Worms in Rheinhessen

3. Der Waffenstillstand vom 11. November 1918

Die Unterzeichnung des Waffenstillstandes am 11. November 1918[Bild: Bundesarchiv [CC BY-SA 3.0 DE]]

Damit aufs Engste zeitlich verknüpft war der Abschluss des Waffenstillstandsvertrags zwischen Deutschland und den Mächten der Entente am 11. November 1918.[Anm. 1] Durch eine Reihe von Notenwechseln mit der deutschen Regierung hatten die USA mit Präsident Wilson die Voraussetzung für den Abschluss von Waffenstillstandsverhandlungen geschaffen. In der „Lansing-Note“[Anm. 2] vom 5. November 1918 ermächtigten sie den Oberkommandierenden der Alliierten Heere, den französischen Marschall Foch,[Anm. 3] zur Verhandlungsführung im Namen aller Westalliierten mit dem Leiter der deutschen Waffenstillstandskommission, Matthias Erzberger.[Anm. 4] Wirkliche Verhandlungen fanden nicht statt. Im Salonwagen von Compiègne ging es um die Entgegennahme der Waffenstillstandsbedingungen Fochs durch Erzberger, wobei es letzterem oblag, einige geringfügige Modifizierungen oder kurze Stellungnahmen zu dem von Foch festgelegten Text vorzubringen.[Anm. 5] Am 11. November wurde das Abkommen von den Delegationen unterschrieben.[Anm. 6]

Im Folgenden seien die wichtigsten der die Westfront betreffenden Artikel des Waffenstillstandsabkommens erläutert. Nach „Einstellung der Feindseligkeiten zu Lande und in der Luft“ erfolgte die „Räumung der besetzten Gebiete“, nämlich Belgiens, Frankreichs, Luxemburgs sowie Elsass-Lothringens (Art. I) und die Besetzung dieser Gebiete durch die Truppen der Alliierten und der USA (Art. II).[Anm. 7] Das Kriegsmaterial (Kanonen, Maschinengewehre, Flugzeuge u.a.) war an diese Mächte auszuliefern. Der für die Rheinlandbesetzung zentrale Art. V lautete:[Anm. 8]

„Räumung der linksrheinischen Gebiete durch die deutschen Armeen. Die Gebiete auf dem linken Rheinufer werden durch die örtlichen Behörden unter Aufsicht der Besatzungstruppen der Alliierten und Vereinigten Staaten verwaltet. Die Truppen der Alliierten und der Vereinigten Staaten werden die Besetzung dieser Gebiete durch Garnisonen bewirken, die die wichtigsten Rheinübergänge (Mainz, Koblenz, Köln) inbegriffen je einen Brückenkopf von 30 km Durchmesser auf dem rechten Ufer beherrschen und außerdem die strategischen Punkte dieses Gebiets besetzten. Auf dem rechten Rheinufer wird eine neutrale Zone geschaffen. Sie verläuft zwischen dem Fluss und einer Linie, die parallel den Brückenköpfen und dem Fluss gezogen wird, in einer Breite von 10 km von der holländischen bis zur Schweizer Grenze. Die Räumung der rheinischen Gebiete auf dem linken und rechten Ufer wird so geregelt, dass sie in einem Zeitraum von weiteren 16 Tagen durchgeführt ist, also im Ganzen in 31 Tagen nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes. […]“

In allen geräumten Gebieten mussten die „militärischen Einrichtungen“ […] „in unversehrtem Zustande ausgeliefert (werden), ebenso alle militärischen Vorräte, Lebensmittel, Munition, Ausrüstungsstücke […].“Außerdem hatten dort alle Lebensmitteldepots an Ort und Stelle zu verbleiben, industrielle Anlagen durften nicht zerstört werden, denn alle diese Objekte waren Werte, die für die Sieger als Pfand fungierten. Umfangreiche Bestimmungen zur Infrastruktur verfolgten dasselbe Ziel: Eisenbahnen, Wasser- und Landstraßen, telegrafische und telefonische Anlagen mussten an die Alliierten übergeben werden. Ferner blieben alle zivilen und militärischen Bediensteten auf ihren Posten. Alles was zum Eisenbahnbetrieb auf dem linken Rheinufer notwendig war, sowohl Betriebsmaterial als auch Kohlevorräte, die Deutschland zu unterhalten hatte, waren dort zu belassen. Ein großes Problem stellte die geforderte Auslieferung von 5000 Lokomotiven und 150.000 Eisenbahnwagen dar, die – ebenso wie die Übergabe von 5000 Lastwagen – in absehbarer Zeit zu erfolgen hatte.[Anm. 9]

