und 18 ist genannt „Haus, Hof und Baumgarten“ bzw. „Ein Weingarten allda“. [Anm. 11]
Jean Dagobert Daigrefeuille (ursprünglich d’Aigrefeuille; * 8.6.1753 in Colmar) studierte ab 1769 Rechtswissenschaften und katholische Theologie; 1776 wurde er Priester in Basel, 1778 Rektor des Kapitels von Kloster Murbach, 1785 der Kapitelkirche von Cernay (Sennheim). 1791 leistete er als Rektor der Kapitelkirche Guebwiller den Eid auf die Zivilverfassung des Klerus und legte bald darauf sein Priesteramt nieder. Er wurde Regierungskommissar in Ammerschwihr, Agent National in Riquewihr, 1798 Generalsekretär des französischen Generalkommissariats in Mainz, 1799 Privatsekretär des Generalkommissars Joseph Lakanal. Nach der Verwaltungsreform Napoleons (1800) wurde er zum Steuerdirektor des Departements Mont Tonnerre (Donnersberg) ernannt, war Mitglied des Conseil général des Departements und des Wahlkollegiums in Mainz. In „seinem“ Laubenheimer Grundstück legte er einen Zier- und Nutzgarten an, in dem auch Statuen aufgestellt waren (so Hans Stramitzer in seinem „Beitrag zur Geschichte von Laubenheim“ [Anm. 12], S. 33 – allerdings mit durch die mündliche Überlieferung verändertem Namen: „Freiherr von Degenfeld“). [Anm. 13] Dass in der Zeit der Nutzung durch den hohen französischen Beamten Daigrefeuille der „Mainzer Hof “ zugleich Frühmesserei bzw. Pfarrhaus gewesen sein könnte, wie es die Gleichsetzung mit dem „Nebel’schen Haus“ (und die dem zugrunde liegende Aktennotiz) unterstellt, ist ausgeschlossen.
Im 19. Jahrhundert war das Gelände im Besitz von Anton Möhn I (Bürgermeister von Laubenheim 1837–1854); [Anm. 14] es soll dort eine Zigarrenfabrik gegeben haben. Spätestens seit 1896 ist es als Gasthaus bezeugt, zunächst betrieben von Mitgliedern der Familie Möhn („Gasthaus Geschwister Möhn“; ab ca. 1900 „Gasthaus Mainzer Hof “). Um 1920 übernahm es Josef Müller III, der zuvor die Wirtschaft „Zum Storchen“ in der Kirchstraße 6 (heute Pfarrer-Goedecker-Straße 5) innehatte, weshalb dieser Name, sozusagen als Zweitname, auf den „Mainzer Hof “ (und die Wirtsfamilie) überging; [Anm. 15] die Familie, bzw. ihre direkten Nachfahren, besitzt das Gasthaus noch heute; der Bauernhof auf dem nördlichen Teil des Gesamtareals ging damals durch Grundstücksteilung an einen anderen Zweig der Familie über.
Es ist zu hoffen, dass diese Darlegungen – zusammen mit dem grundlegenden Artikel von Franz Staab (s.o. Anm. 2) – dazu führen, dass die falsche Identifikation des „Mainzer Hofs“ als „Nebel’sches Haus“ in der offiziellen Denkmaltopographie korrigiert wird; denn dieser „herrschaftliche Spätbarockbau, der den Eingang zum engeren Ortskern städtebaulich aufwertet“ (vgl. Denkmaltopographie, S. 122), ist ein wichtiges Element des Laubenheimer Ortsbildes.
Anmerkungen:
- Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz. Band 2.3. Stadt Mainz. Vororte. Bearb. von Dieter Krienke. Worms 1997, S. 113-122. Zurück
- Zur „Nebel’schen Stiftung“ Franz Staab, Katholische Kirche und Pfarrei Laubenheim bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. In: Laubenheimer Chronik, 1988, S. 165f. (= Festschrift 1973, S. 122). Zurück
- Staab, a.O., S. 169, Anm. 28. Zurück
- Staab, a.O., S. 168. Zurück
- Staab, a.O., S. 168. Zurück
- Vgl. Staab, a.O., S. 169 (Anm. 24 zu S. 164). Zurück
- Bauplan im Stadtarchiv Mainz VOA 13 4; s. Abb. 1 und 2. Zurück
- Vgl. Gebhard Kurz: Die Kirchenerweiterung von 1907/08. In: Festschrift 100 Jahre Kirchenerweiterung: Kath. Pfarrkirche Mariä Heimsuchung Mainz-Laubenheim. Mainz-Laubenheim 2008, S. 17 u. 24. Zurück
- Vgl. Franz Dumont: Helfen und Heilen – Medizin und Fürsorge in Mittelalter und Neuzeit. In: Mainz. Die Geschichte der Stadt. Mainz 1998, S. 787. Zurück
- Französischer Text: PLAN Indiquant les Terrains à ajouter à la Ferme des Hospices de Mayence située dans la Banlieue de Laubenheim, présentement Exploitée par M. Daigrefeuille. Sichtvermerk des Präfekten Jeanbon St. André vom 11.05.1808, StA Mainz 60 Nr. 887; s. Abb. 3. Zurück
- StA Mainz, 40 Nr. 14 ; s. Abb. 4 und 5. Zurück
- In: Festschrift zum Gesangs-Wettstreit anläßlich der 80jährigen Jubelfeier des [Männer-Gesang-]Vereins [Laubenheim a. Rh.] 1925, S. 9–58. Zurück
- In der obengenannten Aktennotiz des Landesdenkmalamtes „Freiherr von Dagenfeld“. Zurück
- Stramitzer, a.O., S. 33. Zurück
- Wolfgang Stampp: Die Straßen von Mainz-Laubenheim. Entwicklung, Benennung und mehr. Mainz-Laubenheim 2017, S. 44; ders., Industrie, Handel und Gewerbe in Laubenheim/Rh. Entwicklung von ca. 1900 bis 2011. Mainz-Laubenheim 2012, S. 159–161. Zurück