Der auch für die Stadt Worms folgenreiche Artikel IX bestimmte das Recht der alliierten Armeen auf Requisitionen. „Der Unterhalt der Besatzungstruppen […] erfolgt auf Kosten der deutschen Regierung.“ Die Alliierten behielten sich außerdem vor, zukünftig Reparationszahlungen als Schadenersatz für alle Kriegsschäden zu fordern, insbesondere für die von den deutschen Truppen zerstörten französischen Landesteile. Sie stellten fest: “Während der Dauer des Waffenstillstands darf der Feind keine öffentlichen Werte beseitigen, die den Alliierten als Sicherheit für die Deckung der Kriegsschäden dienen könnten.“[Anm. 10] Besonders wichtig war Artikel XXVI: „Die Blockade der alliierten und assoziierten Mächte bleibt in gegenwärtigem Umfange bestehen […]. Die Alliierten und die Vereinigten Staaten nehmen in Aussicht, während der Dauer des Waffenstillstands Deutschland in dem als notwendig anerkannten Maße mit Lebensmitteln zu versorgen.“[Anm. 11] Diese Bestimmung war brisant, weil Deutschland dadurch auf Gedeih und Verderb auf die Lebensmittellieferungen der Alliierten angewiesen war, besonders im Zusammenhang mit Artikel XXXIV. Denn dieser legte fest, dass der der Waffenstillstand 36 Tage nach seinem Abschluss ausgesetzt werden konnte, falls seine Bestimmungen nicht ausgeführt wurden. Bei Nichterfüllung seitens Deutschlands befände man sich also wieder im Kriegszustand. Zur Überprüfung, ob das Abkommen von Deutschland eingehalten wurde, setzten die Alliierten die sogenannte Ständige Internationale Waffenstillstandskommission ein, „unter oberster Leitung des Oberkommandos der Alliierten zu Wasser und zu Lande“.[Anm. 12]

Insgesamt drei Mal wurde der Waffenstillstand während sehr harter Verhandlungen in Trier zwischen den Delegationen des Marschalls Foch und des Staatssekretärs Erzberger verlängert. Thema der dortigen Verhandlungen waren u.a. die Forderungen Fochs nach vollständiger Ablieferung des nach den Vertragsbedingungen auszuliefernden Materials und den Erklärungen Erzbergers, warum angesichts der Situation in Deutschland (Revolution, Streiks, allgemeine Not) die entsprechenden Lieferungen noch nicht erfolgt waren.[Anm. 13] Außerdem ging es immer wieder um die Klage Erzbergers, dass das besetzte linksrheinische Gebiet von den rechtsrheinischen Territorien abgesperrt werde. Falls die Verkehrsfreiheit zwischen den okkupierten Teilen und dem übrigen Deutschland nicht gewährt würde, müsse das linksrheinische Gebiet wirtschaftlich zusammenbrechen.[Anm. 14] Am 16. Januar 1919 schrieb Erzberger in einer Note an Foch: „Das Fortbestehen der bisherigen Sperre in Güter- und Warenverkehr würde zahlreiche Zweige des Wirtschaftslebens [im besetzten Gebiet] zum Erliegen bringen und dadurch Arbeitslosigkeit, Elend und Unruhe in einem Maße hervorrufen, das auch den Alliierten nicht wünschenswert erscheinen kann.“[Anm. 15] Die Blockade der Lebensmittelversorgung von ganz Deutschlands durch die Alliierten war ein zwischen den beiden Bevollmächtigten kontrovers diskutiertes Thema. Erzberger äußerte sich in einer langen Rede am 15. Januar 1919 in Trier:[Anm. 16] „Die Ernährungsfrage ist die zurzeit dringendste. Nachdem das deutsche Volk waffenlos geworden ist, kann es menschlicherweise nicht auch noch brotlos werden. Hunger und Verzweiflung würden dem deutschen Volke den Rest von Lebenskraft nehmen, an dessen Erholung auch die Alliierten interessiert sind.“ Er sprach den Fett- und Fleischmangel sowie die zu Ende gehenden Getreidevorräte an, besonders aber das Fehlen von Kindermilch.[Anm. 17] Foch drängte auf die Erfüllung sämtlicher Bedingungen. Um die Lebensmittelversorgung Deutschlands und Europas sicherzustellen, sei, so Foch, „die ganze deutsche Handelsflotte der Kontrolle der alliierten Mächte […] zu unterstellen“.[Anm. 18] Die dritte Verlängerung des Waffenstillstands am 16. Februar 1919 war unbefristet gültig, „wobei die alliierten Mächte […] sich das Recht vorbehalten, mit einer Frist drei Tagen zu kündigen.“[Anm. 19]

Das Prinzip der Verhandlungen bestand also darin, durch die Festlegung der kurzfristigen Dauer des Waffenstillstands sämtliche alliierten Forderungen durchzusetzen und, falls dies nicht zum Ziel führte, mit Wiederaufnahme des Krieges zu drohen.

3.1 Die Jahre 1918/19: Beginn der französischen Besatzung in Worms und Rheinhessen

Unterdessen waren am 4. Dezember 1918 die letzten deutschen Truppen aus Worms über den Rhein gezogen.[Anm. 20] Am 7. Dezember 1918 meldete die Wormser Zeitung, dass am 5. Dezember ein erstes Vorauskommando der alliierten Besatzungstruppen in Ludwigshafen eingetroffen sei.[Anm. 21] Eine interalliierte Kommission bestehend aus einem französischen, einem englischen und einem amerikanischen Offizier habe die Absetzung des Arbeiter- und Soldatenrats, die Aufhebung des Achtstundentags, die Einführung des Arbeitszwangs und die Todesstrafe für schwere Zuwiderhandlungen verfügt. Gleichzeitig meldete die Wormser Zeitung vom 7. Dezember für den vorangehenden Abend Voraustruppen von etwa 20 Mann in Worms.[Anm. 22] Die gleiche Ausgabe informierte: „Heute Vormittag erfolgte die Übergabe der Post und die vorläufige Sperre des Telegraphen- und Telephonverkehrs. Voraussichtlich treffen heute Vormittag etwa 2000 Mann Besatzungstruppen hier ein.“[Anm. 23]

Weiter hieß es in der Presse am gleichen Abend: „Ein Bataillon französischer Alpenjäger hielt heute Nachmittag ¾ 2 Uhr von Frankenthal kommend, mit klingendem Spiel seinen Einzug in Worms. Es kommt noch eine Batterie Artillerie und eine Schwadron Kavallerie.“[Anm. 24] Die Besetzung der linksrheinischen Provinz Rheinhessen wurde durch die Bestimmungen der Zusatznote 1 zum Waffenstillstand vollzogen und oblag der „Groupe d’Armée Fayolle“.[Anm. 25] Diese umfasste die 8. und 10. französische Armee unter der Leitung ihres kommandierenden Generals Émile Fayolle.[Anm. 26] Der Sitz des Oberkommandos der 10. Armee unter General Charles Mangin[Anm. 27] sollte in den folgenden Tagen die Provinzhauptstadt Mainz werden. Bereits am 11. Dezember 1918 war mit dem Einmarsch der Truppen in Ingelheim die Besetzung Rheinhessen abgeschlossen. Teile der 10. Armee besetzten bis zum 13. Dezember den rechtsrheinischen Mainzer Brückenkopf. Die Brückenköpfe Mainz und Koblenz waren nach Plänen der französischen Armeeführung als Ausgangspunkte eventueller Vorstöße ins östliche und südöstliche Deutschland vorgesehen, falls die Bedingungen des Waffenstillstandvertrags nicht erfüllt wurden.[Anm. 28]

Am Sonntag, dem 8. Dezember, so meldete die Wormser Zeitung, hätten sich um 15 Uhr „die oberen Behörden des Kreises und der Stadt, der Eisenbahn und der Post sowie der Geistlichkeit aller Konfessionen im Cornelianum versammelt. Der Herr Divisionsgeneral stellte der Versammlung den Herrn Obersten Vaulgrenant vor, dem die Militärverwaltung unterstellt ist.“[Anm. 29] Colonel Vaulgrenant war der sogenannte Kreisdelegierte, der oberste Verantwortliche der Militärbehörde der französischen Besatzungsmacht im Kreis Worms. Er hatte sein Domizil im Wormser Kreisamt, das an der Ecke Andreasstraße/Dechaneigasse in einem ehemaligen Domherrenpalais, dem Bettendorfer Hof, untergebracht war.[Anm. 30]

3.2 Die Polizeiverordnung vom 8. Dezember 1918

Der französische Brigadestab vor seinem Quartier im Heylshof, 1919[Bild: StadtA Wo, Fotoabteilung Nr. CH 2045]

Laut Polizeiverordnung vom 8. Dezember 1918 hatte „der dienstliche Verkehr aller Behörden mit der Besatzungsbehörde durch den zuständigen Beamten des Kreisamts Worms, Herrn Regierungsdirektor Heyne“, zu erfolgen.[Anm. 31] Der Kreisamtsleiter war zusammen mit seiner Behörde die wichtigste Vermittlungsstelle zwischen der französischen Besatzungsverwaltung und den Einwohnern des Kreises Worms. Die weiteren französischen Machtzentren in Worms waren das Hauptquartier im „Europäischen Hof“, einem Hotel gegenüber dem Hauptbahnhof. Der Brigadestab war im Heylshof lokalisiert und die Etappenkommandantur befand sich im Cornelianum.[Anm. 32] Die Polizeiverordnung umfasste 30 Artikel, deren Inhalt das Leben der Wormser Bevölkerung entscheidend verändern sollte und ein rigides Besatzungsregime erwarten ließ. Das Kreisamt hatte am 8. Dezember eine Meldung an den Oberbürgermeister der Stadt Worms und die Bürgermeistereien der Landgemeinden des Kreises herausgegeben: Neben der Polizeiverordnung des kommandierenden Generals seien sämtliche Ausführungsbestimmungen unmittelbar „zum Aushang zu bringen und auch sonst ortsüblich bekannt zu machen.“[Anm. 33] Für die genaue Ausführung der Bestimmungen, die bereits am 8. Dezember in Kraft traten, sei Sorge zu tragen.

Artikel 1 besagte, dass das okkupierte Gebiet unter Kriegsrecht stehe. Artikel 2 bestimmte, dass die deutschen Beamten ihre Ämter weiter ausüben durften, allerdings „unter der Leitung und der Kontrolle der französischen Militärbehörden.“ Es folgten in den Artikel 3 bis 7 Bestimmungen zur Aufenthaltserlaubnis. Alle Personen über zwölf Jahre, die sich nach dem 1. August 1914 „im Armeegebiet“ niedergelassen hatten, mussten sich unmittelbar nach Inkrafttreten der Verordnung auf dem Bürgermeisteramt melden, um sich mit den entsprechenden Dokumenten zu legitimieren. Alle Personen über zwölf Jahre, die vor dem 1. August 1914 ansässig waren, waren verpflichtet, eine sogenannte Aufenthaltserklärung abzugeben; und zwar für sich selbst und für ihre Familie samt Dienstboten. Jeder Einwohner über zwölf Jahre benötigte eine Legitimationskarte, „Carte d’Identité“, die mit einer Unterschrift des Bürgermeisters und der Militärbehörde versehen war. Entsprechende Personenverzeichnisse mussten den französischen Behörden zur Verfügung gestellt werden.

Probleme bereiteten der rheinhessischen Bevölkerung ebenfalls die Bestimmungen über das Verkehrs- sowie das Post‑, Telegrafen- und Telefonwesen (Art. 8-10 bzw. Art. 16-19). Das besetzte Gebiet durfte ohne Erlaubnis des kommandierenden Generals weder betreten noch verlassen werden. Innerhalb einer Gemeinde war die Bewegung zu Fuß zwischen 6 und 20 Uhr erlaubt, während außerhalb des Ortes ohne schriftliche Genehmigung nicht verkehrt werden durfte. Wer mit dem Fahrrad oder zu Pferde unterwegs war, brauchte einen Begleitschein. Ebenso waren Erlaubnisse einzuholen, um per Eisenbahn oder im Auto zu reisen. Nachts war der Verkehr zwischen 20 und 6 Uhr untersagt. Als öffentliche Zeit galt zukünftig die französische, d.h. die westeuropäische. Alle Briefe und Telegramme wurden auf den Bürgermeisterämtern gesammelt und dort von der Militärbehörde kontrolliert. Die Beförderung von Briefen durch Privatpersonen war verboten, ebenso wie der private Gebrauch des Telefons. Vorhandene Apparate mussten abgegeben werden. Wie bereits erwähnt, betrafen die Verkehrsprobleme vor allem die Verbindungen zwischen dem rechts- und linksrheinischen Gebiet, denn sehr bald nach Beginn der Besatzung wurden die Wormser Eisenbahn- und Straßenbrücke mit französischen Posten versehen.

Im Bericht Dietrich Eberhards hieß es: „Jeder Verkehr ruhte. Weder Erwachsene noch unsere Schüler von der rechten Rheinseite konnten anfänglich herüber. Nach Wochen kamen die Schüler erstmalig wieder zu uns nach Worms. […] Die rechtsrheinischen Züge kamen nur bis Hofheim im Ried.“ Oft habe „mancher sich Heimsehnender der Gefahr getrotzt und durch Überschwimmen des Rheins herüberzukommen versucht.“[Anm. 34] Zu erwähnen sind noch die Artikel 11 und 12 über das Versammlungsverbot ohne Erlaubnis der Ortsmilitärbehörde und die Verordnungen zur Pressezensur (Art. 13-15).[Anm. 35] Druckerzeugnisse durften ohne Genehmigung der französischen Behörden nicht veröffentlicht, verkauft oder verteilt werden. Die Verbreitung von Nachrichten, die die öffentliche Ordnung stören könnten, war unter Strafe gestellt. Artikel 21 beinhaltete das Recht der Besatzungsbehörden auf Requisitionen. Der Verkauf von Alkohol war untersagt, auch durften keine neuen „Schankwirtschaften“ eröffnet werden. Der Zutritt zu diesen, wie auch zu Cafés und Restaurants war nur zwischen 8 und 20 Uhr erlaubt (Art. 22, 23).

Die Bestimmung, dass alle Zivilisten eine ehrerbietige Haltung gegenüber den französischen und alliierten Offizieren einzunehmen hatten, stieß häufig auf große Ablehnung (Art. 24). Konrektor Kaspar Schmitt von der Wormser Oberrealschule merkte dazu an: „Eine große Erbitterung […] erregte die Art und Weise, wie Wachtposten die Vorübergehenden behandelten. Manchen Kolbenstoß musste man sich gefallen lassen, wenn man nicht vor dem Posten auf dem Fahrweg ging, oder den Offizieren, die fast nie ohne Reitpeitsche ausgingen, geziemend auswich.“[Anm. 36] Artikel 29 drohte die Verantwortlichen von Tätigkeiten „gegen die Sicherheit des Heeres“ vor ein Kriegsgericht zu stellen. Strafen waren u.a. ein Jahr Zuchthaus, eine Geldbuße von 1000 Franken und die Ausweisung aus dem besetzten Gebiet.

3.3 Stichworte zur wirtschaftlichen Lage 1919

Neben einer bereits kriegsbedingt schlechten Versorgungslage, insbesondere mit Lebensmitteln und Brennstoffen, stellte die nahezu vollständige Unterbrechung des Güterverkehrs zwischen Rheinhessen und den rechtsrheinischen Gebieten bis zum 12. Juli 1919 eine der größten Herausforderungen für die rheinhessische Wirtschaft dar. Für März 1919 liegt aus dem Bezirk des Wirtschaftsrats Mainz ein erster Bericht über die wirtschaftliche Lage vor.[Anm. 37] Daraus geht hervor, dass zwar aus dem unbesetzten Gebiet z. T. Rohstoffe eingeführt werden durften, aber nicht dringend benötigte Fertigprodukte. Das betraf vor allem Textil- und Eisenwaren, chemische Produkte, Glas-, Porzellan- und Schreibwaren sowie Zigarren und Zigaretten. Andererseits bestand ein Ausfuhrverbot für sogenannte veredelte Produkte, z.B. Obstsäfte und alkoholische Getränke, die fast ausschließlich im rechtsrheinischen Gebiet abgesetzt wurden. Davon waren außer den Weinbauern und -Händlern die großen rheinhessischen Mühlen betroffen, von denen es einige in Worms gab. Absatzprobleme hatten etwa Bierbrauereien, die Kaffee- und Schokoladenindustrie sowie die Essig-, Senf- und Konservenfabriken. Der Verlust von Kunden im unbesetzten Gebiet war die langfristige Folge der Blockade des Handels und der Industrie auf der linken Rheinseite.

Die „Mittelungen der Handelskammer Mainz“, seit Mai 1921 „Mitteilungen der Rheinhessischen Handelskammern Bingen, Mainz, Worms“ genannt, bieten ab Dezember 1919 gute Gradmesser für die Wirtschaftsprobleme.[Anm. 38] Die hessischen Handelskammern hatten bereits im Herbst 1919 im Einvernehmen mit der Regierung eine sogenannte Industriestelle geschaffen, um Fragen der Ein- und Ausfuhr und der Rohstoffverteilung zu lösen und um die Industrie bei Reichs-, Staats- und Besatzungsbehörden zu vertreten. Ständige Themen in den Mitteilungen der Handelskammer Mainz waren die Bekämpfung des Schieber- und Wucherwesens, die Missstände im Fernsprechverkehr wegen Personalmangels und der Überlastung der Leitungen durch die Besatzungsbehörden. Andere Probleme waren die „Transportnot“, der Mangel an Kleingeld und die Steuerflucht ins Ausland. Die Handelskammer forderte die Wiederrichtung der alten Reichszollgrenze und die Herausgabe von Listen für einfuhrfreie und einfuhrverbotene Waren. Ständige Probleme waren die Ein- und Ausfuhrkontrolle des Post-, Geld-, Personen- und Warenverkehrs zwischen dem besetzten und dem unbesetzten Gebiet. Die ohnehin riesigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten unmittelbar nach Kriegsende verschärften sich also unter den Besatzungsbedingungen im Vergleich zum übrigen Reichsgebiet um ein Vielfaches.

Seit den 1840er Jahren wurde die Wormser Industrielandschaft durch die Lederbranche dominiert. Nach einem Konzentrationsprozess in diesem Industriezweig kristallisierten sich in Worms gegen Ende des 19. Jahrhunderts zwei Lederfabriken heraus: das Werk von Cornelius Wilhelm (von) Heyl (1843-1923), dessen Familie 1886 vom hessischen Großherzog nobilitiert worden war, und die Firma Doerr & Reinhart.[Anm. 39] Am Vorabend des Ersten Weltkriegs arbeiteten in Worms von insgesamt etwa 20.000 Beschäftigten knapp ein Drittel in den erwähnten Lederwerken. Allein Cornelius W. von Heyl war der Arbeitgeber von ca. 5.200 Menschen. Davon gehörten ca. 850 Mitarbeiter zu einer von Cornelius von Heyl im Jahre 1901 erworbenen Lederfabrik in Worms-Neuhausen, die seit 1922 unter der Leitung seines jüngsten Sohnes Ludwig Cornelius (1886-1962) als eigenständiges Werk mit dem Namen Heylsche Lederwerke Liebenau GmbH firmierte und bis 1974 als letztes der Wormser Lederbetriebe bestand.[Anm. 40]

Die Quellenlage für die Entwicklungsgeschichte beider Werke ist sehr unterschiedlich.[Anm. 41] Für das Stammwerk, die Cornelius Heyl AG, ist sie ungünstig, während sie für die Heylschen Lederwerke Liebenau als gut zu bezeichnen ist. Die Überlieferung für das letztgenannte Werk setzt verstärkt 1921/22 ein, aber für 1919 gibt es bereits ein eindrucksvolles Dokument. Nach seiner Entlassung aus dem Kriegsdienst hielt sich Baron Ludwig von Heyl zunächst in Darmstadt auf[Anm. 42], als Otto Bonhard, Generaldirektor des Werkes Liebenau, ihm in einem Brief am 25. April 1919 die Situation des Betriebs schilderte.[Anm. 43] Bonhard hätte ihn gern persönlich gesprochen, aber er habe von den französischen Behörden wieder einmal „keine Einreiseerlaubnis nach dem rechten Rheinufer“ erhalten. „Die Lage ist […] höchst unangenehm geworden und es erfordert unsere ganze Energie und Findigkeit, um den Betrieb auch nur einigermaßen aufrecht zu erhalten.“ Das Haus habe lange kaum Rohfelle zur Weiterverarbeitung gehabt, sodass „fortwährend 350 Leute auf Wartegeld gesetzt werden mussten.“ Nun gebe es zwar wieder Rohware, stattdessen befinde man sich jetzt in einer „entsetzlichen Kohlenot“. „Die Möglichkeit, dass wir der gesamten Arbeiterschaft kündigen müssen, wenn sich die Verhältnisse nicht alsbald ändern, ist nicht ganz ausgeschlossen.“ Gleichwohl hoffe er, dass man nicht zu dieser äußersten Maßnahme greifen müsse. Die Aussichten für den gesamten Betrieb und das Geschäft seien vorerst „äußerst trüb“.

Anmerkungen:

  1. Folgende Textausgabe wird zugrunde gelegt: Der Waffenstillstand 1918-1919. Das Dokumentenmaterial der Waffenstillstandsverhandlungen von Compiègne, Spa, Trier und Brüssel. Notenwechsel, Verhandlungsprotokolle, Verträge, Gesamttätigkeitsbericht, hrsg. im Auftrag der Deutschen Waffenstillstandskommission, 3 Bde., Berlin 1928. Zurück
  2. Ebd., Bd. 1, S. 18f. Zurück
  3. Becker, Art. „Ferdinand Foch“ in: Hirschfeld/Krumeich/Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, S. 499: *1851 Tarbes, +1929 Paris, General, 1907-1911 Leiter der franz. Militärakademie, Befehlshaber des XX. Armeekorps in Lothringen, ab 14.04.1918 Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte an der Westfront bis Kriegsende, führte alliierte Delegation bei Waffenstillstandsverhandlungen an. Zurück
  4. Haidl, Art. „Matthias Erzberger“, in: Hirschfeld/Krumeich/Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, S. 465: *1875 Buttenhausen (Württ.), + (ermordet) 1921 Bad Griesbach (Schwarzwald), als Zentrumsabgeordneter seit 1903 MdR, seit Oktober 1918 Staatssekretär, Juni 1919-März 1920 Finanzminister. Zurück
  5. Waffenstillstand, Bd. 1, S. 22-57. Zurück
  6. Ebd., S. 57 und S. 61. Zurück
  7. Vgl. im Folgenden: ebd. S. 22-55, hier: S. 23. Zurück
  8. Vgl. im Folgenden, S. 27-33. Zurück
  9. Ebd., S. 31- 33. Zurück
  10. Ebd., S. 43. Zurück
  11. Ebd., S. 49. Zurück
  12. Ebd., S. 55. Zurück
  13. Vgl. hierzu ebd., S. 113. Zurück
  14. Ebd., S. 115, S. 155f. Vgl. hierzu auch: Wormser Zeitung Nr. 632 Morgenblatt (MB) vom 11.12.1918. Dort die Meldung über die Verfügung Fochs, dass „der Lebensmittelverkehr und der gesamte Verkehr“ zwischen dem geräumten linksrheinischen und dem rechtrheinischen Gebiet unterbunden werde. Zurück
  15. Waffenstillstand, Bd. 1, S.177. Zurück
  16. Ebd., S. 158. Zurück
  17. Ebd. Vgl. die Ausführungen B. Keilmanns im vorliegenden Band zur Ernährungssituation bei Wormser Schülern. Zurück
  18. Ebd., S. 182-188. Es geht u.a. um Zusatzlieferungen von Eisenbahnmaterial und landwirtschaftlichen Geräten, U-Boot-Fragen etc. Zurück
  19. Ebd., S. 261. Zurück
  20. Vgl. den Beitrag von Silke Olbrisch im vorliegenden Band. Zurück
  21. WZ Nr. 625 (MB) vom 07.12.1918. Zurück
  22. Die Ehefrau des Wormser Oberbürgermeisters, Frau Jenny Köhler, bemerkte dazu in einem Zeitungsbeitrag: „Am 6. Dezember 1918 erschien ein französischer Major in dem Wormser Stadthause und bestellte Quartiere für das französische Kommando, und am 7. Dezember übernahm General Mangin die Stadt.“ (Vgl. Sondernummer der WZ zur Rheinlandbefreiung vom 30.06, mit roter Aufschrift: „Frei ist der Rhein“). Zurück
  23. WZ Nr. 625 (MB) vom 07.12.1918. Zurück
  24. WZ Nr. 626 Abendblatt (AB) vom 07.12.1918. Zurück
  25. Vgl. im Folgenden: Süß, Rheinhessen unter französischer Besatzung (1988), S. 5f. Zurück
  26. Süß, S. 249: Émile Fayolle (1852-1928), Divisionskommandeur, seit Frühjahr 1918 an der Westfront, trug entscheidend zur Stärkung der Alliierten bei. Zurück
  27. Vgl. ebd.: Charles Mangin (1866-1925), äußerst befähigter Kommandeur, verdienstvolle Einsätze an der Westfront 1916-1918. Zurück
  28. Süß, Rheinhessen, S. 6. Zurück
  29. WZ Nr. 629 (AB) vom 09.12.1918. Zurück
  30. Fotoabbildung des ehem. Bettenburger Hofs, in: Koch, Worms. Früher und heute (2018), S. 52. Zurück
  31. Vgl. WZ Nr. 628 (MB) vom 09.12.1918. Zurück
  32. Vgl. Sondernummer der WZ vom 30.06.1930 (wie Anm. 30). Zurück
  33. Vgl. hier u. bei den folgenden Zitaten zur Polizeiverordnung: WZ Nr. 628 (MB) vom 09.12.1918. Zurück
  34. Vgl. den Beitrag von Burkard Keilmann im vorliegenden Band, Anlage V: D. Eberhard, die Oberrealschule in der Besatzungszeit. Zurück
  35. Vgl. im Folgenden: WZ Nr. 628 (MB) vom 09.12.1918. Zurück
  36. Schmitt, Worms und seine Besatzungsgeschichte (1930), S. 94-100, hier: S. 96. Zum Verhältnis der dt. Verwaltung zur Besatzung vgl. Adelung, Sein und Werden, S. 199: „Das Verhältnis der Stadtverwaltung zur Besatzungsmacht blieb kühl. Die Franzosen fühlten sich als Sieger“. Zurück
  37. Vgl. im Folgenden: Süß, Rheinhessen, S. 17ff, Anm. 47 u. 48. Zurück
  38. Hier und im Folgenden vgl. Mitteilungen der Handelskammer Mainz, 1. Jg. Nr. 1 (Dezember 1919). Zurück
  39. Bönnen, Die Familie Heyl und ihr Wirken (2010), S. 35-186, hier: S. 74f. Worms war ein bedeutender Industriestandort. Dort konzentrierten sich zwischen 1901 und 1913 ein Achtel aller gewerblichen Arbeitsplätze des Großherzogtums Hessen. Bereits 1889 besaß Cornelius v. Heyl die „größte Fabrikanlage“ des Territoriums. (Bönnen, S. 79). Zurück
  40. Ebd., S. 90. Das Hauptwerk, die Cornelius Heyl AG (CHAG), unter Leitung seines ältesten Sohns, Dr. Cornelius Wilhelm Karl (1874-1954), lag im Süden von Worms und produzierte bis in die 1950er Jahre. Zurück
  41. Vgl. Rinker-Olbrisch, Zur archivalischen Überlieferung der Heylschen Firmen- und Familiennachlässe (2010), S 21-34; vgl. ebenso: Bönnen, Quellen zur Geschichte der Lederindustrie im Stadtarchiv Worms, in: Archiv und Wirtschaft, 43. Jg., Heft 1 (2010), S. 23-32. Zurück
  42. Zu Ludwig von Heyl vgl. Bönnen, Die Familie Heyl und ihr Wirken, S. 159-166. Ludwig von Heyl kehrte mit Genehmigung der Behörden im Juli 1919 auf den Familienwohnsitz in Schloss (Worms-) Herrnsheim zurück und betätigte sich neben seiner Arbeit als Betriebsführer auch politisch. Als Mitglied der Deutschen Volkspartei (DVP) arbeitete er sowohl in der Wormser Stadtverordnetenversammlung (ab 1922) als auch im Hessischen Landtag (1924-1927) sowie z.T. auf Reichsebene. Zurück
  43. StA Wo Abt. 180/1 Nr. 5. Zurück